Von Petit- zu Kleinvillars

Wie die calvinistischen Waldenser ins lutherische Württemberg kamen
Die Kirche von Serres. Foto: Werner Kuhnle
Die Kirche von Serres. Foto: Werner Kuhnle
Im Jahr 1699 kamen Waldenser-Flüchtlinge nach Württemberg. Seit 1823 gehören ihre Gemeinden zur evangelischen Landeskirche. Die Stuttgarter Journalistin Petra Ziegler erklärt, warum in Württemberg so viele Waldenser heimisch geworden sind.

Thomas Bellon (40) ist ein Schwabe, aber trägt einen französischen Nachnamen. Sein Name würde eigentlich mit der Betonung auf der zweiten Silbe ausgesprochen und mit dem Nasalvokal "o". Doch wenn sich Bellon vorstellt, spricht er seinen Namen deutsch aus: mit Betonung auf der ersten Silbe, und einem "on" wie "von". Bellon, sagt er. Das klingt wie Schneider oder Müller, eben Deutsch. Der Name Bellon, aber auch die Namen Baral, Vinçon, Talmon und Servay sind längst eingedeutscht.

Vor mehr als dreihundert Jahren waren hunderte protestantischer Familien aus ihrer Heimat in den Cottischen Alpen vertrieben worden. Heute gehört das Gebiet westlich von Turin zum Piemont - Valli Valdesi, Waldensertäler, wird die Region genannt. Damals gehörte ein Teil des Gebietes zum Herzogtum von Savoyen, ein Teil zum Königreich Frankreich.

Die Waldenser gehen auf den Lyoner Kaufmann Petrus Waldes zurück. Er ließ Ende des 12. Jahrhunderts Teile der Bibel in die Volkssprache übersetzen. Mit seinen Anhängern predigte er auf Straßen und Plätzen und wurde von der herrschenden Kirche verfolgt. Im 16. Jahrhundert schlossen sich die Waldenser dem Calvinismus an.

Foto: Werner Kuhnle
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Das Henri-Arnaud-Denkmal vor der Kirche in Schönenberg.

Foto: Werner Kuhnle
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Ein typisches Waldenserdorf ist ein Straßendorf wie das von Pinache.

Thomas Bellon reiste als Elfjähriger zum ersten Mal mit seinem Vater nach Malrif in den Cottischen Alpen. Von dort waren seine Vorfahren gekommen. "Das war schon in den Achtzigerjahren ein verlassenes Dorf." Den letzten Weg mussten Vater und Sohn zu Fuß gehen, denn es gibt nur einen Wanderweg nach Malrif. Der Weiler ist auf der französischen Seite der Grenze. In dem nahegelegenen kleinen Flecken Abriès, der heute etwa 400 Einwohner hat, haben die Bellons eingekauft. Vater und Sohn waren bass erstaunt: Der Ladenbesitzer sah aus wie Thomas Bellons Großvater. Thomas Bellon hat das nachhaltig beeindruckt. Er erzählt davon, als ob es gestern gewesen wäre.

Mit vierzehn Jahren hatte Thomas Bellon erstmals eine Fahrt in die Waldensertäler gemacht. Er fand seine Familiengeschichte immer interessant, "auch weil wir anders waren als andere". In Renningen nahe Stuttgart, wo Bellon lebt, fällt er bis heute auf. Mit seinen dunklen Haaren könnte er auch Italiener sein. Es wundert ihn deshalb nicht, dass ihn früher Gastarbeiter auf Italienisch nach dem Weg gefragt haben.

Die Vorfahren von Thomas Bellon kamen 1699 nach Dürrmenz, heute ein Stadtteil von Mühlacker. 1700 Flüchtlinge wurden damals dort aufgenommen. Später zog die Familie weg.

Foto: Werner Kuhnle
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In der Kirche von Pinache steht - bei den Waldensern üblich - die Kanzel direkt hinter dem Altar.

Foto: Werner Kuhnle
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Friedrich Hörger, Pfarrer in Pinache und Serres.

