Verzicht erklärt

Verzicht erklärt

Anwalt der radikalen Hoffnung

Zum semantischen Grundeinkommen zählte der Begriff Verzicht in der Spätmoderne lange nicht, machte auf dem weiten Feld grüner Politik einen kräftig misslungenen Neustartversuch, hat seitdem Auftrittsverbot und taucht im Mundraum kaum auf. Verzicht? Das Wort bitte nicht. Das soll sich definitiv ändern, denn Jean-Pierre Wils will’s ganz entschieden „aus der Schmuddelecke unseres Vokabulars“ hervorholen, adrett reinigen und gesellschafts- und mehrheitsfähig machen, um in Zeiten von wackeligen Stapelkrisen sprachfähig zu werden und Hoffnung zu stiften – Hoffnung, nicht billigen Optimismus. „Optimismus grenzt nicht selten an Realitätsverweigerung. Hoffnung dagegen ist eine moralische Haltung, die nicht nur an die Veränderbarkeit der Wirklichkeit glaubt, sondern diese Veränderung auch unter schwierigen Umständen in Angriff nimmt.“

Der Essay arbeitet metaphernsatt und stilsicher zunächst und zumeist daran, die Realitätsverweigerung schonungslos aufzuarbeiten, damit Hoffnung Raum greifen kann. Das nimmt sehr zurecht im Essay großen Platz ein. Wils arbeitet mit Krankheitsbildern: Er attestiert Adipositas oder „übergewichtiges Leben“ einerseits und eine „magersüchtige Freiheit“ andererseits. Der Titel macht es schlagend deutlich: „Radikale Hoffnung“ gibt es nur, wenn Verzicht und Freiheit verjocht werden. Als Warnung steht der von Hans Jonas schon vor Jahrzehnten ergangene Ruf nach einer sanften Ökodiktatur mit großen Lettern im Raum. Diese Gefahr muss vermieden werden. In einem zentralen Kapitel werden deshalb zunächst Fehldeutungen der Freiheit diskutiert: der Negativismus der Freiheit, der Naturalismus der Freiheit, die absolutistische Deutung der Freiheit. „Ein reichhaltiger Begriff von Freiheit wird deshalb mit Gleichheits- und Gerechtigkeitsannahmen ausgestattet werden müssen.“

Wils geht im Text viele Patenschaften ein und webt Freundschaftsbünde. Immer wieder taucht der Soziologe Hartmut Rosa auf, der sein Opus Magnum Resonanz als Antwort auf die Verschnellungs- und Steigerungsforderungen des modernen Kapitalismus entworfen hat. Auch Wils geht es wie Rosa um ein „steigerungsunabhängiges Leben“, auch er ist ein Anhänger der Verlangsamung. Ein zweiter im Bunde ist Otfried Höffe, der in seinem Essay Die hohe Kunst des Verzichts eine Kartographie von Verzichtsmustern erstellt, reichend vom Verzicht auf Willkürfreiheit durch politische Vertragstheorien, die Stabilität und Gemeinwohl versprechen, über temperierende Muster von Tugendethik bis hin zum Verzicht auf Panikmache, der die Rede von einer drohenden Apokalypse abpuffert. Als Dritter taucht das Stundenbuch des Romanautors und Dramatikers von John von Düffel auf: Das Wenige und das Wesentliche.

Markant auch, wie Wils die temporale Metaphorik – Sein und Zeit – zu einer spatialen Metaphorik – Sein und Raum – umbaut, im Duktus von Wils gesagt: Überlebensräume der Zukunft. Nicht zufällig plädiert Wils für eine Wiederbelebung der Almende (wie auch Höffe) und die Rücknahme der Privatisierung öffentlicher Güter wie etwa „Wohnen, Bildung, medizinische Versorgung und Pflege, Energie- und Wasserversorgung, nicht zuletzt ein bewohnbares Klima“.

Eine nachhaltige Revitalisierung des Verzichtsbegriffs wird künftig nur dann gelingen, wenn mit Verzicht auch positive subjektive Erfahrungen gemacht werden, die emotional spürbar freudig stimmen, die uns berühren und in die Weite führen. Der emotional turn und der body turn bieten sich als Theoriemodule an. Sodann: Empirische Bildungsforschung zeigt, dass Narrationen und daraus abgeleitete Narrative sowohl Bildung als auch Praxen befördern. Welches Großnarrativ, welches Universal, welche Erzählung kann zum Verzicht stimulieren?

Wils-Leserinnen und -Leser warten auf eine Antwort im nächsten Essay.

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Foto: Privat

Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.

