Zurück im Kalten Krieg

Unterwegs in der Republik Moldau und in Transnistrien
Wer nicht laufen will, darf fahren - sofern es sich um Kinder handelt: Park in Chi?in?u. Foto: Kai Althoetmar
Wer nicht laufen will, darf fahren - sofern es sich um Kinder handelt: Park in Chi?in?u. Foto: Kai Althoetmar
In der Republik Moldau existiert eine Grenze, die kein Staat anerkennt. Sie zu ignorieren, kann aber das Leben kosten. Der Journalist Kai Althoetmar war auf beiden Seiten des Flusses Dnjestr unterwegs und reiste auch zurück in die Vergangenheit.

Irgendwann sind keine Melonenverkäufer mehr am Straßenrand zu sehen. Eine Busstunde östlich von Chisinau ist die Grenze erreicht, die kein Staat der Welt anerkennt. Sie zu ignorieren, könnte aber mit einer Kugel im Rücken enden. Hier, auf der Seite der Republik Moldau, nur Gendarmerie. Dort Straßensperren, Stacheldraht, Soldaten. Ein Schild warnt: Filmen und Fotografieren verboten. Jeder Text ist auf Russisch. Über einer Bude prangt ein Sowjetstern, Symbol der Pridnestrowischen Moldauischen Republik (PMR). Ein mürrischer Soldat zieht den Pass und ein ausgefülltes Formular ein. Grund des Aufenthalts? Turizm, das erspart den KGB. Blättern, ein Aufblicken, keine weiteren Fragen, der Stempel klatscht auf das Einlegeblatt. Heute abend müssen alle Ausländer wieder raus sein. Außer den Russen. Willkommen zurück im Kalten Krieg.

Wie eine Bruchlinie

Die PMR wird anderswo nur Transnistrien genannt, ein 1990 von der Republik Moldau abgefallener Landstrich, den im Westen der Dnjestr, im Osten die Ukraine einklammert, nicht viel größer als die Summe aus Luxemburg, Andorra und Liechtenstein. Wie eine Bruchlinie zieht sich der Dnjestr durch die Republik Moldau, im Westen oft zu Moldawien verballhornt: am Westufer der in Sprache und Kultur stark rumänisch geprägte Teil, östlich des Ufers der russisch und ukrainisch dominierte. Die PMR hat ein Parlament, Flagge, Hymne, Militär, eigene Briefmarken, eigene Währung, eigene Pässe. Aber nicht mal Moskau erkennt Pridnestrowien als Staat an.

Foto: Kai Althoetmar
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Eine Innenstadt wie ein Freilichtmuseum: Lenindenkmal.

Der Weg vom Bahnhof in der Quasi-Hauptstadt Tiraspol zur Ulica (Straße) 25. Oktober führt unter Querung der Ulica K. Liebknecht und der Ulica K. Marx über die Ulica Lenin und den Cognac-Laden von Kvint. Manche fahren nur wegen Kvint hierher. Der Viertel Liter zu 17 PMR-Rubeln, gut ein Euro, Wodka für die Hälfte, wo gibt es das sonst? Kvint gehört dem Sheriff-Konzern, dem in der PMR fast alles gehört. Supermärkte, Fernsehsender, Tankstellen, bis hin zum Fußballclub Sheriff Tiraspol, Moldaus Rekordmeister. Der Oligarch Viktor Gushan, dem Sheriff gehört, war mal Polizist, daher der Name. Böse Zungen sagen aber, Sheriff sei eigentlich nur die Geldwaschanlage von Igor Smirnow, der von 1992 bis 2011 Präsident der PMR war. Die Fünf-Rubel-Scheine zeigen seine Schnapsfabrik.

