Der Stern der Weisen

... kommt seit über hundert Jahren aus Herrnhut
In jedem steckt ein Kuboktaeder: Herrnhuter Sterne. Foto: Stephan Schmorrde
In jedem steckt ein Kuboktaeder: Herrnhuter Sterne. Foto: Stephan Schmorrde
250 Zentimeter misst der größte Weihnachtsstern aus Herrnhut, dreizehn Zentimeter der kleinste - das Meisterstück. Beide werden in der Manufaktur in der sächsischen Oberlausitz gebaut. Mehr als 45 000 Besucher erleben hier jährlich Geschichte, Identität und Tradition der Brüder-Unität.

Die kalte Luft steht still an diesem Abend. Der Vorgarten ist mit einer dicken Schicht Schnee überzogen. Bäume, Sträucher, Treppen - über allem liegt er wie eine süße Glasur, mit einer ordentlichen Portion Puderzucker bestreut. Durch die Zweige kann man direkt in die Veranda eines prächtigen alten Hauses blicken. Vor allem, weil ein warmes Licht den Raum erhellt. Es ist ein echter Herrnhuter Stern, der dort leuchtet. Seit dem 1. Advent erstrahlen diese Sterne wieder überall auf der Welt, in Australien ebenso wie in Afrika, Russland, der Karibik, häufiger in der Schweiz, Dänemark und den Niederlanden. Am meisten verbreitet ist er aber in Deutschland, in Kirchsälen, Fußgängerzonen, Einkaufszentren, Flughäfen und Bahnhöfen - und vor allem dort, wo er entstanden ist: in Herrnhut.

Unter Obhut des Herren

Die rund fünftausend Einwohner zählende Kleinstadt liegt in der sächsischen Oberlausitz, mitten im Dreiländereck Deutschland - Polen - Tschechien. Dort liegt sie seit 1722. Aber ihre Geschichte geht weiter zurück: 1457 entstand eine der ersten evangelischen Kirchen in Böhmen und Mähren, die "Unitas Fratrum" oder "Brüder-Unität", die sich auf den tschechischen Reformator Jan Hus beruft. Im 18. Jahrhundert flohen die Gläubigen in die Oberlausitz, auf das Gut von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Der gewährte ihnen Aufnahme und vererbte ihnen Schloss und Gut. Fortan nannten sie die Siedlung "Herrnhut", lebten also sprichwörtlich "unter der Obhut des Herrn". Das Dorf war seit 1732 Ausgangspunkt für eine weltweite Missionsarbeit. Heute leben rund 890.000 Mitglieder in mehr als dreißig Staaten Europas, Afrikas, Nord- und Südamerikas. Weite Verbreitung fand auch die Praxis der täglichen biblischen Losungen, die der Graf 1731 erstmals in einem Losungsbuch zusammenfasste.

Foto: Stephan Schmorrde
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Besucher schauen den kunstfertigen Arbeiterinnen genau auf die Finger.

Foto: Stephan Schmorrde
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Die Herrnhuter nehmen ihre Vergangenheit gern mit in die Zukunft. Neben den Losungen ist der Herrnhuter Stern der beste Beweis dafür. Mathematisch gesprochen steckt in ihm ein Rhomben-Kuboktaeder, also ein Würfel, von dem alle Ecken und Kanten abgeschnitten werden. Auf die verbleibenden 26 Flächen wird je eine Pyramide aufgesetzt - siebzehn viereckige, acht dreieckige und eine Aufhängung. Für alle, denen Mathematik fern liegt: Der Herrnhuter Stern ist der Ursprung aller Weihnachtssterne. Seine Erfinder ließen sich vom Stern der Weisen inspirieren, dem Stern von Bethlehem, der die Geburt Jesu verkündete. In seiner schlichten Schönheit soll er Besinnlichkeit und Ruhe geben, so dass man sich auf die Ankunft des Gottessohnes vorbereiten möge.