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Schweigen

Schweigen

Eine Familiengeschichte

Die eigene Familiengeschichte zu ergründen hat gegenwärtig auch hierzulande Konjunktur. Hape Kerkeling erforscht seine Ahnentafel, Caroline Peters verarbeitet die Geschichte ihrer Mutter, Annette Hildebrandt die ihrer Vorfahren in einem Roman, Anne Rabe und Ines Geipel Gewalterfahrungen in ihren Elternhäusern. Seitdem immer mehr klar wird, wie sehr die eigene Familie das soziale und auch politische Verhalten prägt, wächst das Interesse an solchen Darstellungen. Sibylle Plogstedt kannte ich bisher nur von der Schilderung ihrer politischen Haft in Prag 1969–1971, die sie als Westberliner Achtundsechziger erleben musste – eindrucksvoll beschrieben in Im Netz der Gedichte.

Mit dem reichlich sperrigen Untertitel „Vom Entdecken meiner unbekannten Großfamilie zwischen Riga, Königsberg, Prag und Berlin“ nimmt die 1945 in Berlin geborene Plogstedt geborene Gentzen die Leserschaft auf eine Reise mit, die bis nach Australien, in die USA und das 18. Jahrhundert führt. Allein das Register der erforschten Familie der Autorin umfasst zehn Seiten. Zwei Fotos und ein Briefkopf stehen am Anfang ihrer Erkundung: Als Erstes das Foto ihres Vaters Walter Fenske, das sie mit sechs Jahren entdeckte, dessen Geschichte sie aber erst Jahrzehnte später erfährt.

Im Mittelpunkt steht die Mutter Ilse Gentzen, verheiratete Plogstedt, die bis zu ihrem Tod im Jahre 2001 ihrer einzigen Tochter wesentliche Fragen nach ihrer Tätigkeit als Chefsekretärin hochrangiger SS- und Polizeigrößen in Bromberg und Riga mit Schweigen beantwortet hat (Schweigen statt Lügen?) – oder mit geheimnisvollen und unheimlichen Sätzen wie „Dann wäre alles nicht nötig gewesen." Beschwiegen werden in der Familie auch Schicksale von so genannten Tunichtguten, die nach Amerika auswandern müssen oder im Osten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg unterkommen.

Auch die Rolle des Großvaters Felix Gentzen während der Nazizeit lässt letztlich Fragen offen. So wie die rausgerissenen Bilder des SS-Mannes Werner Ostendorff aus Königsberg, wo die Gullydeckel noch die beste Orientierung über das alte Königsberg geben. Anschaulich schildert die Autorin ihre Kindheit in Berlin; als gelernte Soziologin vermittelt sie nicht nur hier überzeugend Bilder sozialer Verhältnisse in der Nachkriegszeit. Auch wenn sie über den wirtschaftlichen Aufstieg anderer Familienmitglieder vorderer Zeiten erzählt, etwa der Familie Wispler (Vorfahren der Großmutter Sophie) im Westen Deutschlands im 19. Jahrhundert, kann klar werden, woher Wirtschaftskraft über Generationen hinweg wachsen kann. Hier spielte übrigens das oben erwähnte zweite Foto eine große Rolle bei der Entschlüsselung, ebenso wie der oben genannte Briefkopf. Mit den Orten rücken uns auch die Zeiten näher: 2014 fährt Plogstedt mit einer Verwandten nach Riga und erinnert an den 23. August 1989, an dem zum 50-jährigen Jubiläum des unseligen Hitler-Stalin-Paktes mit einer Menschenkette durch das Baltikum diese ihren Freiheitswillen zum Ausdruck bringen.

Bei so einer breiten Familienaufstellung wundert es nicht, dass auch noch ein Stasi-IM auftaucht: Werner Ostendorff, ein Verwandter der Autorin in der DDR, der über die junge Sibylle in den 1960er-Jahren dem MfS wertvolle Hinweise gibt, bevor sie in Prag gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Petr Uhl verhaftet wird. Immerhin hat ihre Mutter ihr mit auf den Weg gegeben, nie mit einem Geheimdienst zusammenarbeiten zu sollen, so dass Sibylle allen Anwerbungsversuchen der Stasi widerstanden hat.

In die Bestsellerlisten wird dieses Buch vielleicht nicht gelangen, verdient hätte es das aber schon allein wegen der seelischen Anstrengung der Autorin, die Abgründe ihrer Familie zu erforschen und trotzdem am Ende „Zufriedenheit“ zu empfinden. „Du weißt viel mehr als alle anderen“, sagte ihr am Anfang der Recherche eine Psychotherapeutin. An diesem Wissen Anteil haben zu können, lässt auch zufriedene Leser zurück.