Liebe zu Lenin

Die halbe Innenstadt von Tiraspol ist ein Freilichtmuseum der Sowjetunion, ein Themenpark mit rund 150.000 Einwohnern und Hammer und Sichel an jeder Ecke. Zum Beispiel der Platz vor dem Museum des Bürgerkriegs: Auf einem schrägen Betonpodest ist ein T-40-Panzer mit Sowjetstern aufgebockt. In den fußballfeldgroßen Platz sind Granitgrabmäler transnistrischer Soldaten und Milizionäre eingelassen, die im Bürgerkrieg 1992 starben. Nebenan, im Geschichts- und Landeskundemuseum, geht das Gedenken weiter. Museumsführerin Natascha führt durch die Räume. "Ich liebe Lenin. Lenin ist gut", sagt die burschikose Mitfünfzigerin mit dem grün-violett geblümten Sommerkleid. Und Stalin? "Ich weiß nicht."

Foto: Kai Althoetmar
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T-40-Panzer vor dem Museum des Bürgerkriegs.

Foto: Kai Althoetmar
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Eine orthodoxe Kapelle.

Der Bürgerkrieg hat seinen eigenen Raum. Großformatige Fotos: ein Panzer, in dessen Deckung Soldaten mitlaufen. MG-Schützen liegen am Dnjestr in Stellung. Panzersperren. Straßenbarrikaden. Soldaten bei der Rast. Darunter Porträtbilder getöteter Soldaten. In den Vitrinen Dokumente, Abzeichen, Krimskrams aus dem Soldatentornister.

Abgespaltenes Transnistrien

Im April 1992 kam Alexander Lebed, der russische General, der beim Moskauer Augustputsch 1991 mit seinen Truppen auf die Seiten Jelzins und Gorbatschows gewechselt war. Als die Sowjetunion dann doch zerfiel und die Republik Moldau souveräner Staat wurde, spaltete sich Transnistrien ab. Die Regierung in Chisinau hatte Rumänisch zur einzigen Amtssprache erklärt, wollte zeitweilig sogar den Anschluss an Rumänien. "Faschisten!", hallte es vom anderen Dnjestr-Ufer herüber.

Im März 1992 wurde es richtig kriegerisch. Moldau hatte eine 10.000 Mann starke Polizeistreitmacht aufgezogen, Transnistrien Anfang 1992 Teile der dort stationierten sowjetischen 14. Garde-Armee übernommen. Im April 1992 wurde Lebed Kommandeur der 14. Armee, schug moldauische Soldaten zurück. Im Juli 1992 dann Waffenstillstand, etwa 1.000 Tote wurden gezählt. Heute ist der Konflikt eingefroren. Etwa 1.500 russische Soldaten sichern den Status quo. Gibt es eine Wiedervereinigung zwischen der Republik Moldau und Transnistrien? Natascha sagt: "Ich weiß nicht. Wir werden sehen und lernen."

Foto: Kai Althoetmar
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Auf dem Markt in Tiraspol.

Foto: Kai Althoetmar
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In Moldaus Hauptstadt: Protz auf der Straße.

Foto: Kai Althoetmar
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Müll in den Höfen.

Zurück in Moldaus Hauptstadt: Das Puschkin-Museum in Chisinau ist kein Ort, den man überlaufen nennen könnte. Die goldfarbene Gedenktafel an der Außenwand ist unprätentiös klein. Das hell verputzte Steinhaus mit den tiefbraunen Holzfensterrahmen wurde erst zu Puschkins Zeit errichtet. Hier hat er gelebt, der große Nationaldichter, Begründer der modernen russischen Literatur, Neuerer der russischen Sprache, der eine Sprache schuf, die sich nicht den Petersburger Salon-Damen anbiederte. 1820 wurde Puschkin mit gerade mal 20 Jahren nach Süden verbannt. Dass er nicht in Sibirien oder auf den Solowezki-Inseln leben musste, hatte er der Protektion einflussreicher Gönner zu verdanken. In seinen Poemen hatte er schon verschiedene Minister des Zarenhofs bloßgestellt. Das Fass zum Überlaufen aber brachte seine Ode "An die Freiheit" von 1819. Darin gab er eines der höchstgehüteten Staatsgeheimnisse preis: dass Zar Paul I., der Vater Alexander I., 1801 ermordet wurde. Die Verse kursierten anonym, aber Puschkin wurde denunziert.