Die Waldenser hatten ihre Heimat nicht freiwillig verlassen. Dabei sah es über weite Strecken des 17. Jahrhunderts so gut für die Protestanten in Frankreich und Savoyen aus. Das Edikt von Nantes hatte im Jahr 1598 den Protestanten in Frankreich, den Hugenotten, und im Herzogtum Savoyen, den Waldensern, fast neunzig Jahre Frieden beschert. Doch König Ludwig XIV. zwang die Protestanten von 1685 an, katholisch zu werden oder forderte sie zum Verlassen ihrer Heimat auf.

Im September 1698 zogen ganze Waldensergemeinden - Frauen, Männer, Kinder Säuglinge und Alte - samt ihrer Pfarrer über die Alpen nach Genf. Dort warteten sie, bis sie in den protestantischen Ländern Europas Aufnahme fanden. Der württembergische Herzog Eberhard Ludwig ließ die Flüchtlinge in Württemberg ansiedeln. Als Folge von zahlreichen Kriegen war vor allem das Gebiet im Oberamt Maulbronn nahezu menschenleer. Für die französischen Waldenser wurden eigene Siedlungen errichtet. Sie nannten sie nach den Orten in ihrer Heimat: Pinache blieb Pinache, die Flüchtlinge aus Villar Perosa gründeten Kleinvillars - es hieß zunächst Petit Villars.

Die Fremden waren bei der einheimischen Bevölkerung anfangs nicht besonders beliebt. Sie sprachen eine fremde Sprache. Die Gottesdienst-Sprache blieb bis Anfang des 19. Jahrhunderts Französisch.

Foto: Werner Kuhnle
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Heide Boger aus Dürrmenz.

Foto: Werner Kuhnle
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Hans-Ulrich und Charlotte Osswald.

Friedrich Hörger ist seit einem Jahr Pfarrer in Pinache. Dort wird ab und zu Gottesdienst nach Waldenser-Art gefeiert. Pfarrer Hörger war dabei bislang nur Gast: "Zum Singen steht man auf, zum Gebet sitzt man hin." Das war eine von vielen Überraschungen in seiner neuen Gemeinde.

Einen Schreck bekam Hörger, als er zum ersten Mal die Kirche von innen sah: Die Kanzel steht direkt hinter dem Altar in der Mitte des Chores - typisch waldensisch. Für den Pfarrer ist es ungewohnt, sozusagen über der Gemeinde zu schweben, "wo man heute doch darauf achtet, auf die Gemeinde zuzugehen". Der Standort der Kanzel hat jedoch einen theologischen Grund: Das Wort Gottes soll im Mittelpunkt des Gottesdienstes stehen. Damit nichts ablenkt vom Hören auf Gottes Wort, haben Waldenserkirchen, gut reformiert, keine Bilder und in der Regel auch kein Kruzifix. Inzwischen hat sich Friedrich Hörger daran gewöhnt, über der Gemeinde zu stehen. Das gilt ja nur für die kurze Zeit der Predigt. Außerhalb der Kirche geht er dafür lieber auf Menschen zu. Immerhin: In Pinache steht auf dem Altar ein kleines Kruzifix. Das ist ein Zugeständnis an die württembergische Tradition: Seit 1823 gehören alle Waldensergemeinden auf württembergischem Gebiet zur evangelischen Landeskirche. Heute wird im Gottesdienst Deutsch und nicht mehr Französisch gesprochen, in der Gemeinde Schwäbisch und kein Patois - ein französischer Dialekt - mehr.

Foto: Werner Kuhnle
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Studierstube von Henri Arnaud.

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Heute beherbergt das Pfarrhaus das Waldensermuseum.

