Immer aktuell

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Opfer in der Geschichte

Christoph Auffarth legt in seiner Studie eine scharfe Kulturkritik an der Moderne vor, indem er versucht, eine europäische Religionsgeschichte durch die Untersuchung des Opfers von der Antike bis hin zu den metaphorischen Verwendungen des Wortes zu konstituieren. In diesen zahlreichen Metaphern seien allerdings der religiöse Anspruch und Sinn des Opfers verlorengegangen, bis hin zu den aktuellen Selbstmord-Attentätern, die im Ritual „undenkbar, als religiöser Akt pervers“ seien, auch wenn sie „im Selbstverständnis und als Fremdzuschreibung“ von den Akteuren mit Religion in Verbindung gebracht werden. Er stellt mithin auch die Frage, ob die Redeweise von Opfern in der Moderne nicht den Handlungen, in denen von Verkehrsopfern, Kriegsopfern bis hin zu den Opfern der Klimakatastrophe gesprochen wird, durch die Qualifizierung als religiös ein „Sinn“ unterschoben werden soll.

Schließlich enthält seine Studie auch einen Abriß und eine Erörterung der in der Religionswissenschaft vorgelegten Theorien des Opfers von William Robertson Smith, James George Frazer, Émile Durkheim, Marcel Mauss und Sigmund Freud bis hin zu René Girard und Walter Burkert und besonders auch des heute meist unbekannten Julius Wellhausen, die in den verschiedenen Formen des Opfers in der Religionsgeschichte einen sozialen und psychischen Sinn für die Konstituierung der menschlichen Gesellschaft aufzuweisen versuchten.

Die Opfer der antiken Religionen werden in Kapitel vier und die des alten Israels in Kapitel fünf dargestellt, das Ende des Opferrituals im frühen Christentum in Kapitel sechs und schließlich die christliche Vorstellung der Lebensführung als Opfer in Kapitel sieben sowie die moderne Metaphorik des „Opfers fürs Vaterland“ im Krieg in Kapitel acht erörtert. Der Leser erhält einen Eindruck von den verschiedenen in der europäischen Religionsgeschichte zu beobachtenden Praktiken und Theorien des Opfers.

Im Zentrum der kultischen Handlungen der antiken Religionen stand das Opfer, häufig von Tieren, aber auch vegetabile. Diese wurden bereits von den Propheten der Hebräischen Bibel kritisiert und verworfen. Jesaja zum Beispiel schreibt: „Satt habe ich die Brandopfer ... Eure Hände sind voll Blut … reinigt euch. Tut hinweg eure bösen Taten … lernt Gutes zu tun! Trachtet nach Recht, weist in die Schranken die Gewalttätigen“ (ebenso auch andere Propheten, und in den Zehn Geboten steht nichts von Opfern). Jedoch kam diese Form der Verehrung Gottes erst mit der Zerstörung des Tempels ans Ende. Das Christentum hat Opfer von seinem Beginn an abgewiesen, aber die Opferbegrifflichkeit in seine Sprache übernommen, vielleicht um sich der altreligiösen Umwelt, die die Christen und ihren Kultus als gottlos, atheoi, bezeichneten, verständlich zu machen.

Doch blieb diese Übernahme der Begrifflichkeit für seine Theologie nicht folgenlos, wie Auffarth in Kapitel sieben aufzeigt. Nach seinen Überlegungen haben die Kirchen erst nach der Proklamation der Menschenrechte 1948 – eine „Form säkularer Religion“ – versucht, „anschlussfähig zu werden“, „als sie ihr autoritäres Gottesbild aufgaben“. „Der Deutsche Evangelische Kirchentag und das Zweite Vatikanische Konzil waren Foren, auf denen die Vergangenheit der autoritären Herrschaft transformiert wurde in eine Gegenwart, die sich auch der Zukunft und Gottes Gegenwart verantwortlich zeigte“, schreibt Auffarth in seinem Schlußabsatz und hebt das Prinzip der Verantwortung hervor. Dies sei „heute so aktuell wie nie zuvor“.

Sein Vorschlag, „das Opfer als Geschenk“ zu verstehen, das den „Aspekt des Verzichtes oder der Gewalt“ verliere, ist problematisch, da jedes Geschenk Macht und Herrschaftsinteressen manifestiert und eine Ablösung von Opfervorstellungen nicht gelingt, wie er bei den als Geschenke interpretierten Gaben der Entwicklungshilfe selber hervorhebt. Bleibt zu hoffen, dass dieses Buch die Theorien und Diskussionen zum Opfer neu beleben wird.

