„Etwas entgegensetzen“

Wie kann es weitergehen in Afghanistan?
Taliban in Kabul
Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Rahmat Gul
Ein Taliban nach dem Einzug in Kabul

Die Situation in Afghanistan ist ein politischer Gau. Was kann die Politik nun tun? „Man darf nicht dabei zuschauen, wie alles, wofür wir 20 Jahre gekämpft haben, zerfällt“, sagt der CDU-Politiker Norbert Röttgen. Aber was bedeutet das konkret? Roger Töpelmann hat bei ihm und anderen nachgefragt.

Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Norbert Röttgen warnte schon vor Tagen - nachdem er allerdings zuerst den erneuten Einsatz auch der Bundeswehr in Erwägung gezogen hatte: Die Taliban hätten das Land bald wieder komplett unter Kontrolle. Dass Afghanistan dann nicht wieder eine Brutstätte von Terror wird, der vor allem uns in Europa bedroht, sei nicht gesichert. Nach 20 Jahren Einsatz zu sagen, das sei eine afghanische Angelegenheit, sei wirklich absurd und beschämend. „Es geht nicht darum, aus Afghanistan eine moderne Demokratie zu machen. Das fordert niemand. Aber man darf nicht dabei zuschauen, wie alles, wofür wir 20 Jahre gekämpft haben, zerfällt“, erklärte Röttgen auf Anfrage von „zeitzeichen“. „Wenn wir jetzt nichts tun, dann wird das Folgen haben: In Afghanistan wird es einen Bürgerkrieg geben und die Menschen werden fliehen. Nicht nur Tausende, sondern Millionen.“

Doch wie lässt sich ein solches Szenario verhindern? „Es geht nicht darum, den Truppenabzug aus Afghanistan zu revidieren. Aber wir müssen der Taliban-Offensive jetzt etwas entgegensetzen. Aus der Verantwortung nach 20 Jahren Einsatz heraus und aufgrund unserer eigenen Sicherheitsinteressen.“ Es reiche nicht, immer nur amerikanische Entscheidungen abzunicken – das sage er als Transatlantiker. „Der einseitige und übereilte Abzug aus Afghanistan war ein Fehler. Das müssen wir offen gegenüber den USA kommunizieren und darauf drängen, dass sie ihre bereits stattfindende Luftunterstützung der afghanischen Streitkräfte intensivieren. Das können wir aber nur dann fordern, wenn wir auch selbst bereit sind, etwas zu leisten.“

Das Angebot müsse sein, dort zu helfen, wo wir es können. Es gehe nicht um einen neuen Einsatz am Boden, sondern um Logistik und Material. Hier brauchten die Afghanen unsere Hilfe. Den Taliban ist die Teilhabe an einer politischen Lösung für die Zukunft Afghanistans zugestanden worden. Aus diesem Grund wurde in Doha verhandelt. Jetzt gehe es darum, den Taliban klarzumachen, dass es ihnen nicht gelingen wird, gegen den Willen fortschrittlicher Kräfte im Land und gegen den Willen der internationalen Gemeinschaft die Macht im Land zu ergreifen.

„Diplomatische Lösung muss gelingen“

Wie die sich überschlagenden militärischen Ereignissen in Afghanistan sich entwickelt haben, das sieht auch Marie Strack-Zimmermann (FDP) im Gespräch mit „zeitzeichen“ sehr kritisch. Die Freien Demokraten hätten in den letzten vier Jahren immer wieder die Bundesregierung aufgefordert, den Einsatz in Afghanistan zu evaluieren und dem Parlament eine Exit Strategie vorzulegen, wann und unter welchen Voraussetzungen die Bundeswehr den Einsatz am Hindukusch beenden kann. „Das hat weder Außenminister Heiko Maas als Chef des Auswärtigen Amtes noch Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer uns vorgelegt“, sagt die Sprecherin der FDP im Verteidigungsausschuss. „Insofern hat auch uns der blitzschnelle und massive Vorstoß der Taliban völlig überrascht. Auch deswegen, weil die Alliierten die afghanische Armee über Jahre ausgebildet haben (train and advice), und die afghanische Armee in Mannstärke und Ausrüstung den Taliban deutlich hätte überlegen sein müssen. Aber offensichtlich nicht in der Lage oder willens sind ihre Nation zu verteidigen.“