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Überzeugend

Überzeugend

Öffentliche Diskurskultur

Die drei Stichworte Emotionalisierung – Moralisierung – Radikalisierung im Titel versprechen eine spannende Analyse unserer Gegenwartskultur. Und der auf eine vom Herausgeber initiierte Tagung zurückgehende Band enttäuscht entsprechende Erwartungen keineswegs; er ist im Gegenteil geeignet, sie noch zu übertreffen.

Neun Autoren und eine Autorin liefern hier wissenschaftlich fundierte und doch weithin verständlich geschriebene Beiträge, die jeweils auf ihre Weise die Ursachen für die schwierigen Prozesse zunehmender Spaltung und narzisstischer Überhebung in unserer Gesellschaft sorgfältig erhellen. Sie zeigen nicht nur die Brisanz der derzeitigen Gesamtentwicklung auf, sondern liefern mitunter auch konstruktive Ansätze zur Differenzierung und zur Korrektur ideologischer Fehlentwicklungen. Aufschlussreich und gründlich geht der Systematische Theologe Alexander Dietz einleitend auf die Grundbegriffe im Buchtitel und ihre inneren Zusammenhänge ein. Sein Überblicksbeitrag beleuchtet „aktuelle Fehlentwicklungen in Gesellschaft und Wissenschaft im Allgemeinen und in Kirche und Theologie im Besonderen“. Dass in der öffentlichen Kommunikation Meinungsunterschiede zunehmend emotional codiert und begrifflich inflationär aufgeladen werden, führt demnach immer öfter zu Verteufelungen Andersdenkender und beschleunigt die Demokratiekrise. Die Emotionalisierung der Diskurskultur münde in einen Absolutismus des Gefühls, der im Widerspruch zu allem stehe, was Wissenschaft ausmache: „Allzu sorglos werden Wahrheitsansprüche aller Art als vermeintliche Herrschaftsinstrumente ‚alter weißer Männer‘ dekonstruiert, so dass sich auch eine Unterscheidung zwischen besseren und schlechteren Argumenten letztlich erübrigt.“ Es komme zu Cancel Culture und zur „Generation Beleidigt“. Die betroffene Theologie aber könne „niemals auf den Anspruch rationaler, intersubjektiver Argumentation, Argumentprüfung und Wahrheitssuche verzichten“, zumal die Vernunft als göttliche Schöpfungsgabe grundsätzlich ihr Recht behalten müsse. Eine ideologiekritische Theologie sei gerade in Zeiten emotionalisierender Gegenaufklärung besonders notwendig.

Der Kirche von heute wirft Dietz vor: „Anstatt die – nun gnadenlos gewordene – säkulare Moralisierung zu transzendieren, übernimmt die gegenwärtige Kirche diese und radikalisiert sie sogar noch.“ Wird dadurch nicht ihre Botschaft verschleiert, ja konterkariert? „Moralisierung bedeutet theologisch, dass das Gesetz zum Evangelium gemacht wird“ – inwieweit hält heutige Kirche dieser kritischen Einsicht stand? Fällt nicht Christus-Verkündigung auf den Kanzeln so oft aus, weil Evangelium durchs Gesetz ersetzt ist? Und inwiefern haben spaltende Momente in der Kirche Aufwind in geistloser Entsprechung zu gesellschaftspolitischen Spaltungsvorgängen? Unter Bezugnahme auf Dietrich Bonhoeffer und dessen Unterscheidung von Letztem und Vorletztem moniert Dietz soziokulturell zu diagnostizierende Radikalisierungen: „Die Möglichkeiten des Menschen werden überschätzt, weil die Macht der Sünde nicht ernst genug genommen wird.“

Wolfgang Sander beleuchtet die „Wokeness-Bewegung als Herausforderung für Gesellschaft, Politik und Kirche“, um sie schließlich überzeugend in eine Kette von Quasi-Religionen einzuordnen. Dietz Lange thematisiert eingehend das Verhältnis von Leidenschaft und Rationalität in seiner Bedeutung für theologische und kirchliche Kommunikation. Neben sonstigen, hier nicht weiter aufzuzählenden Beiträgen sei wenigstens noch auf ein besonderes „Schmankerl“ am Ende des Buches hingewiesen: Die Theologin Jantine Nierop kritisiert ebenso sachlich wie heftig und dabei theologisch einleuchtend Hanna Reichels Behauptung einer Analogie zwischen dem frühen Karl Barth und dem Queertheoretiker Lee Edelmann, um schließlich zu mahnen: „Auch substanzlose Theologie geschieht nicht im luftleeren Raum und hat Folgen im realen Leben.“

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Werner Thiede

Pfarrer i.R. Dr. Werner Thiede ist apl. Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg und Publizist. 