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Über den Klassenkampf von oben

Klassenkampf? Klar, gibt es ständig in deutschen Grundschulen. Wenn wohlhabende Eltern mit akademischer Ausbildung ihr Kind entgegen der Empfehlungen der Lehrer:innen an ein Gymnasium anmelden. Denn da gehöre es schließlich hin. Problemviertel? Grunewald in Berlin, zum Beispiel, wo die Bewohner:innen isoliert in ihren Villen wohnten, Reichtum anhäuften und so zum Problem der sozialen Ungleichheit beitrügen. Es sind solche Perspektivwechsel, die zu den besonderen Momenten im Buch von Francis Seeck zählen. Besonders, weil sie die Relativität der gesellschaftlichen Einordnungen in Milieus, Klassen oder Schichten und der ihnen zugeschriebenen Eigenschaften auf den Punkt deutlich machen. Besonders aber auch, weil solche humorvollen Momente in Zugang verwehrt seltenheitswert haben.

Schließlich gibt es nicht viel zu lachen, wenn man den Klassismus in Deutschland beschreiben will. Und selber erlebt hat, wie die Autorin als Kind einer alleinerziehenden, erwerbslosen Mutter. Am Wochenende hatte sie mit ihrer Mutter in einer Pizzeria einen schönen Abend verbracht, am Montag wurde sie von einer Erzieherin gefragt, wie sie sich das denn als Sozialhilfeempfängerinnen leisten könnten. Diese Form der Diskriminierung, die sich durch das ganze Leben der Betroffenen ziehe, hat einen Namen: Klassismus.

Francis Seeck ist promovierte Kulturanthropologin und Antidis­kriminierungs­trainer:in, Post-Doc an der Humboldt-Universität zu Berlin und war 2020 Mitherausgeberin eines Sammelbandes zum Thema. Zugang verwehrt solle kein soziologisches Fachbuch sein, schreibt sie, sondern zeigen, „was Klassismus ist, wie er unsere Gesellschaft prägt und soziale Ungleichheit fördert, damit wir uns dem entgegenstellen können.“ Also ein Buch für alle, die eine kurze Einführung ins Thema mit vielen Beispielen ebenso schätzen wie eine kämpferische Grundhaltung.

Zu den gesellschaftlichen Bereichen, die Seeck unter klassistischer Fragestellung betrachtet, gehören erwartbare (deshalb nicht weniger wichtig) wie Bildung, Wohnquartiere, Gesundheit und Erwerbsarbeit. Aber sie spricht auch ein zunächst überraschendes Thema an, nämlich Klassismus in der DDR. Die vermeintlich klassenlose Gesellschaft war nämlich keine, was die Autorin unter anderem mit dem „Assi-Paragrafen“ 249 Strafgesetzbuch belegt. „Arbeitsscheue“ konnten danach bis zu zwei Jahre inhaftiert werden. Wer nicht einer geregelten, bevorzugt industriellen Arbeit nachgehen wollte, war verdächtig. Doch auch der Aufstieg der Arbeiter:innenkinder war nur zu Beginn der DDR tatsächlich Programm, seit den 1960er-Jahren habe die neue sozialistische Intelligenz ihren Kindern Bildungsprivilegien gesichert und den Zugang für andere zugeschüttet.

Spannend auch das Kapitel über den Kulturbetrieb, wo das Thema Klassismus als Stoff gerade im Trend liegt. Allerdings, so Seeck, werde dabei häufig das Stereotyp des weißen Arbeiters im Unterhemd mit Bierdose, Alkoholproblemen und Hang zur Gewalt bedient. Dies ist umso absurder, als prekäre Lebensverhältnisse aufgrund der oft schlechten Arbeitsbedingungen in der Branche keine Ausnahme sind. Oder doch? Denn wer kann sich solche Jobs eigentlich leisten? Viele Kulturarbeiter:innen stammten aus privilegierten Vermögensverhältnissen. „Genauso bedeutend oder gar bedeutender als das Einkommen ist das Erbe.“

Könnte stimmen, aber eine Quelle für diese steile These liefert Seeck leider nicht. Und das ist eine wiederkehrende Schwäche des Buches. Zwar ist das Literaturverzeichnis umfassend und enthält viele Studien. Aber hier und da hätte man sich doch etwas mehr Zahlen, Daten und Fakten gewünscht, auch wenn der Text kein soziologisches Fachbuch sein will. Doch für all diejenigen, die sich sensibilieren lassen möchten für ein Thema, das noch immer viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt, ist der schnell zu lesende, schlanke Band wärmstens zu empfehlen.

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Foto: Rolf Zöllner

Stephan Kosch

Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens.


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Alters-Grandezza

Alters-Grandezza

Ein langes Leben

Adriana Altaras hat schon mehrfach bewiesen, wie charmant und lebensnah sie von ihrer bemerkenswerten jüdischen Familie zu erzählen versteht, die ursprünglich in Zagreb zu Hause war. Ihr letztes Buch ist während des Lockdowns entstanden und ihrer italienischen Tante gewidmet, der sie innig verbunden ist, seit sie als kleines Mädchen ein paar Jahre bei ihr gelebt hat.

Beide sind sie nun isoliert, die 99-jährige Tante in einem Pflegeheim in Mantua, Adriana Altaras in Berlin. So ist die Erzählung zweistimmig angelegt: Immer abwechselnd kommen Tante und Nichte mit ihren Überlegungen und Erinnerungen zu Wort.