Zur Frage, ob eine diplomatischen Lösung - eine Dialogkonferenz - überhaupt gelingen kann, hat die katholische FDP-Politikerin eine klare Meinung: „Sie muss gelingen, wollen wir nicht alles aufs Spiel setzen, wofür auch unsere bis zu 100.000 Soldatinnen und Soldaten 20 Jahre lang im Einsatz waren, nämlich, dass von Afghanistan kein weltweiter Terror mehr ausgeht und eine junge Generation Männer und besonders Frauen wieder eine Lebensperspektive in ihrer Heimat bekommen.“ Voraussetzung dafür sei allerdings eine Waffenruhe. Um diese durchzusetzen müssten unter der Federführung der UN neben der Afghanischen Zentralregierung, die Taliban, Vertreter aus Russland, China, Indien, USA, EU und regionaler Akteure wie der Iran und Pakistan an den Tisch. „Daher haben wir auch sehr früh die Bundesregierung aufgefordert sich bei den Vereinten Nationen für eine entsprechende Konferenz einzusetzen.“

Kritisch sieht sie die Überlegungen, die auf ein erneutes militärisches Eingreifen zielen, weil der Westen moralisch ansonsten das Gesicht verliere. „Der Vorschlag von Norbert Röttgen, dass die Bundeswehr militärisch wieder vor Ort eingesetzt werden soll, teilen wir ganz und gar nicht - mit Ausnahme selbstverständlich umgehend unsere Botschaftsangehörigen und gegebenenfalls deutsche Staatsbürger zu evakuieren. Wenn eine Armee eingreifen kann, dann die US-Army. Unsere Aufgabe wird jetzt darin bestehen, neben der Suche nach einer diplomatischen Lösung die afghanischen Ortskräfte, die noch ausreisen wollen und welche die Bundeswehr jahrelang begleitet haben, aus Afghanistan zu holen.“ Ihre Partei fordere ein Sondervisa-Programm für Afghaninnen, die durch die Ausweitung des Herrschaftsbereichs der Taliban besonders von Verfolgung und Gewalt bedroht seien. „Der Westen mag sein Gesicht verlieren, möglicherweise, weil er den richtigen Moment verpasst hat, sich aus Afghanistan zurückzuziehen. Unsere Soldatinnen und Soldaten aber, haben ihren Auftrag erfüllt, den das Parlament ihnen auferlegt hat. Und dafür werden die Freien Demokraten ihnen immer dankbar sein.“

„Aus dem Misserfolg lernen“

In der Tat waren die internationalen Anstrengungen zur Befriedung des Landes, das keine Meeresküste hat, enorm: 20 Jahre lang - seit Ende 2001 - versuchten fremde Truppen den internationalen Terrorismus zu bekämpfen. Eine Reaktion auf den 11. September 2001. Bis 2014 mit dem ISAF-Einsatz (International Security Assistance Force), dann mit der Mission Resolute Support. Mindestens 100.000 Zivilisten wurden seitdem getötet. Unter den NATO-Truppen mit 10.000 Soldaten stellte die Bundeswehr bis zu 1300. Mit dem Abzug der Bundeswehr steht der verlustreichste Einsatz ihrer Geschichte vor dem Ende. 59 deutsche Soldaten ließen in Afghanistan ihr Leben, 35 fielen in Gefechten oder wurden bei Anschlägen getötet. Von den 180.000 Bundeswehrsoldaten wurden über die Jahre etwa 100.000 in den Afghanistan-Einsatz geschickt. Die Militärseelsorge beider Kirchen, gibt Militärdekan Bodo Winkler im Evangelischen Kirchenamt für die Bundeswehr an, begleitete die Soldatinnen und Soldaten mit insgesamt 150 Militärgeistlichen. Eine Anstrengung, die niemand in Frage stellt.

Ein Mann der ersten Stunde ist Monsignore Joachim Simon. Schon Anfang 2002 flog er als erster katholischer Militärgeistlicher nach Bagram und Kabul. Er resümiert: „Diese Entwicklung war leider absehbar - für uns kontinuierliche Beobachter ab Einsatzbeginn 2002 spätestens seit dem Ende der International Security Assistance Force (ISAF) Mission zum Jahresende 2014 und dem Beginn der Folgemission „Resolute Support“ seit 2015.“ Seitdem sei hauptsächlich seitens der U.S. Streitkräfte militärische Gewalt gegen Aufständische und Kriminelle angewendet worden, und zwar mandatiert durch den „Enduring Freedom“-Einsatz. Der größte Teil der Deutschen Einsatztruppe habe sich ohnehin nur gegen Angriffe verteidigen dürfen, habe also fast immer nur defensiv gekämpft.