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Facettenreich

Facettenreich

Gender und Diversität

Der die Beiträge einer internationalen Fachtagung und Aktivitäten des Münsteraner DFG-Forschungsprojekts bündelnde Sammelband Queer im Pfarrhaus bietet grundlegende diskussions- und forschungsanregende Einblicke in Queersein und Kirche. Den herausgebenden Projektleiter:innen Katrin Burja und Traugott Roser ist es mehr als gelungen, das Thema von deutschsprachigen und internationalen Expert:innen in 15 Aufsätzen beleuchten zu lassen. Durch sechs abgedruckte geistliche Impulse unter anderen der im Projekt angestellten wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeiter:innen wird auch das Tagungsmiteinander für Leser:innen des Bandes greifbar.

Zwei verschiedentlich behandelte Aspekte, die diesen umfassenden Band durchziehen, möchte ich fokussieren: zum einen die queer-bezogene Pastoraltheologie im (praktisch-)theologischen Fächerkanon und zum anderen „Pastoralmacht“ und Machtbewusstsein.

Pastoraltheologie erweist sich als Prisma praktisch-theologischer und theologischer Debatten. Bereits in der Einleitung wird Poimenik als „Fluchtpunkt“ der Pastoraltheologie eingeführt. Authentizitätsanforderungen, wie sie vor allem in der Homiletik diskutiert werden (Katrin Burja), beträfen queere Pfarrpersonen insbesondere dadurch, dass sie nicht der (unreflektierten) Heteronormativität entsprächen, wodurch jede ihrer Äußerungen über ihr Queersein Gefahr laufe, Anlass einer „Verschiebung zum hegemonialen Diskurs“ (Florence Häneke) zu werden. Hinsichtlich Kasualien stellt Theodor Adam Transitionsgottesdienste vor und bedenkt sie liturgisch. Zur Entwicklung von Queer-Gottesdiensten zeichnet Jonas Trochemowitz (kirchen-)historische Entwicklungen wie grundsätzliche Verständnisse nach – Queer-Gottesdienst als Gottesdienst: von queeren Menschen, für queere Menschen, über queere Themen, in queerer Liturgie. Dass „Individualisierung, Pluralisierung und Säkularisierung nicht nur in ihrem [der Pfarrperson] sozialen Umfeld – quasi bei ihrem Gegenüber – in Seelsorge und Kommunikation, sondern auch [sie] selbst davon betroffen sind“ (Isolde Karle), weist auf die Verbindung pastoraltheologischer, religionssoziologischer und kirchentheoretischer Überlegungen hin. Pastoraltheologie habe zudem eine Brückenfunktion zwischen Theologischer Ethik und Praktischer Theologie, wie Traugott Roser mit Verweis auf Christian Palmer festhält. Oft scheint auch die biblische Hermeneutik (Christopher Swift) hinsichtlich Queersein zentral zu sein.

In Michel Foucaults „Pastoralmacht“ führen Elis Eichener und Traugott Roser ein. Zwar handele es sich dabei um ein von Foucault historisch ermitteltes Phänomen (Traugott Roser), das jedoch auch in EKD-Schriften Ausdruck fand, die (queere) Sexualität als Krankheit und zu „bewältigenden“ Seelsorgeanlass festhielten (Elis Eichener). Auf autobiografische, erschreckend eindrückliche Weise führt Annette Gernberg (Pseudonym) Auswirkungen trans*phoben Christ:innentums auf sie aus. Gegen eine stupide Reproduktion von Heteronormativität entwirft Peter Bubmann Maßnahmen für die Hochschullehre. Mara Klein ermittelt Potenziale queerer Gegennarrative gegen das binär denkende katholische Lehramt. Das Versagen und Verschleiern auch evangelischer Kirchenleitungen kritisieren unter anderen Isolde Karle und Thomas Zippert. Die beeindruckende Glaubensgewissheit der Gotteskindschaft, die in bearbeiteten und berichteten autobiografischen Zeugnissen aufscheint, drängt – und damit schließt sich der Kreis zum ersten Punkt – zu theologischer Anthropologie, die Queersein inkludiert. Für pastorale Praxis, praktisch-theologische Reflexion als auch theologisches Denken insgesamt bietet dieser facettenreiche Band umfassende und weitreichende Impulse.

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Foto: Heike Roessing

Carlotta Israel

Carlotta Israel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität München.