Wunderbar gelingt es der Autorin, sich in die alte Dame hineinzudenken, die sich eingesperrt fühlt in einem Totenhaus, schlecht sieht und hört und innerlich doch quicklebendig ist, so viel zu denken und zu erinnern hat: Ein langes Leben zieht an ihr vorbei, das sie zu genießen verstand als begeisterte Schwimmerin und Köchin, große Hundeliebhaberin, reiselustig, mit einem Faible für teure Kosmetik und Antiquitäten. Und doch gequält vom Trauma der Shoah, der Vertreibung, des Lagers … Immer wieder misstrauisch, ob die Faschisten nicht doch noch da sind.

Das ist stark erzählt und wird im Hörbuch von Angela Winkler mit feiner Wärme und Ruhe vergegenwärtigt. Dazwischen dann die Autorin selbst: temperamentvoll, mit sympathischer Selbstironie, aber auch Neigung zur Selbstdramatisierung – etwas redundant, was ihren eigenen Kummer angeht, nachdem sich ihr Mann von ihr getrennt hat. Da wäre weniger wohl mehr gewesen, aber der Lockdown dauerte ja auch lang. Das Zuhören macht allemal Vergnügen, macht auch Mut für’s Altern – und bringt jüdisches Leben nah, das so ganz normal ist und nach der Shoah eben doch nie so ganz ...

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Angelika Obert

Angelika Obert ist Pfarrerin im Ruhestand in Berlin. Sie war bis 2014 Rundfunk- und Fernsehbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz für den Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb).


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Spatz & Schwalbe

Spatz & Schwalbe

James Brandon Lewis Trio: Eye of I

Wer von Rockmustern immer noch nur schwer lassen kann, fängt am besten von hinten an: Den elften Track „Fear Not“ haben sie mit den Messthetics arrangiert und eingespielt, einer Experimentalband um zwei Fugazi-Hardcorler; am Moog-Synthie ist Shahzad Ismaily aus New Yorks Downtown-Szene dabei. Erst sanft Gitarre, Saxophon und Bassahnung, dann das Schlagzeug-Signal: Das Sax wird fett, Gitarren und Bass schwer. Acht Minuten Schreiten, das nicht vom Fleck zu kommen scheint und dennoch mit etlichen Soli und mitreißender Dynamik einen riesigen Satz macht, was gut auch auf eine Mogwai-Platte passte. Leader James Brandon Lewis beschreibt den Ansatz auf Eye of I so: „Die Energie zu fassen kriegen und Interaktion – uns geht es als Trio um Vorstellungen von Raum und Erneuerung, indem wir eine Melodie als Herzstück nehmen, als Köder, dem wir nachjagen. Dann ist es ein ausgelassenes Tanzen zwischen dem, was wir bereits kennen, und dem Unbekannten. Genauso machen das ja die Messthetics.“

Nach zwei gefeierten Alben mit elaboriertem Konzept baut Lewis hier auf die erkundende Kraft im Zusammenspiel des „Power Trios“, wie er sie nennt. Neben ihm am Tenorsaxophon sind das Chris Hoffmann am Cello, das er mal zupft wie einen Bass oder streicht und mit Effektgeräten frisiert, und Max Jaffe an den Drums. Drei alarmistische Kurz-Stücke zwischen Free und HipHop-Explosionen, jeweils unter einer Minute, wie „Foreground“ gleich zu Beginn geben dem Album gleichsam den konzentrierten Takt, vor dem sich dann die Melodie-Explorationen wie Landschaften entfalten. Etwa der Song „Someday We’ll All Be Free“ von Soulsänger Donny Hathaway oder die funkelnde Eigenkomposition „Even The Sparrow“ zu Psalm 84: „Wie lieb sind mir deine Wohnungen! Auch der Spatz hat ein Zuhause gefunden, und die Schwalbe ein Nest für ihre Jungen – deine Altäre, HERR Zebaoth.“ Lewis ist Pfarrerssohn, der seine Gospelprägung virtuos und inspiriert zu beackern weiß.

In beiden Tracks ist der Kornettist Kirk Knuffke dabei – umwerfend, wie er und Lewis einander steigern. Und immer sind es ja eigentlich Miniaturen: Erkunden von Melodien, mal lyrisch, mal druckvoll entfesselt. So tun sich Räume auf, die nicht bloß für Spatz und Schwalbe ein Zuhause sind. Herausragend ist auch das gewollt unakademische „The Blues Still Blossoms“, das den Blues-Spirit ohne Schemata erkennen zu lassen als tiefes Gefühl von Erleichterung zu spüren gibt. Ein Album intensiver Erlebnisse zwischen Kraftwerk und Meditation, spirituell, emotional und ästhetisch. Dass sich Legenden wie Marc Ribot oder der mit Lob geizende Sonny Rollins bei James Brandon Lewis schlicht überschlagen, macht Eye of I  nachvollziehbar. Und das hymnische „Fear Not“ am Ende öffnet auch noch dem letzten Jazz-Schmock die Tür.

