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Herr Professor von Brück, Sie haben nicht nur Evangelische Theologie studiert, sondern auch Sanskrit und Vergleichende Sprach- und Religionswissenschaft. Sie sind nicht nur ordinierter lutherischer Pfarrer, sondern auch Yoga-und Zen-Lehrer. Was bedeutet Ihnen der evangelische Gottesdienst heute?
MICHAEL VON BRÜCK:
Eine ganz wesentliche Prägung in meiner Kindheit war die Kirchenmusik. Ich bin im Dresdner Kreuzchor aufgewachsen. Das heißt, ich habe das Christentum über die Musik und damit auch über die Liturgie kennengelernt. Für mich ist der liturgische Charakter des Gottesdienstes entscheidend, und insofern leide ich, wenn Gottesdienste an dieser Stelle nachlässig gestaltet werden. Das ist schließlich mehr als eine Formfrage. Die Liturgie ist in frühchristlicher Zeit überhaupt nicht von der Theologie getrennt gewesen und in der ostkirchlichen Tradition ist sie bis heute der eigentliche Ort von Theologie.
Allein in der europäisch-westlichen Tradition ist Theologie etwas fast ausschließlich Kognitives geworden. Dabei ist Theologie doch auch ein emotionales, und zwar individuell wie kollektiv in der Gruppe erlebtes Geschehen. In diesem Rahmen ist mir der Gottesdienst wichtig. Er ist ein Ritual, in dem der für das Christentum charakteristische religiöse Typus zum Ausdruck kommt: Dass nämlich das Heil auf der einen Seite präsent ist und rituell gefeiert werden kann, auf der anderen Seite aber im Modus der Erwartung noch ausstehender Erfüllung ist.
Unter unseren Lesern gibt es viele Pfarrerinnen und Pfarrer. Es wird sie interessieren, wie der buddhistische Zen-Lehrer zum lutherischen Pfarrer passt?
MICHAEL VON BRÜCK:
Ich habe als junger Theologe gelernt, dass philologisch-historisches, hermeneutisches Arbeiten unverzichtbar ist, um zu verstehen, was die Tradition sagt. Gleichzeitig bin ich in die Meditationspraxis eingeführt worden. Ich habe also am eigenen Leib erlebt, dass das, worum es in der Religion geht, ganz wesentlich eine Frage des inneren Erlebens ist, auf das sich der Mensch vorbereiten kann und sollte. So wie ich eine Sprache oder ein Musikinstrument erlerne, kann ich auch üben, mein eigenes Bewusstsein- und damit meine ich die Einheit von Kognition und Emotion - zu kontrollieren und zu gebrauchen. Und das habe ich in der Zen- und auch in der Yoga-Praxis gelernt.
Und welche Rolle spielt die buddhistische Lehre für Sie als evangelischen Theologen?
MICHAEL VON BRÜCK:
Erst nach meinen Erfahrungen in der Meditationspraxis habe ich mich mit der Historie, mit der Erkenntnistheorie und mit der Religionsgeschichte des Buddhismus beschäftigt. Das hat mich erstens dazu gebracht, die Relativität aller religiösen Aussagen und Formen zu erkennen. Zweitens habe ich begonnen, Elemente der christlichen Tradition von außen zu sehen und dabei vieles als überflüssig oder fehlgeleitet wahrzunehmen, anderes als besonders wertvoll, schön und in einer neuen bewussten Akzeptanz zu erleben.
Ich bin christlich aufgewachsen und habe diese Prägungen durch meinen buddhistischen Erfahrungshorizont einerseits vertieft und andererseits überwunden, so dass ich jetzt ein werdender Christ und ein werdender Buddhist bin.
Können Sie das konkretisieren? Verstehen Sie sich gleichermaßen als Christ wie auch als Buddhist?
MICHAEL VON BRÜCK:
Nein, nicht im gleichen Sinne. Ich vergleiche das mit dem Erlernen einer Sprache. Wir haben eine Muttersprache, die wir als Kinder ganz anders lernen als spätere Fremdsprachen: in ganzen Sätzen, in Zusammenhängen und Eindrücken. Später lernen wir dann analytisch.
Mit dem Erlernen verschiedener Religionssprachen ist das ähnlich: Ich bin auf einer christlichen Basis erzogen und ausgebildet worden, und sie ist die Matrix, in die alles andere hinein übersetzt wird. Ich versuche also christlich und buddhistisch zu leben. Aber meine Primärprägung ist das protestantische Christentum. Und dort ganz besonders die Kirchenmusik.
Sie sprachen vorhin von christlichen Traditionen, die Sie überflüssig finden. Könnten Sie da ein Beispiel geben?