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Hinterbühnen

Hinterbühnen

Seelsorge im Gefängnis

Mit ihrer Dissertation bereichert Katharina Scholl den Diskurs zur Gefängnisseelsorge in doppelter Richtung. Einerseits beobachtet und beschreibt sie – im vierten Kapitel – sehr detailreich, wie der Andachtsraum eines Frankfurter Gefängnisses sich in dieses Gebäude einfügt und zugleich aber von ihm unterscheidet, wie dort Gottesdienst gefeiert wird und vor allem, wie die Gefangenen sich diesen Raum sehr individuell und mikro-kreativ aneignen. Die Männer nutzen den Vorraum, um sich vor und nach der Feier relativ unbeaufsichtigt auszutauschen; sie überreichen die Rosen, die die Seelsorgerin ihnen nach dem Gottesdienst aushändigt, der beobachtend teilnehmenden Forscherin; und viele verweilen, fast andachtsartig, für einige Momente vor dem bodentiefen, unvergitterten Fenster des Andachtsraumes.

Mit solchen Detailansichten kann Scholl zeigen: Seelsorge im Gefängnis wirkt nicht allein durch das personale Medium der Seelsorger:innen, auch nicht allein durch Gottesdienst und Gesprächsangebote, sondern zugleich und sehr nachhaltig durch ihre räumliche Praxis: Sie bietet kleine Freiräume, eröffnet schützende Hinterbühnen und schafft eine „Heterotopie zweiter Ordnung“ (Michel Foucault), die die kontrollierende Macht der Institution punktuell-subversiv unterwandert. Eben auf diese Weise bewahrt der religiöse Raum, den die Seelsorge im Gefängnis bietet, diese Institution selbst – so vermutet Scholl – vor totalitären, selbstzerstörerischen Tendenzen.

Diese höchst anregenden Untersuchungen, die – mutatis mutandis – auch für die Seelsorge etwa beim Militär oder im Krankenhaus fruchtbar sein dürften, rahmt Scholl in den ersten drei Kapiteln durch theoretische Ausführungen, die die Praktische Theologie der Gefängnisseelsorge in anderer, vor allem raum- und interaktionssoziologischer Hinsicht erweitern. Eine erste Reflexion gilt dem gesellschaftlichen Diskurs über Kriminalität und Gefängnis, den Scholl – vor allem mit Michel Foucault – durchsichtig macht auf seine räumlichen Implikationen: Im Gefängnis wird gesellschaftliche Verunsicherung durch soziale und bauliche Exklusion des Verbrechens bearbeitet. Sodann zeigt Scholl im historischen Durchgang, wie die wechselnden Ziele des Strafvollzugs durch die jeweilige Gefängnisarchitektur realisiert werden sollten, aber auch konterkariert wurden.

In einem weiteren, besonders detailreichen Kapitel werden Erving Goffmans Untersuchungen zum Rollenhandeln und zur Rollendistanz im Gefängnis durch eigene Beobachtungen vertieft. Dabei interessiert Scholl sich vor allem – praktisch-theologisch ganz im Trend – für die körperlichen Praktiken, mit denen im Gefängnis Kontrolle ausgeübt und zugleich immer wieder Freiräume erkämpft werden. Zu dieser „Widerstandskultur“ gehören etwa zahlreiche Tätowierungen oder ein ausgeprägter, oft gewitzter Jargon, der die entwürdigenden Vollzüge ertragen hilft. Dabei macht Scholl immer wieder deutlich, wie bedeutsam seelsorgliche Räume und Praktiken in der „totalen Institution“ (Erving Goffman) zu sein vermögen.

In diesen Theoriekapiteln zeigt sich die Autorin als vielseitig interessiert, sehr belesen und wissenschaftlich innovativ. Sie stellt höchst anregende Überlegungen für eine (Praktische) Theologie des Raumes zur Verfügung, die für viele andere, nicht nur kirchliche Handlungsfelder anschlussfähig sind.

Mitunter hat sich die Autorin von ihrer Lese- und Argumentationslust vielleicht zu sehr fortreißen lassen – dann begegnen zwei oder drei Seiten ohne jeden Absatz und mit so viel Gedanken, dass die Orientierung verloren geht. Aber wer sich von Scholl in die Hinter- und Vorderbühnen der Seelsorge im Gefängnis führen lässt, wird mit vielen überraschenden Aussichten belohnt.

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Angesagt

Angesagt

Kirche und Diakonie

Der provokante Titel Kirche ohne Mitglieder verrät sogleich, dass es die Herausgeber nicht ganz ernst mit der Frage meinen. Sie wissen, dass christliche Kirche in der Koexistenz der Glaubenden und von der Koexistenz mit Gott lebt. Eine Kirche ohne Mitglieder ist ein Oxymoron, ein „schwarzer Schimmel“ (Wilfried Härle). Doch wenn in Zeiten rapide abnehmender Kirchenbindung dennoch der Mitgliedschaft so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, muss das Gründe haben.