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Am Lagerfeuer

Am Lagerfeuer

Perfekte Spiellaune im Dialog

Die Mixtur Trompete-Gitarre hat etwas Urvertrautes, auch wenn sich die Balance im Vergleich zum Trompete-Orgel-Duo im europäischen Barock im Ohr erst einmal neu justieren muss. So oder so entsteht sofort eine Vorstellung, die beide Instrumente schnell per Du sein lässt – da der melodiöse Lichtstreif, dort die rhythmisch-akkordische Landschaft, der Raum, den der andere strahlend beflügelt. So, aber längst nicht nur so, begegnen sich Nils Wülker (Trompete, Flügelhorn) und Arne Jansen (Electric & Acoustic Gitarren). Dabei hält es der eine ganz mit seinem herrlich langen Taucher-Atem, auf dem er wie ein Adler durch die Lüfte zieht, der andere neben seiner rhythmischen Präzision und exzellenten Fingerfertigkeit bei fortwährend schwebeleichter Harmonie-Phantasie zusätzlich mit ausgefeilten Effekten per Harmonizer, Delays, Loops et cetera, sodass ihre bei Bach und Purcell noch zugewiesenen Rollen mitunter wundersam zu wechseln scheinen und man sich wünscht, solcherlei Dialogführung möge die Welt bestimmen.

Closer heißt das Album der beiden Jazzer, die sich ein gefühltes halbes Leben kennen und jetzt noch einmal näher rücken – zueinander im Spiel, miteinander ans Ohr. Dabei weiß das bei den ersten Stücken erst einmal gar nicht, ob es noch näher ran oder doch lieber ein Stück weg will vor ungläubigem Staunen. Gleich mit dem Auftaktsong „Hurt“, ursprünglich von Trent Reznor (Nine Inch Nails), später von Johnny Cash gecovert, stellt Arne Jansen einen durch Distortion, Reverbs und Delays cool wie Schritte auf weites freies Land gesetzten, dabei immer filigraner werdenden Sound vor, der intensiver kaum sein könnte und offenbart, welche Freiheit jede neue Coverversion haben und auch ohne Text diesen verdichten kann. Abgesehen von Ry X. weich federndem „Ya Ya Ya“ und Paul G. Buchanans blaustundigem „Let’s go out tonight“ am Ende des Albums finden sich ansonsten lauter feine, exzellent ausbalancierte Eigenkompositionen, die beiden Musikern allen Raum geben, ihr Können und ihre Spiellaune im Dialog unter Beweis zu stellen.

Besonders sind das funkig-frische „Deep Dive“ von Nils Wülker, in dem es zu herrlichen Wechseln der Soli kommt – wunderbar luftig Nils Wülker, Santana-like Arne Jansen –, und „He Who Counts The Stars“ von Arne Jansen, in dem dieser sein Gespür für nuancenreich weiträumigen Sound noch einmal potenziert und eine Stimmung zelebriert, die dem Titel alle Ehre macht.Und dann ist da noch „Beyond The Bavarian Sky“ – so pur, so frei und träumerisch weit –, zwei Männer und zwei Instrumente unplugged: Flügelhorn und Akustikgitarre. Diese Lagerfeuer-Konstellation präsentieren beide auch mit „It Won’t Be Long“ ungemein duftig. Aber „Beyond The Bavarian Sky“ ist noch ein Sternefunkeln mehr: Im Titel eine Hommage an „Beyond The Missouri Sky“ von Charlie Haden und Pat Metheny und ein Credo auf die Vollkommenheit zu zweit.

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Kulturelle Aneignung?

Kulturelle Aneignung?

Keine kulturelle Form ist exklusiver Besitz einer bestimmten Gruppe
Foto: privat

Wer Ausdrucksformen eines Kulturkreises adaptiert, dem er nicht selbst angehört, wird schnell der „kulturellen Aneignung“ bezichtigt. Erstes Beispiel: Bei einer Fridays-for-Future-Demonstration in Hannover sollte die Musikerin Ronja Maltzahn auftreten. Es kam nicht dazu. Sie trug Dreadlocks, Filzlocken. Die FFF-Verantwortlichen sagten den Auftritt der Künstlerin ab. Begründung: ihre Frisur. Dreadlocks seien in den USA ein Widerstandssymbol der Bürgerrechtsbewegung schwarzer Menschen geworden. „Wenn eine weiße Person also Dreadlocks trägt, dann handelt es sich um kulturelle Aneignung, da wir als weiße Menschen uns aufgrund unserer Privilegien nicht mit der Geschichte oder dem kollektiven Trauma der Unterdrückung auseinandersetzen müssen“, hieß es. Die Musikerin reagierte betroffen: „Wir hatten uns darauf gefreut ein Zeichen für Frieden und gegen Diskriminierung mit unserer Musik setzen zu dürfen. Schade dass wir aufgrund von äußerlichen Merkmalen davon ausgeschlossen werden.“ Es gehe darum, kultureller Vielfalt eine Bühne zu geben und für Achtsamkeit und Toleranz einzustehen.