Seit 2015 seien nur noch relativ wenige Bundeswehrangehörige und Polizisten aktiv an der Beratung und Ausbildung Afghanischer Sicherheitskräfte beteiligt gewesen. Das Engagement war offensichtlich nicht sehr erfolgreich. Die bloße Anwesenheit von etwa 1.000 Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr, isoliert von der Außenwelt in zwei festungsartigen Camps in Kabul und Mazar-i-Sharif, konnte die militärische Lageentwicklung nicht mehr wesentlich beeinflussen. Große Teile der Bevölkerung Afghanistans, die im Jahr 2002 die Entmachtung der Taliban und den Einzug ausländischer Soldaten bejubelt hatten, seien bitter enttäuscht, weil die erhoffte Verbesserung ihrer Lebensbedingungen für viele Afghanen nicht eintrat. „Afghanistan war schon seit langem ein „Failed State“, ein durch langwierige Kriege, kriminelle Warlords, korrupte Politiker, Drogenbarone und Partikularinteressen zerrissenes Land. Der Westen sollte aus diesem Misserfolg lernen. Es gibt Probleme, die sich nicht durch militärische Intervention lösen lassen“, sagt der Militärgeistliche.

„Abzug alternativlos“

Haben die Amerikaner mit dem raschen Abzug unmoralisch verhalten? Militärdekan Simon sieht es pragmatisch: „Der Abzug war alternativlos, weil die Fortsetzung der Kampfhandlungen aussichtslos und innenpolitisch nicht länger zu vermitteln war. Zudem war ein erklärtes Ziel der Amerikaner seit 10 Jahren erreicht: Aufspüren und Ausschaltung des Al-Qaida-Gründers Osama Bin Laden.“ Dennoch: Taktisch unklug sei es, dass die Entscheidung zum Truppenabzug verkündet worden war, während die Taliban in Doha noch am Verhandlungstisch saßen. Die Taliban hatten ihr Ziel erreicht: Warum sollten sie weiter verhandeln? „Versetzen wir uns einmal in die Lage der Taliban: Kein einziger Afghane war an dem Terrorangriff von Nine-Eleven beteiligt. Und dennoch wurden mehrere Tausend Afghanen zu Kriegsopfern, viele durch die Militäraktionen der als Besatzer wahrgenommenen Koalitionstruppen, viele aber auch durch die bürgerkriegsähnlichen Zustände in weiten Teilen des Landes.“

Die Frage nach der Moral könne man stellen. „Die internationale Gemeinschaft wird einen Konsens für den künftigen Umgang mit diesem Land und den dort Herrschenden finden müssen, um Afghanistan nicht denen zu überlassen, die das Land und seine Bevölkerung ausbeuten wollen.“ Seit der Ankündigung des amerikanischen Präsidenten Donald Trump, Afghanistan zu verlassen, müsse jedem klar gewesen sein, dass das Ende des Einsatzes nach 20 Jahren sich dem Ende nähert. „Es war immer klar, dass die Alliierten gemeinsam mit den USA in den Einsatz gehen und gemeinsam unter Federführung der Vereinigten Staaten wieder raus gehen“, erinnert Simon.

Die Geschwindigkeit allerdings sei zu keinem Zeitpunkt nachvollziehbar gewesen, zumal die neu gewählte US-Administration die internationale Gemeinschaft darüber informiert habe, dass nach dem Regierungswechsel die Lage vor Ort erst einmal neu bewertet werden müsse. Plötzlich sei alles ganz schnell gegangen. Die Friedensgespräche zwischen den USA und den Taliban in Doha, die bedauerlicherweise ohne die afghanische Zentralregierung stattgefunden hatten, wurden ohne Verhandlungsergebnis unterbrochen und der Truppenabzug orientierte sich am amerikanischen Nationalfeiertag, dem 4. Juli bzw. an dem Gedenktag 11. September. Dadurch entstand eine unfassbare Dynamik, die sie mehr an Flucht als an eingeordneten Abzug erinnert habe. Mit dem Ergebnis, dass bis zum 30. April so gut wie alle internationalen Truppen Afghanistan verlassen hatten. „Das war und ist unverantwortlich, wie man jetzt angesichts der katastrophalen Lage sehen kann und es offensichtlich ausschließlich der US-amerikanischen Innenpolitik geschuldet war.

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Foto: privat

Roger Töpelmann

Dr. Roger Töpelmann ist Pfarrer i.R. Er war bis 2020 u.a. Pressesprecher des Evangelischen Militärbischofs in Berlin.


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