Ein Meisterstück

Still und regungslos sitzt eine Frau am äußeren Rand eines langen im Halbkreis gebogenen Tisches. Nur ihre Finger bewegen sich flink und graziös an den Kleinstteilen in ihrer Hand entlang, ihre Augen ruhen auf dem Geschehen. Sie fertigt gerade ein Meisterstück: einen 13 cm großen Papierstern. Jede Spitze wird einzeln ausgestanzt, geprägt, über ein Messer gefalzt, geklebt. "Sobald eine einzige Spitze nicht richtig gerade dran sitzt, wird der ganze Stern nichts", erläutert die Arbeiterin in der Schauwerkstatt der Herrnhuter Sterne-Manufaktur. Zehn bis fünfzehn solcher kleinen Meisterwerke fertigt sie am Tag.

Foto: Stephan Schmorrde
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Die neue Fabrikationsstätte.

Foto: Stephan Schmorrde
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Maschinenarbeit ist Männerarbeit.

Im Oktober 2010 hat die Firma die neue Manufaktur fertiggestellt, in der nun alles unter einem Dach sitzt: Produktion, Besucherzentrum, Verwaltung. Außerdem informiert eine Ausstellung über Geschichte und Tradition der Herrnhuter Gemeinde und Sterne. In der Bauweise findet sich diese Tradition wieder: die Ursprungsfarben weiß und rot dominieren - weiß für die Reinheit, rot wie das Blut Christi; die Ausstellung ist in einem sternförmigen Raum untergebracht; im Konferenzraum im Obergeschoss der Manufaktur hängt ein riesiger, zweieinhalb Meter großer rot-weißer Stern vor dem Fenster. Schon 2003 hatte es eine kleine Schauwerkstatt auf dem Gelände gegeben. Die war aber zu klein geworden. Bis 2010 lagen die Besucherzahlen relativ beständig bei rund 18.000. Ab 2011 stiegen sie auf 45.000 Besucher. Stundenweise fahren nun die Busse mit den Menschen vor. "Das ist wesentlich mehr als erwartet", sagt die 31-jährige Jacqueline Schröpel, die seit acht Jahren hier im Haus für das Marketing zuständig ist. Wenn Besucherzahlen steigen, steigt auch der Absatz. Waltraud Schulze, die seit 22 Jahren im manufaktureigenen Sterne-Laden verkauft, bestätigt das: "Absolut kein Vergleich zu vorher!".

Auf die Finger geschaut

In der neuen Manufaktur wird den Arbeiterinnen genau auf die Finger geschaut. Die Kommunikation mit dem Besucher soll im Vordergrund stehen. Die Meisterbastlerin lässt sich von der Menschenmenge nicht stören, die um sie herumwuselt. Ihre Nachbarin lädt eine Besucherin ein, eine Spitze selbst zu drehen; die stellt sich der Herausforderung. Vorsichtig dreht die junge Frau den vorgestanzten Papierkegel, der ihr immer wieder durch die Finger rutscht. Als sie fertig ist, hält sie eine etwas schiefe Spitze zur Ansicht hoch. Die Arbeiterin übernimmt wieder. Sie zeigt, wie es richtig geht, und klebt in Sekundenschnelle eine nach der anderen Spitze für die größeren Sterne zusammen, gibt die fertigen weiter zur Nachbarin. Die nimmt den Kegel, formt ihn drei- oder viereckig und klebt ihn auf einen verstärkenden Plastikrahmen, das Rähmchen. "Knapp ein halbes Jahr braucht man, bis man die tägliche Stückzahl schafft. Das ist Leistungsarbeit", erklärt die Frau der Besucherin. Ein Haufen Spitzen bleibt zum Trocknen liegen. Bis zu dreitausend schaffen sie am Tag.

Foto: Stephan Schmorrde
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Kniffliges Hütchenspiel.