MICHAEL VON BRÜCK:
Ich halte das thetische Reden von Gott für eine menschliche Anmaßung. Gottesbilder sind so stark abhängig von den jeweiligen zeitlichen Konstrukten, von den philosophischen Prämissen oder auch von den Machtstrukturen - da empfinde ich die buddhistische Zurückhaltung als überzeugender.
Oder die Sündenlehre: Mir scheint, dass in den christlichen Traditionen der Mensch zu einseitig als "von außen" erlösungsbedürftiger Sünder gesehen wird, der Mensch hat aber auch Potenziale zu spiritueller Entwicklung, zur "Heiligung". Richtig ist - und darauf verweist Paulus: Entwicklung geht nicht über den Willen. Aber sie geht über die Erkenntnis und die Integration von Gefühlen. Und damit hat der Buddhismus eine jahrtausendelange Erfahrung.
Und worin besteht diese Entwicklung?
MICHAEL VON BRÜCK:
Das Wesentliche ist die Fähigkeit des Bewusstseins zur Konzentration. Und eine Integration von Fühlen und Denken zu einer Lebenshaltung, die sich weniger von Ich-Abgrenzung, von Gier und Hass lenken lässt, als von Einsicht in den grundlegenden Zusammenhang des Lebens. Und das erlebe ich im Buddhismus.
Aber das gibt es im Christentum doch auch? Die Heiligung, der - anders als im Buddhismus - das Gottesgeschenk der Rechtfertigung vorausgeht?
MICHAEL VON BRÜCK:
Ja, so argumentiert nicht nur der Protestantismus. In der Regel wird dann die buddhistische Praxis wie auch die Mystik als "Selbsterlösung" denunziert. Im Buddhismus aber gibt es kein Selbst, das sich selbst erlösen könnte.
Es ist ein christliches Missverständnis, dass Meditation ein Weg zur Selbsterfahrung und -erlösung ist? Das müssen Sie erläutern.
MICHAEL VON BRÜCK:
Jeder, der Meditation praktiziert, weiß, dass eine Beruhigung des Bewusstseins, die Integration, von der ich vorhin sprach, gerade nicht passieren kann, wenn ich verkrampft etwas will. Ich muss diesen Willen loslassen, um ein leeres Gefäß zu werden, um also das zu empfangen, was gerade nicht Ich ist. Der Buddhismus ist sehr zurückhaltend, zu bestimmen, was das ist, was man empfängt.
Es ist jedenfalls eine Realität, die eine andere Ebene beschreibt, als die Selbsterfahrung des Ich. Das ist die Voraussetzung dafür, dass die Transformation des Bewusstseins, die wir in der Meditation suchen, gelingen kann. Und das halte ich - allerdings in völlig anderer Sprache ausgedrückt - für das, was die Rechtfertigungslehre, was Martin Luther meint. Auch, wenn es im Buddhismus kein "extra nos" gibt, weil die ganze Welt als ein einziger Zusammenhang verstanden wird. Dieser ist durchzogen von der Präsenz dessen, was man im Ostasiatischen die Buddha-Natur nennt.
Es gibt also Ihres Erachtens eine Verwandtschaft zwischen der Rechtfertigungslehre und der Buddha-Natur?
MICHAEL VON BRÜCK:
Ja, auch die Rechtfertigungslehre ist ja nicht vom Himmel gefallen. Sie ist auf der einen Seite eine bestimmte Aneignung des paulinischen Erbes in augustinischer Deutung. Aber sie ist zuförderst auch Ausdruck einer Erfahrung, die Martin Luther gemacht hat, und zwar auf dem Hintergrund der dominikanischen Mystik. Und die Erfahrungen der christlichen Mystiker sind denen im Buddhismus nicht fremd.
Lassen Sie uns über das große Interesse sprechen, das buddhistische Spiritualität heute in Deutschland findet. Wenn es diese Erfahrungsähnlichkeiten zwischen Christentum und Buddhismus gibt, warum suchen die Menschen nicht in ihrer eigenen kulturellen Tradition nach spiritueller Heimat?
MICHAEL VON BRÜCK:
Die Menschen wenden sich vom Christentum ab, wenn sie traumatisiert sind. Und solche Traumata gibt es genug. Zu mir als Meditationslehrer oder Universitätsprofessor kommen sehr viele Menschen, die in den christlichen Kirchen enttäuschende Erfahrungen gemacht haben. Bemerkenswert ist, dass die meisten trotzdem einen Neukontakt zu ihren Wurzeln suchen. Oft gelingt eine zaghafte Wiederannäherung, wenn man durch die buddhistische Praxis geht, die Bewusstseinsveränderungen spürt und erlebt, dass es möglich ist, Ärger, Frustration oder auch Trauer zu überwinden. Manche entdecken dann zum ersten Mal die Schönheit, die im Christentum liegt.
