Reinhold Mokrosch
Dr. Reinhold Mokrosch ist Professor em. für Praktische Theologie an der Universität Osnabrück.
Dr. Reinhold Mokrosch ist Professor em. für Praktische Theologie an der Universität Osnabrück.
Johannes Lähnemann, Nestor der Interreligiösen Bildung im evangelischen Religionsunterricht, übernimmt in seinem in englischer Sprache verfassten Buch eine gewagte These: „No peace among nations without peace among religions! No peace among religions without dialogue among religions! And no dialogue among religions without interfaith education and peace education!“ Und das besonders in Krisenzeiten. Denn, so Lähnemann, das Potenzial religiöser Schöpfungs- und Friedensethiken wirke auch in gegensätzlichen Gesellschaften und Nationen versöhnend und friedenstiftend, sofern auch diese sich als Teile einer menschlichen Familie mit Gleichheit und Würde verstehen. Ihm liegt daran, die friedenserzieherischen Bemühungen der Religionen, an denen er selbst seit vielen Jahren beteiligt ist, auch im internationalen Raum bekannter zu machen.
Das exemplifiziert er zunächst an den Weltversammlungen der Organisation „Religions for Peace“ (RfP) von Kyoto (1970) bis Nairobi (1984): Die verschiedenen Religionen und Konfessionen hätten damals bekannt, dass jeder Mensch trotz seiner Andersheit und einmaligen Individualität ein gleichberechtigter Weltbürger sei, der alle anderen ebenfalls als gleichberechtigte Weltbürger anzuerkennen habe. Grundlage solcher schöpfungsgemäßen Solidarität seien die Friedenswerte „Gewaltfreiheit, Wahrhaftigkeit und Nächsten-, ja sogar Feindesliebe“ gewesen. – Und auch die ersten Nürnberger Foren (1982, 1985, 1988, 1991) hätten diese Weltbürger-Idee mit ihrer „Erziehung zu kultureller Begegnung“ produktiv weitergeführt. Durch pädagogische Begegnungsmethoden seien die damaligen Teilnehmer:innen in die Sinnmitte der anderen Religionen vorgedrungen. Und das sei auch Friedenserziehung gewesen. Die interreligiöse Erziehung hätte automatisch auch als Friedenserziehung gewirkt.
Für die folgenden dreißig Jahre (1990–2020) skizziert Lähnemann wiederum anhand der RfP-Weltversammlungen und der Nürnberger Foren die weitere Entwicklung von Interreligiöser und Friedenserziehung an Schulen, Hochschulen, Universitäten, in kirchlichen und anders religiösen Gemeinden, in der Erwachsenenbildung und in weiteren staatlichen Bildungseinrichtungen: Die säkulare Friedenspädagogik zum Beispiel habe, so skizziert er anschaulich, in dieser Zeit die Religion und die Religion habe die säkulare Friedenspädagogik entdeckt. Und: Friedenserziehung hätte sich von einer bloßen Erziehung zur Abrüstung auf eine Erziehung zum Klimaschutz, zur Beachtung von Menschenrechten und zur Einbeziehung von Spiritualität erweitert. Ferner: Religionsgemeinschaften hätten ihre Mitschuld an Gewalt und Krieg erkannt und bekannt.
Schließlich: In diesen dreißig Jahren habe sich eine globale Weltethik samt einer globalen Erziehung zur Weltethik entwickelt. Hans Küngs „Global Ethic Project“ durchzog sämtliche Debatten und Konzepte interreligiöser Ethik und interreligiöser Friedenserziehung. Der Streit wäre eskaliert: Vertreten Europäer, Afrikaner, Asiaten und Lateinamerikaner wirklich gleiche ethische Grundsätze zum Beispiel zu Fragen der Gewaltfreiheit, der Toleranz, der Menschenrechte und der Gleichheit aller Menschen? Lähnemann beschreibt diese Debatten sehr anschaulich. Dabei entdeckt er auch, wie sehr die Akzeptanz solcher globalen Weltethik abhängig war und ist von der Art, wie sie gelehrt und vertreten wird. Die Pädagogik der Weltethik wurde damals heiß diskutiert. Ja, es entstanden in dieser Zeit viele Religionsdidaktiken, welche Wahrheit und Toleranz einer Religion zusammenzubringen versuchten. Lähnemanns eigene Monografie Evangelische Erziehung in interreligiöser Perspektive stand damals an der Spitze dieser Didaktiken und verhalf dem Toleranzgedanken zum Durchbruch. Begegnung, Verständigung und Toleranz bestimmten damals das Miteinander der Religionen – eine Haltung, die heute für viele zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist.