Puschkin in fünf Sälen

Im Museum widmen sich fünf Säle dem Dichter. Bücher, Stiche, Drucke, Münzen, Porzellanteller, Säbel. Ein Gedicht, handgeschrieben, die Freiheitsode. Eingerahmt der Deportationsbefehl Zar Alexanders von 1820. "Puschkin konnte sich frei bewegen in Moldau", sagt Alexandra Stakanowa, die Leiterin des Museums. "Das Haus hier war so etwas wie ein Hotel für ausländische Gäste." Am Donauufer suchte Puschkin, Mitglied der später verbotenen Freimaurerloge "Ovid", nach Spuren des römischen Dichters. Ein geheimnisvolles Band vereinte den Versetzten mit dem Verbannten. "Puschkin", sagt Stakanowa, "hat Moldau geliebt, er nannte es heiliges Land". Was sie nicht sagt: Am Ende war es auch Puschkin hier langweilig. Vereinsamung, Geldsorgen und Schwermut plagten ihn, bevor er sein Süd-Exil nach Odessa verlegen durfte. Von dort schrieb er seinem Bruder: "Ich habe Moldau verlassen und bin in Europa angekommen."

Foto: Kai Althoetmar
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Museumsleiterin Alexandra Stakanowa (links) liebt Alexander Puschkin.

Foto: Kai Althoetmar
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Das Puschkin-Museum im früheren Wohnhaus des Dichters, der hierher verbannt wurde.

Foto: Kai Althoetmar
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Ohne Devisen läuft nur wenig, auch am Bücherstand.

Stakanowa setzt sich ans Klavier und sortiert ihr langes braunes Haar. Ihr Kleid ist korallenrot, aufgedruckt sind Rosenmotive. Sie spielt und singt eine russische Weise. Es ist Sonntagvormittag, Gottesdienst auf gut sowjetisch. Stakanowa wurde 1954 in Chisinau geboren, für sie Kischinew. Musik hat sie studiert. Seit 32 Jahren arbeitet sie im Puschkin-Museum. "Puschkin ist alles für mich", sagt sie. Er habe ein humanistisches, ein kosmopolitisches Russland vertreten. "Russisch ist eine Geisteshaltung." Puschkin sei nie im Ausland und dennoch Weltbürger gewesen. Er habe die Seelen anderer Völker erspürt. "Menschen wie Puschkin gibt es nur alle zweihundert Jahre", sagt Stakanowa. "Aber die sind jetzt um, und es gibt keinen neuen Puschkin."

Kreuz am Spiegel

Der Busbahnhof hinter den Markthallen im Zentrum von Chisinau: Alte Rappelkisten, die nie ein TÜV zu sehen bekommt, Straßenköter durchstöbern den Müll, aus dem Durcheinander parkender Busse plärren Radio und Russenpop-Konserven. Der Kleinbus ins 40 Kilometer nördlich gelegene Ivancea startet. Am Rückspiegel des Fahrers baumelt ein orthodoxes Kreuz. Maisfelder ziehen vorbei, Obstplantagen, Weinberge, blühende Sonnenblumen, soweit das Auge reicht. Umsteigen. Der Anschlussbus ruckelt zehn Kilometer ostwärts.

Foto: Kai Althoetmar
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Das Kloster von Butuceni: Im 14. Jahrhundert schlugen 400 Mönche Höhlen in die Felsen und lebten als Eremiten. Im 17. Jahrhundert wurde hier ein Kloster gegründet.

Foto: Kai Althoetmar
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Am Ufer des Raut.