Schon dieser kurze Abriss zeigt, wie dynamisch kulturelle Entwicklung verläuft. Haben sich die US-Bürgerrechtler die Rastafari-Frisur aus Jamaika angeeignet? Durften sie das, weil sie gleichfalls schwarz und unterdrückt waren? Oder keinesfalls, weil sie in Haile Selassie nicht, wie die Rastafarians in Jamaika, den wiedergekommenen Messias sahen?

Zweites Beispiel: In der SWR-Sendung „Lied zum Sonntag“ spricht ein evangelischer Pfarrer über das Spiritual „Sometimes I feel like a motherless child“. Dieses dürfe man sich „nicht einfach so aneignen“, sagt Wolf-Dieter Steinmann, denn „das Leid von Millionen schwarzer Menschen ist darin aufgehoben, das ihnen Sklaverei und weißer Rassismus zugefügt haben und bis heute antun.“ Deshalb: „Es wäre übergriffig, wenn ich als weißer Europäer eigenen Schmerz unmittelbar in dieses Lied eintragen würde. Es wäre kulturelle Enteignung, eine Form von Rassismus.“

Demnach darf ich – weiß, europäisch – dieses Lied nur mit dem Wissen um seinen Entstehungskontext und dem dafür geschärften Bewusstsein singen oder hören. Lasse ich das außer Acht, verhalte ich mich rassistisch, meint der Pfarrer. Als weißer Europäer dürfe man in dieses Klagelied der Afroamerikaner nur einstimmen, „wenn man Rassismus erkennt und überwinden hilft“.

Große Literatur – wie große Kunst überhaupt – kann Menschen aus verschiedenen Zeiten, aus unterschiedlichen Kulturkreisen und in besonderen persönlichen Situationen ansprechen, berühren, bewegen. Das gilt auch für dieses Spiritual. Wenn ich ihm ein derart enges Rezeptionskorsett anlege, nehme ich ihm viel von seiner Weite und Tiefe. Vielleicht fühle ich mich manchmal wie ein Kind ohne Mutter – muss ich mir dann den Trost dieses Liedes selbst verbieten? Vielleicht treffen die Psalmen des Volkes Israel genau mich in meinem Schmerz, meiner Freude oder meiner Hoffnung – auch wenn sie vor langer Zeit in einem völlig anderen Zusammenhang entstanden sind.

Seit die Menschheit besteht, geschieht kulturelle Entwicklung durch wechselseitige Einflüsse, Übernahmen, Querverbindungen, Rückflüsse. Das betrifft Kunst, Musik, Literatur, aber auch Mode, Esskultur und vieles andere. Ohne solche meist fruchtbaren Prozesse ist keine Entwicklung denkbar.

Keine kulturelle Form ist ausschließlicher Besitz einer bestimmten ethnischen Gruppe. Nirgends findet sich eine „reine“, von anderen unbeeinflusste Kultur. Der Gedanke ist völlig ahistorisch und erinnert an die unsäglichen Diskussionen um eine „deutsche Leitkultur“. Oder an Schlimmeres.

Nach den identitätspolitischen Prinzipien, die einige so verbissen vertreten, hätte Goethe keinen west-östlichen Diwan schreiben, Mozart keinen türkischen Marsch, Brahms keine ungarischen Tänze komponieren, Picasso sich nicht von afrikanischer Kunst inspirieren lassen dürfen. Es gibt keine „kulturelle Aneignung“. 

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Andreas Duderstedt

Andreas Duderstedt (67) ist Journalist und war 16 Jahre Pressesprecher der Evangelischen Kirche von Westfalen und davor zwölf Jahre Öffentlichkeitsreferent der Lippischen Landeskirche.


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Maria voll der Gnade

Iova Calderar entzündet ein Streichholz, pustet es aus, fackelt noch eines a

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Lange Streitgeschichte

Die Vorgeschichte: Es war im Sommer 1721, als der Mathematikprofess

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Es ist kompliziert

Es ist kompliziert

Warum die Ablösung der Staatsleistungen schwer wird

Diesmal sollte es angepackt werden! Auch in der schwierigen Materie der Ablösung der Staatsleistungen an die beiden großen Kirchen in Deutschland wollte die Ampelkoalition der Überschrift ihres Koalitionsvertrages gemäß „Mehr Fortschritt wagen“ und endlich die Staatsleistungen für die beiden großen Kirchen ablösen. Kein Wunder, betrugen sie doch im vergangenen Jahr fast 600 Millionen Euro, keine Kleinigkeit. Dabei ist die Ablösung der Staatsleistungen ein Verfassungsauftrag, der seit 1919, seit der Trennung von Staat und Kirche, in Deutschland besteht.