Lähnemann erinnert die Leser und Leserinnen an das Aufkommen und die Entfaltung interreligiöser Pädagogik, insbesondere interreligiöser Friedenspädagogik in den vergangenen 45 Jahren. Eine großartige Leistung, denn Erinnerung schafft neue Aktivitäten auf dem erinnerten Gebiet. Deshalb sind alle Religionspädagoginnen und -pädagogen aufgefordert, den interreligiösen Dialog an die Spitze des Religionsunterrichts zu stellen, zumal es stimmt: „No peace among nations and religions without interfaith education“. Lähnemann sei Dank gesagt für diesen Rückblick.
Dr. Reinhold Mokrosch ist Professor em. für Praktische Theologie an der Universität Osnabrück.
"Viele Europäer haben aufgehört, sich für sich selbst zu interessieren.“ Die Diagnose des kulturkritischen Therapeuten Peter Sloterdijk ist hart: Gleichwie Odysseus sich im Mythos gegen den einäugigen Riesen Polyphem mit dem Namen „Niemand“ aus der lebensbedrohenden Affäre zieht, haben sich die Europäer „nach der von ihnen ausgelösten Sequenz, die man die ‚Weltgeschichte‘ nannte, listig in die Niemandsposition zurückgezogen … Während die mittleren Europäer zwischen Lissabon und Stettin sich zunehmend der Verniemandung überlassen, bilden ihre Feinde von Peking bis Ankara eine Polyphemische Internationale.“
Der politische und kulturelle Ehrgeiz der Nachkriegseuropäer sei zwar keineswegs erloschen, er beschränke sich aber darauf, „dafür zu sorgen, dass der Unterschied zwischen Politik und Verwaltung beziehungsweise Demokratie und Versorgungswesen sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt so verkleinert“ wie in der zweiten Jahrhunderthälfte. Fazit: „Allzu oft ist der Europäer von heute der Endverbraucher eines Komforts, von dessen Entstehungsbedingungen er nicht mehr den geringsten Begriff hat.“
In diesem Zustand einer verdrossenen Saturiertheit manifestiere sich die „Inkarnation der Undankbarkeit“ gegenüber der eigenen Geschichte. Diesem Geist der Selbstvergessenheit und Selbstbezichtigung will Sloterdijk durch die Erinnerung an entscheidende Etappen des Lebenslaufs dieses Kontinents, der seine Eigenschaften zu verlieren droht, aber „die Welt erfunden“ hat, entgegentreten. Das hat er durch eine Reihe von Vorlesungen getan, die er 2024 am Collège de France in Paris gehalten hat. Sie kann man nun mit intellektuellem Vergnügen und zu politisch-moralischer Ertüchtigung nachlesen.
Die Grundlagen, zu denen auch die Gegenkräfte und die entsprechenden Ambivalenzen gehören, entfaltet Sloterdijk in sieben „Lektionen“, die er in Anbetracht des unermesslichen historischen Stoffes und der ausgreifenden, metaphernsatten Gesten seines philosophischen Interpreten bescheiden als „Lesezeichen im Buch Europa“ bezeichnet. Vor der Kulisse des „Lateineuropa“ der Kirche und der Wissenschaft wird das große Panorama einer Kultur als „Lernzusammenhang“ entfaltet, in dem sich durch steigernde Rückkoppelung der Lernerfahrungen die Evolution des zivilisatorischen Prozesses vollzieht.