Wie kann das gehen: Durch buddhistische Praxis zur Schönheit des Christentums zu kommen? Können Sie da ein Beispiel nennen?
MICHAEL VON BRÜCK:
Ich bin Pfarrer und habe es mir zur Gewohnheit gemacht, am Ende der Zen-Sesshins, also nach einer Woche des Schweigens und intensiven Meditierens, mit den Teilnehmern die Eucharistie zu feiern. Sie beginnt mit einer Liturgie der Elemente, dann folgen die Einsetzungsworte im Rahmen einer Vergegenwärtigung der Situation, in der Jesus aus dem Bedürfnis heraus, Gemeinschaft mit seinen Freunden zu haben, das Brot teilt. Schweigend wird Brot und Wein herumgereicht und am Schluss das Vater Unser gemeinsam gesungen, vierstimmig. Das gelingt immer, ohne Probe, durch das Aufeinanderhören. So entsteht eine Mahlgemeinschaft, die Menschen unter dem Mysterium verbindet. Ganz egal, ob sie Buddhisten, Christen oder ausgetreten sind. Niemand wird oder fühlt sich ausgeschlossen. Was ich oft erlebe, sind Tränen der Freude, nach Jahrzehnten der Abkehr von der Kirche und ihren Traditionen. Es geht um - Kommunion.
Sie haben keine Angst vor Synkretismus.
MICHAEL VON BRÜCK:
Nein. Jede Religion ist aus vielen Elementen zusammengewachsen. Das Christentum ist von Anfang an synkretistisch gewesen. Es kommt auf das "Wie" an.
Zurück zum Buddhismus in Deutschland: Welche Aspekte dieser Religion finden in Deutschland Anhänger?
MICHAEL VON BRÜCK:
Heute ist es die Praxis, die Meditation, die die Leute fasziniert. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert waren es eher die buddhistische Erkenntnistheorie und Psychologie. Nach den beiden Weltkriegen suchte man nach Wegen, um nach Kriegen und Gewaltherrschaft eine andere Gesellschaft aufzubauen. Die einen schworen auf die kommunistische Wende. Andere suchten die innere Bewusstseinsveränderung und den Mentalitätswandel, die sie im Buddhismus fanden. Es gab die enorme Begeisterung für Zen und den Tibetischen Buddhismus, die bis heute unvermindert anhält.
Und was sind das für Menschen, die sich von dieser Praxis ansprechen lassen? Ist das eine bestimmte Gesellschaftsschicht?
MICHAEL VON BRÜCK:
Es ist ein bestimmte Mittel- und Bildungsschicht, Menschen aus dem Arbeitermilieu sind eher selten. Aber es sind keineswegs nur die Intellektuellen. Es sind Therapeuten, Krankenschwestern, Menschen mit sozialen Berufen, sehr viele Ärzte aus allen Fachbereichen, Lehrer und Hochschullehrer, Politiker, Ingenieure, Architekten – im Grunde findet man alle Berufsgruppen.
Kann man in kurzen Worten beschreiben, was das Faszinierende an der Meditation ist?
MICHAEL VON BRÜCK:
Durch gemeinsame Meditation entsteht eine sehr intensive Gemeinschaft mit den anderen, die auch praktizieren. Und gleichzeitig ist sie ein Bewusstseinstraining, in dem Gedanken und Gefühle integriert werden können, so dass eine lebendige innere Ruhe entsteht. Meinen Schülern gegenüber gebrauche ich das Bild, dass unser Bewusstsein normalerweise zerstreut ist, wie das diffuse Licht einer Glühbirne: Diese strahlt in alle Richtungen, und es gibt einen enormen Wirkungsverlust, da die meiste Energie als Wärme abstrahlt. Die Meditation bündelt die Energie des Bewusstseins zu einem Laserstrahl, der zielgerichtet auf etwas gelenkt werden kann. Dann aber kann sich etwas ereignen, was als Durchbruch durch gewöhnliches dualistisches Denken erlebt wird. Das ist eine unbeschreibliche Befreiung.
Sie sagen, es geht um Konzentration und die Integration der Gefühle auch in den Glauben ...
MICHAEL VON BRÜCK:
Nicht in den Glauben. Es geht um die Integration des Gefühls in die Kognition, um das Verhältnis von Erkennen und Fühlen. Die beiden Pole Erkennen und Fühlen gehören in allen unseren Lebensbereichen zusammen.