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125 Jahre zuvor, 1887: In der "Missionsknabenanstalt" Kleinwelka, nur fünfzig Kilometer von Herrnhut entfernt, umringt von seinen Schülern, sitzt ein Lehrer an einem großen Tisch. Er lehrt Mathematik und Geometrie. Die Schüler sind von den geometrischen Formen fasziniert, weil daraus ein prächtiger Stern entstehen wird.

Hier liegt dessen Ursprung: in den Internatsschulen der Brüdergemeinde, in denen die Kinder der Missionarseltern lebten. Während der elterlichen Abwesenheit sollte er Licht und Trost spenden. Die Sterne blieben nicht in den Schulen, die Schüler sorgten für seine Verbreitung. 1897 baute der Geschäftsmann Pieter Hendrik Verbeek den ersten stabilen zusammensetzbaren Stern und verkaufte ihn in einem Eckhaus an der Löbauer Straße in Herrnhut, dort, wo Frau Schulze heute wieder Sterne verkauft. Verbeek gründete 1925 die Sternegesellschaft mbH, ließ den körperlosen Stern patentieren, produzierte und verschickte ihn nun serienmäßig. Zehn Arbeiterinnen produzierten etwa viertausend Sterne im Monat, ab 1926 wurde weltweit exportiert. Das junge Unternehmen wuchs durch den gleichzeitigen Absatz von Lampenschirmen bis in den Zweiten Weltkrieg hinein. Ende 1940 wurde die Produktion der Weihnachtssterne einem Verbot folgend eingestellt, im Frühjahr 1945 lag die gesamte Produktion lahm.

VEB Sternfabrik

Nach dem Krieg wurde der Betrieb verstaatlicht, ab 1956 verschickte er als "VEB Oberlausitzer Stern- und Lampenschirmfabrik" wieder Sterne über die DDR-Grenzen hinaus. Bald wurde der größte Teil exportiert. Für die DDR-Bevölkerung blieb nur noch der Exportüberschuss übrig - als "Bückware". 1968 konnte die Brüder-Unität die Sterneproduktion übernehmen, die aus dem Restbetrieb herausgelöst wurde, da ihre Produktion nicht mehr gestiegen war. Die Sterneherstellung wurde dem "Installationsgeschäft der Brüder-Unität" übereignet und zog in das nach dem Krieg stillgelegte Gaswerk der Brüder-Unität ein, wo jetzt das neue Gebäude steht. Sortimentserweiterungen in den achtziger Jahren kurbelten die Produktivität an

Foto: Stephan Schmorrde
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Die alte Verkaufsstätte.

Nach dem Zusammenbruch der DDR wandelte die Brüder-Unität den Betrieb in eine GmbH um und baute ein neues Vertriebsnetz auf. Die Arbeitsabläufe sollten rationeller und kostengünstiger gestaltet werden, ohne das Prädikat "Handarbeit" aufzugeben. Neue Maschinen wurden angeschafft, die Kunststoff-Sternzacken formten. Ende der neunziger Jahre stieg die Zahl der jährlich produzierten Sterne auf rund Hunderttausend. Heute produzieren knapp siebzig Mitarbeiter dreihunderttausend Stück in 65 verschiedenen Ausführungen. Die gängigsten sind die einfarbigen weißen, roten oder gelben und die Kombinationen daraus. Auch grüne und blaue Sterne gibt es, sie gab es auch schon im 19. Jahrhundert, sowie Sonderanfertigungen auf Nachfrage, "wenn wir das vertreten können", sagt Schröpel. Schwarze Sterne zum Beispiel sind Tabu. Ein besonderes Schmuckstück hängt in 73 Meter Höhe in der steinernen Turmlaterne der Frauenkirche in Dresden mit einem Durchmesser von 190 Zentimetern; ein gewaltiger, 250 Zentimeter großer weißer Stern hängt jeweils im Bundeskanzleramt und im Berliner Dom.