Die letzte „Lektion“ ist den zunehmenden Gegenstimmen, dem Hass gewidmet, mit dem das heutige Europa konfrontiert ist. Diese „Export- und Missionsumkehrungen“ sind Sloterdijk zufolge meist Antworten auf Europas zwiespältige Botschaften: „Es hatte vorgegeben, das Vornehmste zu verbreiten, was es mitzuteilen hatte – die Aufforderung zur Entgrenzung der Liebe …; hingegen hat es nicht selten das Niederträchtigste exportiert, was eine Kultur auf nahe und ferne Zeitgenossen übertragen kann: die gewalttätige Unterwerfung der Anderen unter das Regime der Exporteure.“
Immerhin: Der lange, ambivalente Prozess dieser Ausdehnung führte die Europäer zur Demokratie, als einer pragmatischen Lebensform der politischen Reife: „Das heutige Europa hat den Begriff der Zivilisation restlos ins Positive gewendet – mit der Nuance, dass diese nun nicht mehr mit den Attributen eines herrschsüchtig sterilen Greisenalters vorgestellt wird, sondern mit denen der erwachsenen Reife, ja, der ausgeruhten Mediokrität.“
Vor diesem Hintergrund findet Peter Sloterdijk zu einer moderat positiven Prognose: Europas Zukunft sei „so lange halbwegs außer Gefahr, wie es seinen Bürgern gelingt, sich auch angesichts multipler Krisen dem Sog der mythischen Lösungen zu widersetzen, wie nationalkonservative „Sammlungen“, fiktive „Brüderschaften“ und erlogene „Alternativen“ sie versprechen. Das aufgeklärte Europa sei jedenfalls „so lange am Leben, wie die schöpferischen Leidenschaften die des Ressentiments in Schach halten“.
Hans Norbert Janowski ist Pfarrer i. R. Er lebt in Esslingen.
Zu Recht wird die hierzulande noch wenig bekannte Waliserin Carys Davies im englischen Sprachraum längst als großartige Erzählerin gerühmt: Sie versteht es, mit wunderbarer Beobachtungsgabe einen Zauber zu entfalten, der es warm ums Herz werden lässt, auch wenn sie von rauen Verhältnissen erzählt. Ein klarer Tag ist eine Geschichte, die das Wesen der Liebe in seiner Tiefendimension ausleuchtet, ohne dass jemals große Worte darum gemacht werden.
Die Erzählung führt auf eine entlegene Shetlandinsel im 19. Jahrhundert. Hier lebt seit zwanzig Jahren nur noch ein einziger Bewohner: der Pächter Ivar, der nun auch vertrieben werden soll, weil der Landbesitzer die Insel ganz für die Schafzucht nutzen will. Darum kümmern soll sich John Fergusson, ein weltfremder Pfarrer, der sich gerade einer mittellosen Freikirche angeschlossen hat. Aus Geldnot hat er den zweifelhaften Auftrag angenommen, stürzt aber gleich nach seiner Ankunft auf der Insel von einer Klippe.
Ivar rettet und pflegt ihn, entdeckt, wie gut es tut, einen Mitmenschen zu haben. Die beiden müssen erst lernen, sich zu verständigen: Ivar findet mit John seine Sprache wieder, John entdeckt die Schönheit der besonderen Shetland-Wörter – und ein Leben jenseits puritanischer Frömmigkeit. Aber dann ist da auch noch Johns Frau, die kluge Mary …
Gerne könnte das Hörbuch noch stundenlang weitergehen. Der 1963 in der Schweiz geborene Schauspieler Stefan Merki trifft den Ton der Erzählerin Carys Davies in dieser ungekürzten Lesung genau: Von drei versehrten Menschen erzählt sie voll Empathie, ohne ihnen zu nahe zu treten.
Angelika Obert ist Pfarrerin im Ruhestand in Berlin. Sie war bis 2014 Rundfunk- und Fernsehbeauftragte der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz für den Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb).
Kakao ist bei den Rohstoffhändlern eine begehrte Ware geworden.
Wer den Text bloß einmal gehört hat, kann ihn kaum vergessen. Ich spreche von einer Urszene des Neuen Testaments: dem Zusammenprall zwischen der Weltmacht Rom und dem Wanderprediger Jesus. Es sind Wahrheitssekunden.
Pontius Pilatus will seinen schwer fassbaren Delinquenten überführen: „Bist du der König der Juden?“ Aber die verdächtige Existenz, die da vor ihm steht, macht es dem Präfekten nicht gerade einfach. Der Gefangene erklärt nämlich: Er sei gar kein weltlicher König. Aber Pilatus verspürt überhaupt keine Lust, sich in seiner ureigenen Umgebung, dem Prätorium, vorführen zu lassen; er will das letzte Wort behalten. Darum setzt er nach: „So bist du dennoch ein König?“ Darauf reagiert Jesus im Johannesevangelium mit einer klaren Aussage: „Du sagst es. Ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme“.