Diesen Gründen wenden sich die meisten von Theologinnen und Juristinnen verfassten Aufsätze in diesem Buch zu und erörtern die Kirchenmitgliedschaft auf einem Feld kirchlicher Wesensäußerung: der Diakonie. Auf diesem Feld sollen und wollen sich Christen bewegen, weil sie mit Martin Luther „… in der allgemeinen Gesellschaft leben sollten, auf dass [ihre]Werke und Übungen des Glaubens unter den Menschen kund würden“.

Die Werke, die hier kund werden sollen, sind nun nicht etwa solche, die den Menschen vor Gott rechtfertigen würden, sondern Werke der Dankbarkeit und Liebe gegen Gott und der Liebe zu den Mitmenschen. Zu diesen Liebesbezeugungen im Alltag der Welt sehen sich die Christen durch ihre Heilige Schrift berufen (Eilert Herms).

In der Wahrnehmung ihres diakonischen Auftrags befinden sich die Christen in Deutschland inzwischen in einem Sozialstaat und nehmen auch institutionell den Dienst am Nächsten nach dem Grundsatz der Subsidiarität für den Staat wahr. Um die diakonischen Institutionen ihrer geistlichen Intention gemäß und erfolgreich betreiben zu können, gerät die Kirche in die Schwierigkeit, ihren Dienst im bisherigen Umfang und bei wachsendem gesellschaftlichem Bedarf noch weiter erfüllen zu können.

Wenn sich gegenwärtig die Kirche zunehmend der Tatsache ausgesetzt sieht, dass sie auf die Mitarbeit von Bürgerinnen und Bürgern angewiesen ist, die ihre geistlichen Voraussetzungen nicht teilen, dann ist die Mitgliederfrage als Mitarbeiterfrage gestellt. Der Staat, der das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen schützen muss, sieht sich inzwischen auch durch die europäische Rechtssprechung herausgefordert, die (negative) Religionsfreiheit seiner Bürger schützen zu müssen (Michael Droege).

Im Hintergrund steht, dass der neu­trale Staat der Religion seiner Bürger nicht mehr vornehmlich in den beiden öffentlich-rechtlich verfassten Großkirchen, sondern in der gelebten vielgestaltigen Religiosität der bürgerlichen Gesellschaft begegnet und sich als liberaler Rechtsstaat bewähren muss.

Beide „Großkirchen“ werden künftig, wenn sie weiterhin in den diakonischen Einrichtungen als christliche Kirchen erkennbar bleiben und ihrer Intention gerecht werden wollen, verstärkt ihr Selbstverständnis in ein mit der Mitarbeiterschaft gemeinsam erarbeitetes und stets weiter zu entwickelndes Profil der jeweiligen Einrichtung einbringen müssen.

Insbesondere die Evangelische Kirche sollte bei der Frage nach der Verbindlichkeit der Diakonie auf keinen Fall den Fehler der 1960er- und 1970er-Jahre wiederholen und der Rede vom Gesundschrumpfen nunmehr Platz auf dem weiten Raum der Diakonie gewähren.

Vielmehr scheint es geboten, sich darauf zu besinnen, wie der Anspruch an Bekenntnistreue und der Respekt vor der Persönlichkeit aller Mitarbeitenden nach dem Maß wechselseitiger Verantwortung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer austariert werden können.

Sicher ist auf der Leitungsebene der Institution eine Kirchenmitgliedschaft unverzichtbar, doch bleibt die Frage, ob über die intentionale Verbindlichkeit vornehmlich nach der Maßgabe der Hierarchie entschieden werden muss.

Gerade auf dem Feld der Diakonie besteht die große Chance, den geistlichen Auftrag in einer religiös selbstbewusst gewordenen Gesellschaft zu präzisieren und eventuell auch den Status der Mitgliedschaft zu überdenken.

Ein Blick auf den Mitgliederstatus anderer christlicher Kirchen und Religionsgemeinschaften, die in diesem Band noch vorgestellt werden, zeigt, mit welcher protestantischen Freiheit sich die evangelische Kirche auf dem Feld der Diakonie profilieren kann. Ein nicht nur für Diakoniewissenschaftler und Juristen sehr angesagtes Buch.

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Erlebt

Erlebt

Ein Buch zur rechten Zeit

Es begann, wie es bei vielen Betroffenen beginnt: Kleine Zettel, oft gelbe Post-its, erinnern an Selbstverständliches, wie den eigenen Namen oder die Adresse. Bei den Mitmenschen rufen sie nur Unverständnis hervor. In der Familie der Journalistin und Autorin Katrin Seyfert waren es Zettel mit Botschaften wie „Brot kaufen“ oder „Fußballtraining 16 Uhr“ und viele kleine Lücken, wie ein vergessener Geburtstag oder der nicht getrennte Müll. Ihr Mann Marc, Arzt und Vater der drei kleinen Kinder, bekam mit gerade einmal 50 Jahren die Diagnose Alzheimer. „Man kann sich sein Schicksal nicht aussuchen, und wenn das meine Krankheit sein soll, dann bin ich bereit, sie anzunehmen“, sagt ihr Mann, als er eines Abends die Diagnose bekommt. Knapp sechs Jahre später stirbt er nach nur sechs Wochen in einem Heim.