Welche Schlaglichter fallen denn von diesem Interesse an buddhistischer Spiritualität auf unsere Gesellschaft? Auf welche Bedürfnisse antwortet die Meditationspraxis?
MICHAEL VON BRÜCK:
Das große Bedürfnis nach Stille, nach Konzentration ist zunächst eine Reaktion auf unsere schnelllebige, laute Gesellschaft, die keine Zeit für diese besondere Art der Konzentration lässt - wenige künstlerische Berufe ausgenommen. Unsere Bildungs- und Leistungsideale sind ja ansonsten auf Quantität fixiert - und das macht die Menschen psychisch krank. Des Weiteren suchen viele Menschen eine Wertegemeinschaft, die ihnen hilft, in der Pluralisierung moderner Gesellschaften nicht zu ertrinken, aber ihnen doch Freiheit lässt.
Die Stärke buddhistischer Gemeinschaften besteht in dieser Balance von Verbindlichkeit und Freiheit: Man gehört zu einer Gruppe, aber man muss keine Glaubensbekenntnisse sprechen, sondern kann sich so weit einbringen, wie man will. Das entspricht dem Autonomiebedürfnis des individualisierten modernen Menschen. Da bieten buddhistische Pädagogiken klare Anweisung bei größtmöglicher Freiheit der Interpretation an.
Und drittens gibt es in unserer Gesellschaft relativ wenige Leitbilder, die Orientierung bieten. Der Buddhismus mit seinen als Leitbildern anerkannten spirituellen Lehrern ist ein Spiegelbild dieser Sehnsüchte.
Gehört in diesen Zusammenhang auch die derzeitige Popularität von Yoga? Ist das eine religiöse oder doch eher eine Gesundheits-Bewegung?
MICHAEL VON BRÜCK:
Yoga ist ursprünglich eine religiöse Praxis, trotzdem wäre es falsch, Yoga im Westen eine neue Religion zu nennen. Es kommt auf den Religionsbegriff an. Meine Formulierung wäre, es ist eine Bewegung, die den Menschen auf dem Hintergrund des hinduistischen Weltbildes und der hinduistischen Praxis in den neuen Kontext der psychosomatischen Einheit stellt.
Unsere typisch westliche Trennung von medizinisch und psychologisch gibt es im Yoga nicht. Man weiß dort seit Jahrtausenden, dass alle Lebenssysteme psychosomatisch-spirituelle Systeme sind. Das ist "religiös", aber nicht religiös im Sinne einer neuen Konfession. Sie können, indem Sie Yoga praktizieren, die gesamte innere Wahrnehmung verändern und trotzdem jeden Sonntag zum Gottesdienst gehen. Es ist wie mit der buddhistischen Meditation: Es verändert das Christentum von innen.
Und wie verändern Yoga und buddhistische Meditation das Christentum von innen?
MICHAEL VON BRÜCK:
Denken Sie an das Menschenbild - das ist heute schon ganz anders. Oder das Gottesbild. Oder die Kritik am Sündenbegriff. Der Sündenbegriff ist ja nicht nur durch einen Theologen wie Eugen Drewermann, sondern auch durch Yogapraxis, durch die psychosomatische Bewegung aufgebrochen worden. Die Veränderbarkeit des Menschen durch Selbstreflexion, durch einen entsprechenden Lebensstil und dergleichen, ist ja schon längst Thema und Erfahrung - auch in den Kirchen. Und das verändert natürlich auch die klassischen Formen des Christentums.
Dann schätzen Sie den deutschen Buddhismus nicht als ein vorübergehendes Phänomen ein, wie der Begriff "Trendreligion" nahelegt? Denken Sie, er wird die religiöse Landschaft in Deutschland dauerhaft beeinflussen?
MICHAEL VON BRÜCK:
Ja, sicher. Der Buddhismus erscheint gegenwärtig auf drei Ebenen. Wir haben erstens die intellektuelle Faszination. Wir haben zweitens eine große Praxisbewegung, die oft Hand in Hand geht mit einer christlichen Sozialisation und auf diese zurückwirkt. Studien zeigen, dass Meditation auch unter kirchlichen Amtsträgern oder Kirchenvorständen praktiziert wird, sie ist längst nicht mehr ein Phänomen am Rande der Kirche. Und wir haben drittens den Buddhismus als "trendy". Das sind die Leute, die sich einen Buddha in den Garten stellen oder sich ihn auf den Arm tätowieren lassen. Letzteres sind kurzlebige Moden.
Wie verändert sich denn eine Gesellschaft, wenn das buddhistische Denken mehr Raum gewinnt?