Für den Vertreter der damaligen Supermacht ist das ein ganz und gar ungeheuerlicher Anspruch – ein Mensch, der für die Wahrheit Zeugnis ablegt, einer, dessen Stimme wahrhaftig sein soll – deckungsgleich mit seiner ureigensten Existenz? Damit kann der ausgebuffte Politiker, der zwischen Machtgehabe und Ratlosigkeit schwankt, gar nichts anfangen. Aber seitdem schallt durch die Jahrhunderte der Satz aus Johannes 18,38: „Was ist Wahrheit?“ Und längst ist die Frage des römischen Statthalters zu einem geflügelten Wort geworden.
Vor etwa zwei Jahrzehnten bekam ich ein Büchlein des Philosophen Harry G. Frankfurt zum Geburtstag geschenkt. Das kleine Ding wurde von mir zuerst kaum beachtet. Dann verschwand es in einem großen Schrank. Vielleicht passierte das nicht ganz zufällig. Was auf dem Einband stand, behagte mir nicht sonderlich: ein Titel zum Fremdschämen oder Wegschauen. Dabei steht auf dem Cover nur ein einziges Wort. Das aber hat es in sich. Es ist der englische Kraftausdruck: BULLSHIT.
Ein Wörterbuch übersetzt das kurz und unappetitlich mit „Kuhscheiße“. Im übertragenen Sinn geht es um „Sprachmist“ oder gebildeter ausgedrückt: um verbalen Schwachsinn oder nichts als heiße Luft. Bullshit werde immer dann produziert, erklärt der amerikanische Sprachphilosoph, wenn einer am liebsten verschleiern möchte, ob er die Wahrheit sagt oder nicht. Nach Harry G. Frankfurt redet ein „Bullshitter“ einfach so völlig gleichgültig drauflos, ohne sich überhaupt um die Pilatus-Frage zu kümmern. „Lügen und Bluffen sind zwei Formen der verfälschenden Täuschung.
Das für das Wesen der Lüge wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist aber die Wahrheitswidrigkeit: Der Lügner ist seinem Wesen nach jemand, der bewusst etwas Falsches oder Unwahres behauptet. Auch für den Bluff ist es typisch, dass ein falscher Eindruck erzeugt wird. Doch anders als bei der schlichten Lüge geht es hier weniger um Falschheit als um Fälschung. Daher die größere Nähe des Bluffs zum Bullshit. Denn das Wesen des Bullshits liegt nicht darin, daß er falsch ist, sondern daß er gefälscht ist.“ Wer sich auf diese Weise mit „Sprachmist“ durchzumogeln versuche, so Frankfurt, „ist deutlich freier. Sein Blickfeld gleicht eher einem Panorama als einem Brennpunkt. Er beschränkt sich nicht darauf, an einer bestimmten Stelle eine Unwahrheit einzuführen … Er ist darauf vorbereitet, bei Bedarf auch den Kontext zu fälschen.“
Obwohl der analytische Philosoph sich bewusst auf eine nichtreligiöse, pragmatisch-nützliche Perspektive beschränkt, setzt er sich am Ende mit Augustinus und seiner Abhandlung Über die Lüge auseinander. Darin unterscheidet der spätantike Denker acht Arten der Lüge. Aber bloß die allerletzte Form, in der es um eine Lust und ein Vergnügen am Lügen geht, das zum menschlichen Habitus geworden ist, erscheint dem Theologen als „Lüge in Reinkultur“. „Jeder Mensch lügt gelegentlich“, kommentiert Harry G. Frankfurt, „aber es gibt nur wenige Menschen, die oft (oder gar immer) aus Lust an der Unwahrheit und der Täuschung lügen.“
Spannend, dass der Autor zunächst darauf beharrte, dass nicht die Lüge der eigentliche Feind der Wahrheit sei, sondern Bullshit. Erst in seinem späteren Essay Über die Wahrheit scheint Frankfurt sich der Position des Kirchenlehrers zu nähern, wenn er über die Produzenten von „Sprachmist“ – aktuell fallen mir zum Beispiel Donald Trump, J. D. Vance und Elon Musk ein – urteilt: „Vielmehr sind sie, und das ist das Wesentlichste, Schwindler und Blender, die den Versuch unternehmen, mit dem, was sie sagen, die Meinungen und Einstellungen ihrer Gesprächspartner zu manipulieren. In erster Linie interessiert sie daher die Frage, ob das, was sie sagen, die Wirkung hat, diese Manipulation herbeizuführen.“
Wahrheit lässt sich also niemals bloß von ihrer Nützlichkeit her bestimmen. Sie hat, wie das Johannesevangelium zeigt, eine existenzielle, auf Leben und Tod gehende Dimension – es geht um Wahrhaftigkeit in Person.