Butuceni, ein Dorf in der Niemandssteppe und doch Wiege der moldauischen Zivilisation. Am Ortsrand erhebt sich ein Glockenturm auf einem schmalen Bergrücken. 70 Meter unterhalb schlängelt sich der Fluß Raut auf dem Weg zum Dnjestr müde um die Landzunge, die das Bergplateau beherrscht. An den Felswänden klaffen wabenartige Löcher, als wären sie Schweizer Käse. Die Löcher sind Höhlen, die 400 Mönchseremiten im 14. Jahrhundert in den Kalkstein der Abbruchkante meißelten, um Gott nah und der Welt fern zu sein. Speis und Trank spendierfreudiger Dörfler fanden mit Flaschenzügen den Weg in die Felsenkammern. So mancher Mönch soll so steinalt geworden sein.

Leben wie ein Eremit

Auf 1675 wird die Klostergründung datiert, 1816 endete die halsbrecherische Einsiedelei. Vier Jahre später wurde von der Dorfseite ein Zugangstunnel zu Krypta und Klausen gegraben, 1890 kam das Glockentürmchen dazu. 1996 reaktivierten Mönche das Butuceni-Kloster, das unter den Sowjets als Museum herhielt, in dem Schulklassen gegen den "Aberglauben" geimpft werden sollten.

2003 verkroch sich Bruder Eufimie vor der Schlechtigkeit der Welt in das Innere des Berges. Seine Schlafkammer ist drei Quadratmeter klein, die Deckenhöhe liegt bei 1,50 Meter. In einer alten Munitionskiste finden ein kleiner Teppich, eine Wasserflasche und ein Stoß Bücher Platz - das reicht für ein gottgefälliges Leben, zumal wenn man schon ein Dreivierteljahrhundert alt ist. Fünf weitere Mönche zählen zur Gemeinschaft.

Foto: Kai Althoetmar
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Nachdem er sein Leben als Elektriker aufgab, wohnt hier Bruder Eufimie.

Foto: Kai Althoetmar
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In der Sowjetunion war der Ort ein Museum, 1996 wurde er wieder zum Kloster.

Die Fensterscharte lässt nur wenig Licht eindringen. Eufimie zeigt über den Raut hinweg auf die Strommasten mit den Leitungen. Die hat er gelegt, als er noch im Sowjetstaat Elektriker war. Das war einmal. Eufimies grauer Wallebart und die schwarze Mönchskutte sind schon für sich genommen eine Ansage an die Welt da draußen, und was er sonst noch loszuwerden hat, ist dem Zeitgeist nicht untertan. "In Europa ist der Geist tot", empört er sich. "Alles atheistisch." Eufimie sucht sein Heil bei den Heiligen, hat alle um sich gesammelt: die Jungfrau Maria, den Apostel Andreas, den Propheten Elias, Nikolaus von Myra. Deren Bilder sind auf einem Tischchen wie Trumpf-Spielkarten ausgebreitet, für eine Handvoll Lei als Beistand mitzunehmen, wie auch die Wachskerzen, das Räucherwerk, die versilberten Miniatur-Kruzifixe und was des Pilgers Herz sonst noch begehrt.

Strafe Gottes

Eine Sache will Eufimie dem Fremden noch zeigen: Es ist ein kleiner bebilderter Bericht aus einem englischsprachigen Evangelikalenblättchen. Eufimie weist erregt auf das Foto: Ein Haus versinkt sagenhafte 150 Meter tief im Erdboden. "Eine Strafe Gottes!", sagt er. "Kein Frieden auf dieser Welt!" Im Text ist von geologischen Veränderungen in Texas, Alabama und Pennsylvania die Rede, die Häuser versinken lassen. Eufimie saugt zwischen den Zähnen zischend Luft ein, um die Höllenfahrt der Texas-Häuser akustisch zu untermalen. Wohin es geht, erschließt sich auch ohne Rumänisch-Lexikon: "Diavol!"

Zum Teufel - jetzt aber weg hier, bevor noch der ganze Schweizer Käse einstürzt...

Text und Fotos: Kai Althoetmar

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