MICHAEL VON BRÜCK:
Gesellschaftsverändernd ist eine moderne Interpretation des Buddhismus - und ich bin Historiker genug, um zu wissen, dass es auch ganz andere buddhistische Traditionen gibt. Aber die moderne Interpretation, die sich im Westen durchgesetzt hat, ist eine "ökologische", die besagt: Alles hängt miteinander zusammen, von den Atomen bis zu den komplexen Sozial- und Ökosystemen. Und das korrespondiert natürlich mit den Themen, die heute auch aus politischen, ökonomischen oder ökologischen Gründen dran sind.
Und das ist buddhistisch?
MICHAEL VON BRÜCK:
Buddhistisch ist die Auffassung, dass am Anfang Nichts ist beziehungsweise Relation oder Energie. Und die Energien, die zusammenkommen, bilden temporär etwas, was wir Materie nennen. Diese Realität verändert sich ständig. Das heißt, die Materie zerfließt dann auch wieder in Energiefelder, die in den Kategorien von Raum und Zeit gar nicht bestimmbar sind. Wenn man das nicht nur intellektuell im Kopf nachvollzieht, sondern durch Meditation innerlich erlebt, verändert sich die Lebenspraxis. Ich sehe mein Gegenüber nicht mehr als einen anderen, mit dem ich in irgendeiner Weise in Kommunikation trete, sondern der andere ist nichts anderes als ich - nur in anderer Form.
Ein Bild dazu: Man stelle sich vor, man geht durch einen Wald und entdeckt Pilze. Der Unkundige sieht einzelne Pilze. Der eine ist groß, der andere ist klein, der eine ganz frisch, der andere schon von der Schnecke angefressen. Der Kundige weiß, der eigentliche Pilz ist das Myzel, das, was unter der Erdoberfläche ist. Was man sieht ist ein Pilz, der verschiedene Fruchtkörper hat. Hier ist der Übergang in das buddhistische Weltbild: Die Pilze sind die verschiedenen Phänomene in der Welt, das Grundlegende ist aber das Myzel. Und wenn man das total verinnerlicht, dann ergibt sich daraus eine solidarische Lebenshaltung.
Aber es ist nicht die Solidarität von Verschiedenen, sondern es ist die Erkenntnis der Einheit des Seins. Diese Einsicht, so scheint mir, wird in einer Tiefenstruktur unsere Gesellschaften verändern. Und wir brauchen diese Einsicht, weil wir sonst die Kraft nicht aufbringen, um unseren Lebensstil tatsächlich zu verändern.
Wenn wir Ihnen zuhören, fallen uns dennoch Analogien in der christlichen Tradition ein: die Schöpfungs-idee, die Idee, im Feind den Nächsten zu sehen, das Liebesgebot ...
MICHAEL VON BRÜCK:
Natürlich gibt es das im Christentum: Philosophisch ausgedrückt etwa bei Nikolaus von Kues, der stark von der Eckhartschen Mystik geprägt worden ist. Im Zen gibt es ein Koan (das ist eine Frage, die rational nicht lösbar ist), das aus der christlichen Tradition stammt, der berühmte Satz des Paulus im Galaterbrief 2. 20: "Es ist nicht mehr Ich, der lebt, sondern Christus lebt in mir." Welches Ich spricht diesen Satz? Da kommen Sie in das Herz der buddhistischen Meditationserfahrung.
Und was können Buddhisten von Christen lernen?
MICHAEL VON BRÜCK:
Die Erkenntnis, Wirklichkeit nicht nur intellektuell oder in einer inneren Schau als Einheit zu betrachten, sondern dieselbe tätig, klug, gesellschaftlich engagiert zu verwirklichen, wie es die Bewegung "Engagierter Buddhismus" bereits tut.
Wenn nun ein Student mit christlichen Wurzeln vor Ihnen stünde und Sie fragen würde, ob er Buddhist werden oder Christ bleiben sollte. Was würden Sie dem raten?
MICHAEL VON BRÜCK:
Ich rate: Werde Christ durch eine klug geführte buddhistische Praxis.
Das Gespräch führten Evamaria Bohle und Kathrin Jütte am 21. Juli 2010 in München.
LITERATUR
Michael von Brück: Wie können wir leben? Religion und Spiritualität in einer Welt ohne Maß. Beck Verlag, München 2010, 202 Seiten, Euro 9,95.
Ders.: Zen. Geschichte und Praxis. Beck Verlag, München 2007, 128 Seiten, Euro 8,95.
Ders.: Buddhismus und Christentum. Geschichte, Konfrontation, Dialog. Beck Verlag, München 2000, 805 Seiten, Euro 24, 50.
Michael von Brück