Dr. Thomas Brose ist Philosoph und Theologe. Er lebt in Berlin.
Die Predigthilfe dieses Monats kommt von Traugott Schächtele. Er ist Prälat i.R. in Freiburg/Breisgau.
Geistliche Nahrung
TRINITATIS, 15. JUNI
Zuletzt, Brüder und Schwestern, … haltet Frieden! So wird der Gott der Liebe mit euch sein … Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen! (2. Korinther 13,11–13)
Fast ein halbes Kirchenjahr lang werden die Sonntage „nach Trinitatis“ gezählt. Als Kind, das zum regelmäßigen Gottesdienstbesuch angehalten wurde, war das für mich eine große Herausforderung. Die lateinischen Namen der Sonntage der Passionszeit und nach Ostern habe ich geliebt, allen voran Quasimodogeniti. Aber der Sonntag Trinitatis und die vielen Sonntage danach – dieses Jahr sind es sogar „nur“ zwanzig – waren für mich eine einzige Leidenszeit. Ich war immer froh, als sie vorüber waren. Es lag wohl daran, dass sich meinem kindlichen Gemüt schon der Sinn des Sonntags Trinitatis nicht erschließen wollte.
Aber das Jubiläum des vor 1 700 Jahren verabschiedeten Nizänischen Glaubensbekenntnisses macht es lohnend, das Thema „Trinität“ neu in den Mittelpunkt zu stellen – anders gesagt, die Dreifaltigkeit Gottes denkend zu durchdringen und in Gottesdiensten zu feiern. Und die oben, in Vers 13, zitierte Grußformel aus der Feder des Paulus kann dabei Hilfestellung bieten, etwas vom Geheimnis der Trinität zu begreifen.
Der Apostel ist hier seiner Zeit einmal mehr gehörig voraus. Schließlich war in der Mitte des ersten Jahrhunderts von Trinität noch keine Rede. Und trotzdem formuliert Paulus schon ein kleines trinitarisches Bekenntnis. Als Kanzelgruß am Beginn einer Predigt wird dieser Gruß in vielen evangelischen Kirchen unzählige Male wiederholt. Und gesungen als Lied wird er immer wieder wie eine liturgische Abschlussformel verwendet. Für beides eignet sich der knappe, aber inhaltsschwere Satz gleichermaßen.
Paulus bindet unseren Glauben ein in ein Dreieck der Gottesbeziehung. Die eine Ecke markiert für ihn Jesus Christus, der uns aus Gnade – gratis! – neue Lebensmöglichkeiten eröffnet. Die zweite Ecke ist die der Liebe als Grundlage eines Verhaltens, das sich an Gottes Willen orientiert. Und die dritte Ecke beschreibt die neue Gemeinschaft, die vom Geist Gottes geprägt wird, der sogar einander Widerstrebendes zu neuer Einheit verbindet. Was beim ersten Hinhören formelhaft klingt, ist also eher eine glaubenspraktische Herausforderung. Und um sie zu verstehen und umzusetzen, reichen auch zwanzig oder mehr Sonntage nicht aus. Da braucht es schon 1 700 Jahre Nizänum oder gar ein zweitausendjähriges theologisches Ringen mit Paulus. Schließlich hat es sein Gruß an die Gemeinde von Korinth in sich. Denn er bietet nahrhaftes trinitarisches Schwarzbrot statt süßer theologischer Häppchen.
Über uns hinaus
1. SONNTAG NACH TRINITATIS, 22. JUNI
Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin; und sie sind’s, die von mir zeugen, aber ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet ... Ich kenne euch, dass ihr nicht Gottes Liebe in euch habt. Ich bin gekommen in meines Vaters Namen, und ihr nehmt mich nicht an. Wenn ein anderer kommen wird in seinem eigenen Namen, den werdet ihr annehmen. Wie könnt ihr glauben, die ihr Ehre voneinander annehmt, und die Ehre, die von dem alleinigen Gott ist, sucht ihr nicht? (Johannes 5,39–44)
An Eitelkeiten herrscht heute kein Mangel. So wird der eigene Name zum Programm, wenn Talkshows den Namen der Moderatorin tragen und wenn bei einer Partei die Gründerin schon im Parteinamen ihre Vormachtstellung sichern will. Ein anderer nennt Türme nach seinem Namen und lässt diesen auf rote Kappen drucken.