Welche Bedeutung die Diagnose für sie und ihre drei Kinder hat, darüber erzählt Katrin Seyfert in ihrem Buch Lückenleben mit dem Untertitel „Mein Mann, der Alzheimer, die Konventionen und ich“. Schonungslos offen beschreibt Seyfert, wie „die Krankheit jeden Tag ein Stückchen mehr Deutungshoheit gewinnt“. Konkret, wie Geldnöte, Diskussionen mit Pflegeberaterinnen, der Abschied in ein Heim, später dann ihre und die Trauer der Kinder das Zusammenleben bestimmen, sie an den Rand ihrer Kraft und des Ertragbaren bringen.

Dass die Leserin mal mit einem lachenden, mal mit einem weinenden Auge durch die Kapitel fliegt, liegt an Seyferts Sinn für das alltägliche Detail und die Zumutung. Sie beschreibt zum Beispiel, wie sich ihr Mann nach einem Schnitzkurs künstlerisch betätigt und eine kleine Ausstellung in einem Einkaufszentrum bekommt. Wie sie ihr Leben zwischen Pflegedienst, Elternsprechtagen, Arztgesprächen, Haushaltsarbeit, Steuererklärung, Einkäufen und Geburtstagen bewältigt, in der ständigen Gewissheit von Überforderung und der Angst vor dem eigenen Scheitern. Dazu kommen Existenz- und Geldsorgen: „Weil Pflege hauptsächlich mit Geld zu tun hat.“

Die Journalistin hält sich nicht lange auf mit detailreichen Beschreibungen der Krankheit ihres Mannes, ihr geht es vielmehr um den Blick dahinter. Sie will Zweifel wecken an den mitunter rigiden Zuschreibungen, die ihr als pflegende Angehörige, als Mutter, Alleinverdienerin und als Witwe entgegengebracht wurden. „Nicht Marcs Alzheimer ist die Zumutung gewesen, nicht sein Tod, sondern das Comme il faut, das mich hinterher überrollte, manchmal mehr als die Trauer", schreibt sie. Wie gehen wir mit Krankheit, Tod und Verlust um, und was bedeutet Würde? Seyfert, die in Tübingen Rhetorik und Kulturwissenschaft studiert hat, reichert diese Fragen mit ihren eigenen Erfahrungen an und reflektiert sie mit Zitaten, Literaturhinweisen und Liedertexten, genauso wie sie ihre Kenntnisse über Studien einfließen lässt.

Aus all diesen Anforderungen und Zumutungen, die sie mit genauem, manchmal fast gnadenlosem Blick protokolliert, werden Brüche in der Tabuzone spürbar. Manch einer eigenen gutmeinenden Phrase und Verhaltensweise wird die Leserschaft begegnen. Sie wird von der Autorin überführt und entlarvt. „Darf man über Krankheit, Sterben, Tod öffentlich reden, oder ist das immer noch ein Tabu?“, fragt Seyfert schon im Vorwort ihres Buches. Ihre Antwort am Ende: „Heute sehe ich Schwere in allem, auch in dem, was Leichtigkeit verlangt. Das ist unangemessen, narzisstisch, unausweichlich. Es ist vor allem: nicht cool. Vielleicht ist ‚Cool‘ das Land, das ich nie wieder ohne Zweifel betreten kann, weil ich sechs Jahre erlebt habe, wie wenig gastfreundlich es zu Versehrten, Zweiflern und Gescheiterten ist. Postmoderne Kälte funktioniert nur für Poser und Autisten.“

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.

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Glücksfall

Glücksfall

Komplexe Familiengeschichte

In der Geschichte der Autorin Marina Jarre (1925–2016) geht es um die Zerrissenheit zwischen Religionen, Ländern, Kulturen und die Suche nach der eigenen Identität. Jarre tritt als Ich-Erzählerin auf und nimmt mit in die Kindheit nach Lettland, die Heimat des russisch-jüdischen Vaters, dann in die Heimat der Mutter, ein Dorf in der Nähe von Turin, wohin sie als Zehnjährige nach der Trennung der Eltern gebracht wird. Dort lebt sie bei den italienischen Großeltern, während der jüdische Teil ihrer Familie dem Holocaust zum Opfer fällt und die Mutter arbeiten geht.