Hans-Ulrich Osswald ist kein Waldenser, hat aber eine Waldenserin geheiratet: Charlotte Baral. Er ist im Nachbarort Großglattbach großgeworden, sein Vater war dort Pfarrer. Der Pfarrer von Pinache, Werner Eiss, organisierte von 1962 an Reisen in die Waldensertäler. Und umgekehrt kamen auch italienische Gemeinden nach Pinache. Seit damals beschäftigt Hans-Ulrich Osswald die Waldensergeschichte.

1991 schrieb er zum ersten Mal ein Waldenser-Theaterstück in vier Szenen. Das Stück spielt in den Cevennen, im Jahre 1703. Dafür hat Hans-Ulrich Osswald dicke Geschichtsbücher studiert. Es sollte schließlich ein authentisches Stück und kein Bauerntheater werden. Drei weitere Stücke sind seither hinzugekommen. Wie sich die Einheimischen und die neuen Siedler einander angenähert haben, war Thema im Jubiläumsjahr 1999. Im Jahr 1699 waren nämlich die ersten Flüchtlinge nach Württemberg gekommen. Wieder hat Osswald Historiker und Waldenser-Experten befragt, viel gelesen und dann "Fremde unter Fremden" geschrieben. Charlotte Osswald und Frauen aus der Gemeinde haben die Kostüme genäht.

Warum beschäftigt sich ein Maschinenbau-Ingenieur so intensiv mit Geschichte? "Gegenwart bedeutet ein Kommen aus der Vergangenheit auf dem Weg in die Zukunft. Gutes Wissen um die Vergangenheit kann also Hilfestellung für Gegenwart und Zukunft sein."

Foto: Werner Kuhnle
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Ötisheim-Schönenberg: Dort war Arnoud Pfarrer.

Auch Heide Boger lebt für die Waldensergeschichte und deren Vermittlung in der Gegenwart. Wenn am Reformationstag "Ein feste Burg ist unser Gott" gesungen wird, "fühle ich mich wohl", sagt die 75-Jährige. Sie lebt in Mühlacker-Dürrmenz, war dreißig Jahre im Kirchengemeinderat und zehn Jahre Geschäftsführerin der Deutschen Waldenservereinigung. "Ich war immer schon stolz darauf, eine Waldenserin zu sein", sagt sie und erinnert sich gerne an ihre Großmutter Pauline, geborene Talmon. Sie war stolz darauf, weil ihre Großmutter es auch war. Pauline hat sich nie als geduldetes Flüchtlingskind empfunden, sondern war eine selbstbewusste Frau. Woher ihre Vorfahren genau kommen, hat Heide Boger nie erfahren, aber ein Teil der Flüchtlinge, die in Dürrmenz gelandet sind, stammten aus dem Queyras.

Doch Heide Boger hatte zunächst andere Prioritäten: Ausbildung, Heirat, Kinder, ein Haus bauen. 1980 besuchte sie dann erstmals die Waldensertäler. Seither engagiert sie sich im Waldensermuseum im benachbarten Schönenberg. Boger ist natürlich wie die meisten Nachkommen der reformierten Waldenser durch die lutherische Landeskirche Württembergs geprägt. "Als ich zum ersten Mal in einer Waldenserkirche in Italien war, kam sie mir schon arg leer vor", erinnert sie sich.

Heide Boger und das Ehepaar Osswald gehören zu einer Generation, deren Leben von der Waldensergeschichte geprägt ist. Doch bei den Jungen lässt das Interesse nach. Thomas Bellon ist eine Ausnahme. Ihm ist wichtig, über die Geschichte seiner Vorfahren Bescheid zu wissen. "Wenn man sieht, welchen Schwierigkeiten unsere Vorfahren ausgesetzt waren, Verfolgung, Krieg, Flucht, dann erkennen wir erst, wie klein eigentlich unsere eigenen Probleme heute sind." Und er hat noch etwas Zweites aus der Waldensergeschichte gelernt, die ja auch eine Glaubensgeschichte ist: Der Glaube kann helfen, mit schwierigen Situationen fertig zu werden. Das will er an seine eigenen Kinder weitergeben.

Text: Petra Ziegler / Fotos: Werner Kuhnle

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