Namen sind Programm, bilden eine „Marke“, wie das heute heißt, wollen die Besonderheit ihres Trägers zum Ausdruck bringen, machen Werbung in eigener Sache. Und diese Strategie scheint aufzugehen. Damals wie heute. Jesu Kritik an den Namensgebern setzt genau hier an. Die Eigenwerbung wird von ihm kritisch hinterfragt, und er macht Werbung für einen Anderen. Jesus fungiert als Zeigefinger in Richtung Gott. Und das macht stutzig und lässt innehalten. Der, von dem wir sogar bekennen, er sei Gott, begnügt sich hier mit der Rolle des Hinweisgebers. Indem Jesus von Gott redet, redet er am Ende zwar auch von sich selbst, aber ganz anders als diejenigen, die ihre eigenen Namen als Erfolgsgarantie vor sich hertragen. Denn Gottes Gottsein weist über sich selbst hinaus, und ist immer auf den Menschen ausgerichtet. Oder noch größer gedacht: auf die ganze Schöpfung.
Die heftige Predigt Jesu gilt denen, die ihm wegen eines Wunders nach dem Leben trachten. Sie legt offen, woran es seinen Kritikern mangelt, nämlich an der Fähigkeit, von sich weg auf einen anderen zu verweisen. Das Zentrum ist also außerhalb der eigenen Selbstbezogenheit zu finden. Anders gesagt: Wie Narziss schaue zwar auch ich ins Wasser, aber ich sehe nicht mehr einfach nur mich in meinem Spiegelbild, sondern den, dessen Ebenbild ich bin.
Die christliche Gemeinde ist das Gegenteil eines Tummelplatzes für Narzissten. Eher ist sie ein Lernfeld für Menschen, in der Welt um sich herum die Gegenwart Gottes wahrzunehmen. Was der Jesus von Johannes 5 denen ins Stammbuch schreibt, die sich über ihn ärgern, ist fast so etwas wie ein Ratgeber in himmlischer Psychologie. Und von dieser Psychologie profitiere auch ich – bis heute.
Bleibende Hoffnung
2. SONNTAG NACH TRINITATIS, 29. Juni
Wohlan, alle, die ihr durstig seid, kommt her zum Wasser! Und die ihr kein Geld habt, kommt her, kauft und esst! Kommt her und kauft ohne Geld und umsonst Wein und Milch! Warum zählt ihr Geld dar für das, was kein Brot ist, und euren sauren Verdienst für das, was nicht satt macht? Hört doch auf mich, so werdet ihr Gutes essen und euch am Köstlichen laben. (Jesaja 55,1–2)
Ich will damit gar nicht hinter dem Berg halten: Diese Sätze gehören für mich zu den schönsten der Bibel. Sie kommen mir immer wieder in den Sinn, wenn ich mit meiner Enkelin Kaufladen spiele. Zuerst erfüllt sie alle meine Kaufwünsche. Aber danach händigt sie mir immer gleich das Spielgeld aus, damit ich meinen Einkauf auch bezahlen kann. Am Ende habe ich dann alles, was ich brauche. Und es hat mich nichts gekostet. Doch was im Spiel funktioniert, muss im Leben scheitern. Oder?
In Jesaja 55 wird Gott als Kaufmann beschrieben, der alles im Angebot hat, was ich zum Leben brauche. Und dennoch muss ich für die Kosten nicht aufkommen.
Ich frage mich: Wovon kann ich wirklich leben? Das, was ich auf Heller und Pfennig abrechnen kann, scheint nicht das zu sein, was mich wirklich satt macht und was mich leben lässt. Es sichert zwar meinen Lebensunterhalt. Und das, gesundes Essen und sauberes Wasser, ist zunächst einmal – gerade angesichts der weltweiten Hungersnöte – nicht hoch genug einzuschätzen. Aber der Kaufmann in göttlichem Auftrag will noch weit mehr: Ihm geht es darum, mir ein Leben in Würde zu ermöglichen. Er will mir etwas zu kosten geben, das meine Lebenssehnsucht stillt.