Diese Zahlungen haben übrigens nichts mit der Kirchensteuer oder anderen zweckgebundenen Förderungen oder Erstattungen für Kirchen oder kirchliche Unternehmungen zu tun, sondern sind regelmäßige Leistungen des Staates in Gestalt der Bundesländer an die Kirche in Gestalt der evangelischen Landeskirchen und der katholischen Bistümer. Zahlungen, deren Rechtsgrundlage jährliche Entschädigungszahlungen für Enteignungen kirchlichen Besitzes durch den Staat vor langer Zeit sind. Genannt wird meist der Reichsdeputationshauptschluss von 1803, damals zur Zeit der Napoleonischen Besatzung in Deutschland, als zahlreiche kirchliche Besitztümer gegen fortlaufende Entschädigungen verstaatlicht wurden. Aber es betrifft auch viele Vorgänge, die älter sind und teilweise bis in die Reformationszeit zurückreichen.

Keine Frage, die Materie ist komplex. Und trotz der Bereitschaft der Kirche und des Bundes, die Sache voranzutreiben, scheint es in den vertraulichen Verhandlungen zu haken. Denn die Ablösesumme – im Raum steht das 18-Fache der bisherigen Jahressumme, also etwa 11 Milliarden Euro – müssten die Bundesländer zahlen. Von deren Seite aber mehren sich die Stimmen, doch lieber bis auf Weiteres auf eine Ablösung zu verzichten, da diese die Länder überfordere, selbst wenn sie in Raten über zehn oder gar zwanzig Jahre gestreckt würden. Außerdem, so sagte es jüngst Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann, ein gläubiger Katholik, seien die Staatsleistungen doch „sehr gut angelegtes Geld“, und die Kirchen machten damit ja nicht Dinge, die auf „allgemeine Kritik“ stießen. Das mögen andere ganz anders sehen, zum Beispiel professionelle Kirchenkritiker wie die Giordano-Bruno-Stiftung. Aber die klammen Kassen der Länder könnten in der Tat die Ablösung der Staatsleistungen verunmöglichen.

Das wäre keine gute Nachricht, auch wenn sie die Landeskirchen und Bistümer, die besonders hohe Staatsleistungen bekommen, erstmal aufatmen ließe. Aber die Kirchen müssen ein großes Interesse daran haben, das Thema Staatsleistungen ad acta legen zu können, denn kirchenkritische und -feindliche Kreise kramen es bei jeder Gelegenheit hervor, um in der Öffentlichkeit Stimmung zu machen.

Was also tun? Sollten die Kirchen einfach großmütig einseitig verzichten, wie es Kirchenkritiker seit langer Zeit fordern? Sicher nicht, denn Recht muss Recht bleiben. Möglicherweise aber müssten sich die Kirchen beim Ab­lösungsfaktor und bei der Streckung noch beweglicher zeigen als bisher, um doch noch eine Lösung zu erreichen, damit sie nicht am Ende mit leeren Händen dastehen. Denn eins ist klar: Besser werden die Preise in diesen Zeiten bestimmt nicht. 

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Großzügiger Geist

Großzügiger Geist

Klartext
Foto: privat

Die Predigthilfe dieses Monats kommt von Traugott Schächtele. Er ist Prälat i.R. in Freiburg.

Klartext reden

Sonntag Rogate, 14. Mai

So ermahne ich nun, dass man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und  Ehrbarkeit. (1. Timotheus 2,1–2)

Die Beziehung zwischen dem Staat und den Kirchen ist immer von Interessen bestimmt. Von beiden Seiten. Und nicht erst heute. Die Fürbitte für die „Obrigkeit“ beschreibt in diesem Zusammenhang ein Reizthema. Gerade der Ukraine-Krieg führt das vor Augen. Da betet Kyrill, der russisch-orthodoxe Patriarch von Moskau, öffentlich für Wladimir Putin und dessen Kriegsziele. Die Opfer des Krieges finden in seinen Gebeten dagegen keinen Raum. Und so ist er bei den politischen Größen seines Landes wohlgelitten.

Das Gebet für die Obrigkeit ist schon im ersten Jahrhundert ein Thema in der Gemeinde eines theologisch versierten Briefschreibers, der sich in der Tradition des Apostels Paulus sieht. Und auch hier wird die Absicht klar benannt: Die Angehörigen seiner Gemeinde sollen ein „ruhiges und stilles Leben führen“ können. Schließlich konnten sich die ersten Christinnen und Christen nicht sicher sein, sondern mussten jederzeit mit Verfolgungen durch die Obrigkeit rechnen. So konnte es nicht schaden, den Herrschenden vorsorglich Loyalität zu bekunden.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Vermutlich sollten wir Mitmenschen, die politische Verantwortung tragen, eher mehr ins Gebet nehmen, als wir es persönlich und in unseren Gottesdiensten tun. Aber sie stehen uns – zumindest in unseren Breiten – nicht als Obrigkeit gegenüber, die wir zu fürchten hätten. Denn Macht ist ihnen – nur auf Zeit – vom Volk zugestanden. Und sie sind darauf angewiesen, dass Gott ihre Vorhaben gelingen lässt.