Männer an den Maschinen

Es kommen immer mehr Besucher. Im Maschinenraum hinter der Schauwerkstatt dröhnen die massiven Maschinen ohrenbetäubend. Sie spucken alle paar Sekunden jeweils eine Zacke aus. Drei Maschinen laufen gleichzeitig: eine für die dreieckigen Zacken, eine für die viereckigen und eine für Kleinteile, etwa Kunststoffklammern zum Zusammenstecken. Aus Kunststoffgranulat wird die Kunststoffzacke in den Tiefen der Maschinen im Spritzgussverfahren hergestellt. Neben den Maschinen steht jeweils eine Tonne mit dem Grundstoff. Bis zum Rand liegen darin die feinen weißen Körnchen. Mitarbeiter regulieren die Temperaturen, füllen den Rohstoff nach, stellen ein, in welchem Zyklus gespritzt wird, und kontrollieren. An den Maschinen arbeiten nur Männer. Ansonsten sei die Herstellung eher ein typischer Frauenberuf, da man Ruhe bräuchte, findet Jacqueline Schröpel. Etwa neunzig Prozent der Mitarbeiter sind Frauen.

Foto: Stephan Schmorrde
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Auf Regalen weit oben stehen Pappkartons mit eingelagerten Materialen und Verpackungen. Eine Tür führt in einen weiteren Raum. Es riecht stark nach Leim. Die Fenster lassen großzügig Sonnenlicht hinein. Davor breitet sich eine idyllische Aussicht aus, die von den vier Arbeiterinnen aber ignoriert wird. Die Frauen sitzen sich an Tischen gegenüber und arbeiten an Papier-Sternenzacken. Hier schaut ihnen niemand über die Schulter. Stattdessen hängt über ihren Händen jeweils ein dicker geriffelter Schlauch, der dicht unter der Decke in ein Gerät mündet, das an ein großes Spinnengetier erinnert: Es soll den Leimgeruch absaugen.

Auf 28 Weihnachtsmärkten

"Die meisten Mitarbeiter sind zur Zeit aber nicht in der Produktion, viele verkaufen auf den Weihnachtsmärkten", erzählt Schröpel. Zum Beispiel auf dem Striezelmarkt in Dresden, dem Christkindlmarkt in Nürnberg oder dem im Hydepark in London. Insgesamt betreibt die Herrnhuter Sterne GmbH 28 Weihnachtsmarktstände - 25 in Deutschland, je einen in Salzburg und Wien und den in London.

Schröpel schätzt, dass in den letzten Jahren die Bekanntheit der Sterne gestiegen ist. In den Neuen Bundesländern seien die Herrnhuter Sterne stärker vertreten. Konkurrenz von Billigherstellern sei nicht zu spüren. Dazu sei der Stern zu einzigartig, zu traditionell. Neben dem bundesweiten Netz aus Fachgeschäften und dem Online-Handel nutzt die Firma auch den örtlichen Tourismus. "Wir sind ein Teil von Herrnhut", sagt die Marketingexpertin. "Jemand, der den Herrnhuter Stern kauft, der weiß, was er kauft, der will nicht irgendeinen Stern, sondern den Herrnhuter." Er gebe den Leuten etwas zurück. Viele nähmen ihn in der Farbe, die sie von früher kennen. So auch Familie Kaiser aus Oderwitz. "Wir haben 1967 den ersten gekauft", erzählt die Mutter. Mittlerweile haben sie fünf Sterne. "Ich habe gerade einen gekauft als Geschenk für meine Schwiegereltern in Frankreich", erzählt die Tochter. Heute noch zeugten Kundenbriefe davon, wie ein Stern über Generationen weitergegeben wurde, oder von Wünschen, den eigenen Stern datieren zu lassen. Die Herrnhuter nehmen ihre Vergangenheit gern mit in die Zukunft.

Text: Katharina Lübke / Fotos: Stephan Schmorrde

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