Was der Prophet die „Gnaden Davids“ nennt, meint eine Nahrung, deren Nährwert Bestand hat, geistliche Kost ohne Verfallsdatum. Mit meinen bescheidenen Mitteln könnte ich mir diese gar nicht leisten. Kein Wunder, dass Gott sie mir aus seinen Quellen zur Verfügung stellen will.
Der unerfüllbare Traum eines kommunistischen Endzustandes auf Erden ist schon an den irdischen Gütern gescheitert. Aber mir bleibt zu hoffen, dass der paradiesische Traum des Propheten meine Zukunftsbilder beflügelt. Essen und Trinken für alle, so viel wie nötig ist, Nahrung für die Seele, die mich leben lässt. Dazu eine Welt, die so aussieht, wie Gott sie haben will. Und die vor keinen Grenzen irdischer Machbarkeit des Guten Halt macht. Wie gut, dass die Macht derer, die in der Welt gegenwärtig so viel bewirken, schneller am Ende ist, als sie meinen.
Ignoriertes Wissen
3. SONNTAG NACH TRINITATIS, 6. JULI
Ich danke unserm Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt, mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war; aber mir ist Barmherzigkeit widerfahren, denn ich habe es unwissend getan, im Unglauben. Es ist aber desto reicher geworden die Gnade unseres Herrn samt dem Glauben und der Liebe, die in Christus Jesus ist. (Timotheus 1,12–14)
Die Kunst, unseren Kopf rechtzeitig aus der Schlinge zu ziehen, beherrschen wir meist ganz gut. Von Paulus lernen, hieße hier also, von seiner Raffinesse zu lernen, wie es erfolgreich gehen kann, Verantwortung einfach wegzuschieben: „Ich habe unwissend und im Unglauben gehandelt“ – bin also nicht verantwortlich und nicht haftbar zu machen. Wie gut, denke ich, dass dieser Brief zwar mit dem Anspruch geschrieben wurde, dass Paulus die Feder geführt hat, aber das Schreiben hat eben doch einen anderen Autor, einen, der sich nur auf die Autorität des großen Paulus beruft.
Paulus selbst hat der Gemeinde in Rom zu diesem Thema deutliche Worte ins Stammbuch geschrieben. „Niemand von uns kann sich herausstehlen. Wir haben uns vor Gott alle ins Abseits begeben. Und wir sind alle darauf angewiesen, dass Gott uns von sich aus erneut die Türen zu seiner Gegenwart öffnet.“
Aber womöglich ist mir der Schreiber des Briefes an Timotheus deshalb so nah, weil er praktiziert, was bis heute gängige Praxis ist, nämlich sich selbst wegen vermeintlicher Unwissenheit zu entschuldigen. Dabei wissen wir viel mehr, als jede Generation vor uns sich hätte vorstellen können. Wir wissen, wie es um die Welt um uns herum bestellt ist. Wir wissen, wie Hunger entsteht und wie man Kriege beenden kann. Und doch ziehen wir aus diesem Wissen nicht den Gewinn, die Welt auf einen besseren Weg zu bringen.
Zu handeln, als ob es dieses Wissen nicht gäbe, ist eine Form des Unglaubens. Und zumindest diesen Zusammenhang können wir vom Schreiber des Briefes an Timotheus lernen. „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“ (Lateinisch: ignorantia legis non excusat) besagt ein Rechtsgrundsatz, der als Sprichwort in die Alltagssprache eingegangen ist. Und Unglaube lässt sich genauso wenig rechtfertigen wie Unwissenheit. Daher ergibt es allemal einen Sinn, auf die Gnade Gottes zu vertrauen, egal, ob wir im Unwissen oder Wissen handeln. Und bei dieser Einsicht wäre auch Paulus ohne Einschränkung mit dabei.
Traugott Schächtele ist Prälat i.R. in Freiburg i.Br..
Lebensgroße Avatare historischer Menschen des Bauernkriegs, acht an der Zahl, sprechen und agieren auf Leinwänden zu den Besuchern der Großen Landesausstellung von Baden-Württemberg ü
Als Thomas Mann (1875–1955) wie ein Komet am literarischen Himmel aufgestiegen ist, wird er einer der schärfsten Diagnostiker des Verfalls des Christentums als gesellscha
Tabea Ott ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Systematische Theologie II der Universität Erlangen-Nürnberg.