Wo immer in der Welt Christenmenschen ihre Loyalität gegenüber Machthabern zum Ausdruck bringen, damit sie in Ruhe gelassen werden, sagt das vor allem etwas über den unrechtmäßig ausgeübten Machtanspruch herrschender Cliquen aus. Will man sie ernstlich ins Gebet nehmen, müsste man zugleich vor Gott ihr Gebaren zur Sprache bringen – und gegebenenfalls das eigene Leben riskieren. Paulus hätte seinen Schüler womöglich darin unterstützt, für „Könige und für alle Obrigkeit“ zu beten. Aber im Wissen, dass wir Gott mehr zu gehorchen haben als den Menschen.

 

Widersprechen

Exaudi, 21. Mai

Und zu der Zeit, als der Knabe Samuel dem Herrn diente unter Eli, war des Herrn Wort selten, und es gab kaum noch Offenbarung. (1. Samuel 3,1)

Eigentlich scheint alles in Ordnung zu sein. Die Religion spielt ihre allseits geachtete Rolle, und ihre kundigen Vertreter sind hochangesehen. Und für theologischen Nachwuchs ist gesorgt. Doch hier wird nicht die Gegenwart beschrieben, sondern die Zeit vor 3 000 Jahren. Das Heiligtum steht in Silo. Und der Hüter mit allen priesterlichen Befugnissen ist Eli. Der junge Samuel befindet sich bei ihm in der besten theologischen Nachwuchsschmiede, die man ihm wünschen kann. Doch das Zwischenfazit lässt aufhorchen. Kaum noch ergeht ein Wort des Herrn. Göttliche Offenbarung ist ein rares Gut geworden!

Macht sich da Gottlosigkeit breit? Von außen sind solche Urteile schnell gesprochen. Und es gibt heute nicht wenige selbsternannte Gegenwartsdeuter, die das auch bei uns beklagen. Sicher, manches wäre einfacher, ließe sich klarer identifizieren, was ich nach Gottes Willen tun soll. Dann bestünde das Problem nur in der mangelnden Umsetzung.

Manchmal möchte ich die allzu sicher Glaubenden fast beneiden. Aber ich fühle mich wohler im Kreis derer, die um „des Herrn Wort“ ringen – und es manchmal dann auch finden. Und nicht selten dort, wo ich gar nicht damit gerechnet hätte. Und mit einer Botschaft, die mir eher als Zumutung erscheint denn als Bestätigung dessen, was ich ohnedies schon weiß. Was für eine Offenbarung, wenn mich plötzlich in meinem Ringen eine Ahnung davon befällt, wie Gott diese Welt gemeint hat. Plötzlich fällt es mir dann wie Schuppen von den Augen. Wir haben doch längst ein Wort des Herrn, das wir ins Leben zu ziehen versuchen: Wenn wir zum Beispiel dort Widerspruch einlegen, wo Menschen ihrer Würde beraubt werden. Wenn wir nicht verächtlich über die jungen Leute reden, denen die Zukunft der Erde so sehr unter den Nägeln brennt, dass sie zum Störfaktor und Sand im Getriebe des Immer-Weiter werden. Vielleicht sind ja sie die nachkommenden Geschwister des Propheten Samuel. Und haben für uns womöglich auch ein Wort des Herrn.

 

Erinnern

Pfingstsonntag, 28. Mai

Wir aber haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, damit wir wissen, was uns von Gott geschenkt ist. (1. Korinther 2,12)

An Pfingsten kommen wir um den Heiligen Geist nicht herum. Das Problem besteht aber darin, dass wir uns zu oft damit zufriedengeben, dass es nur an Pfingsten um den Geist geht, er uns aber sonst in Ruhe lassen möge.

Dabei macht Paulus klar: Grundsätzlich leben wir mitnichten geistlos. Aber es gibt eben nicht nur den einen Geist. Paulus reduziert die Alternativen auf eine einzige. Er unterscheidet den Geist der Welt und den Geist aus Gott. In Wahrheit liegen beide oft nah beieinander und scheinen so ähnlich zu sein, dass sie kaum voneinander zu trennen sind. Paulus liefert darum eine Faustregel: Der Geist aus Gott ist derjenige, der uns erkennen lässt, was wir Gott zu verdanken haben. Und unausgesprochen ließe sich folgern: Der Geist der Welt wäre dann derjenige, der auf meine Möglichkeiten baut.

Die Erfahrung lehrt mich, dass ich nicht umhinkomme, im Leben auf beide Geistvarianten zu setzen. Ich engagiere mich, als hinge alles von meinem Einsatz ab, und vertraue zugleich darauf, dass Gott diese Welt nicht aus der Hand gibt. Wie Gottes Geist sich dadurch auszeichnet, dass er mir geschenkt wird, so ist der Geist der Welt auf meine Eigeninitiative angewiesen. Während Gottes Geist eine Großzügigkeit zu eigen ist, die keine Stellen hinter dem Komma kennt, übt sich der Geist der Welt im Addieren und Vergleichen von Zahlenkolonnen.

Deshalb führt Pfingsten eher ein Mauerblümchendasein – im Kirchenjahr und in unseren Köpfen. Und genau deshalb wird die Zukunft der Religion in unserer Gesellschaft nicht zuletzt davon abhängen, ob wir uns mehr auf den Geist der Pfingsten einlassen. Denn das Wesentliche im Leben widerfährt uns als Geschenk. An diese Weisheit möchte ich erinnern – nicht nur an Pfingsten, sondern gerade dann, wenn anscheinend alles nur noch vom Geist der Welt abzuhängen scheint.

 

Spüren

Trinitatis, 4. Juni

Und ich hörte die Stimme des Herrn, wie er sprach: Wen soll ich senden? Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich, sende mich! (Jesaja 6,8)

Gott fragt und Jesaja antwortet. Natürlich mit einem klaren Ja. Kaum ein Menschenleben kommt ohne öffentlich zelebrierte Beauftragungen aus. Sie gehören zur Grundstruktur von Institutionen. Die Kirche bedient sich ihrer bei Trauung und Konfirmation und bei Amtseinführungen. Und auch Bundeskanzler und Ministerinnen beginnen ihr Amt mit einem öffentlichen Ja, einer Art religiöser Handlung auch dann, wenn das Ja ohne den Zusatz „mit Gottes Hilfe“ daherkommt.

Jesaja vermag Botschaften im Auftrag Gottes nur weitersagen, weil er sich in sein Amt berufen weiß. Dabei ist seinem Ja, das so selbstverständlich und ohne Zögern daherkommt, die Vorgeschichte nicht abzuspüren. Der Tempel ist erfüllt von der Gegenwart Gottes, sodass für Jesaja nichts anderes übrigbleibt, als nichtig zu spüren: „Weh mir, ich vergehe“ (Jesaja 6,5).

Der Berufungsakt ist dann nur der zweite Teil eines Doppelrituals. Zuerst wird mit dem glühenden Stück Kohle die Selbst-in-Frage-Stellung in die Gewissheit bleibender Bedeutsamkeit bei Gott verwandelt. Das eigene Zögern, das skrupulöse Ringen um die Rechtmäßigkeit des eigenen Tuns verwandelt sich in ein aus Demut gespeistes Bewusstsein der eigenen Würdigkeit, die anstehende Aufgabe zu übernehmen. Manchmal wünsche ich, dass der Seraph mit dem glühenden Stück Kohle am Eingang all jener Orte stünde, an denen Menschen in Gefahr stehen, sich mit ihrem Ja zu übernehmen. Mehr noch, damit sie spüren, dass sie einen Weg vor sich haben, den andere ihnen zumuten wie zutrauen. Dann würde das „Sende mich!“ zu dem Bekenntnis, eine neue Aufgabe mit großem Einsatz, aber auch „mit Gottes Hilfe“ zu übernehmen. An Trinitatis besteht die Gelegenheit, daran zu erinnern, dass Gott sich durch seine „Ent-Faltung“ auf einen Weg der Souveränität durch Verletzlichkeit begeben hat. Vor allem in der Menschwerdung.

 

Bedenken

1. Sonntag nach Trinitatis, 11. Juni

Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt,  den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht. Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass  der auch seinen Bruder liebe. (1. Johannes 4,20–21)

Wir alle leben in einer Blase, Englisch: Bubble, ja meist in mehreren zugleich. Und die eine hat mit der anderen oft nur wenig zu tun. Der Briefschreiber Johannes, dieser uns unbekannte Poet, der das Wort Liebe beinahe inflationär verwendet, legt energisch Widerspruch ein. Ich kann mich nicht in der einen Bubble als fromm in den Vordergrund spielen und meine Liebe zu Gott thematisieren und in der anderen als Menschenverächter die Maske fallen lassen.

Ich las über einen KZ-Schergen, er habe beim Frühstück mit der Familie die Herrnhuter Losungen gelesen, um danach seinem teuflischen Werk nachzugehen – ohne den inneren Widerspruch wahrzunehmen. Gegen so eine falsche Unterscheidung eines frommen Lebensraums von einem, in dem sich mein Alltag abspielt, legt Johannes energisch Widerspruch ein. Meine Sonntagsbubble wird zur Lüge, wenn die Werktagsbubble ihr nicht entspricht. Anders ausgedrückt: Meine Liebe zu Gott ist kein Akt, der unabhängig von meinem Verhältnis zu den Mitmenschen auch nur zu denken ist. Indem ich meine Schwestern und Brüder liebe, verwirklicht sich meine Gottesliebe. Die Werktagsbubble konstituiert meine Sonntagsbubble. Und erweist sie als wahr. Ober eben auch nicht.

Mein Umgang mit denen, die gemeinsam mit mir diese Erde bewohnen, in der Nähe oder Ferne, ist nichts anderes als ein Glaubensbekenntnis im Lebensvollzug. Deshalb ist der Gottesglaube für mich nicht anders zu denken als in geschwisterlicher Gemeinschaft. 

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