Befremdlich sind ihr die Rituale und der Glaube der protestantischen Waldenser Kirche, der die Großeltern angehören. Fremd ist ihr die Mutter, die im Gegensatz zum verlorenen Vater recht streng ist. Auch die jüngere Schwester ist ganz anders als sie und Marina fühlt sich nirgends heimisch, auch nicht in der Familie. „Ich will nicht so sein wie meine Mutter“, schreibt das Kind und: „Die Erwachsenen spielen ein falsches Spiel.“ Deshalb flüchtet sie in die Welt der Fantasie, der Literatur und beginnt früh zu schreiben.

Im faschistischen Italien schließt sie sich einer Widerstandsbewegung an und begegnet ihrer großen Liebe Giorgio. Und wird ihrer Mutter ähnlicher, als sie wollte, mit deren Sinn für Rationalität und fürs Praktische, indem sie sich für Gianni entscheidet, der sie umwirbt, der ihr Sicherheit bietet und den sie erst lieben lernen muss.

Marina Jarre erzählt in schöner Sprache, mit sachlichem Blick auf ihre Umgebung, springt allerdings durch die Zeiten und Orte, dass man achtgeben muss, um zu folgen. Die Sprecherin Theresa Hämer trifft einen angenehm leichten Erzählton, die Musik ist sparsam zwischen den Kapiteln eingesetzt, so dass es Freude macht, sechs Hörbuchstunden zuzuhören.

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Spaß für Kinder

Spaß für Kinder

Kühns schönes Vermächtnis

Rolf Kühn (1929–2022) machte da nicht viel Federlesen: „Der Himmel ist weit, und ein Vogel muss frei sein und fliegen können. Das ist Jazz.“ So hat ihn dieser Klarinettist von Weltrang, Komponist und Bandleader auch gelebt und gespielt – polyglott mit ganz eignem Stil: Sein warmer, satter Ton von präziser Schärfe, die kreative Neugier und seine Zugewandtheit sind Legende wie er selbst.

Für Kühn war Jazz das Idiom der Freiheit. Mit seinem vorzüglichen Mehr-Generationen-Quartett, 2018 für Yellow + Blue zusammengestellt, hat er kurz vor seinem Tod die zehn Stücke von Fearless eingespielt. Bassistin Lisa Wulff (* 1990) schwelgt vom „Miteinander auf Augenhöhe“, Percussionist Túpac Mantilla (* 1978) spürt nach wie vor eine „Energie absoluter Aufregung und Freude“ und Pianist Frank Chastenier (* 1966) in Kühns Soloschlusskadenzen der Balladen „die komplette Jazzgeschichte, die er in sich trug“. Elegant hatte Kühn alle Farben zwischen free, hot, cool, Swing und loungig, Jazzrock, Psychedelic, Neuer und Filmmusik drauf. Stets ist Platz für das, was er am Jazz liebte: Begegnung, Offenheit, spontane Entwicklung – auf dass es eben passiert. Erfüllte Augenblicke. Nicht suchen, finden. Drei Cover sind dabei: The Summer Knows von Michel Legrand, Eric Claptons Tears In Heaven und von Leonard Bernstein Somewhere aus der West Side Story – mit Streichern vom Rodrigo Bauzás Cuareim Quartet ergänzt. Kühn hatte gerade bei einem großen Auftritt in der Elbphilharmonie mit dem Geiger erstmals gespielt und sich von ihm Ergänzungen gewünscht. Unmittelbar vor dem sanften Somewhere steht Fun for Kids, eine Art Hörspiel-Miniatur, die alle Register zieht: Erst luftig-wuchtig schreitender Einzug in die Manege, dann saugt es einen im Mittelteil effektstark in den Alice-Tunnel, als rauschte man durch den Kaninchengang in eine White-Rabbit-Anderwelt voller Stimmen, Bilder und Gestalten, bis einen das durchweg brillierende Quartett reich gehört wieder in den faszinierenden Zirkus entlässt.

Das bildreiche Album steckt voller Begegnungen, ist ein Fest fürs Hören wie für die Imagination und hat immens viele Facetten. Das titelgebende Fearless etwa rockt, swingt und tanzt Bass- und Drums-getrieben auf das Parkett. Man mag erst an Henry Mancinis Pink-Panther-Theme denken. Und dann ist auch hier wieder viel Platz für Entdecken, Frage, Gegenrede, Rempeln und Umarmen. The Summer Knows folgt zärtlich-einträchtig. Die Dynamik sitzt perfekt – das Album ist ein spielfreudiger Gruß an das Leben. Wo Luther zum Schluss mal besser fleißig Apfelbäume gepflanzt hätte, statt zu toben, übte der als Jugendlicher wegen seiner jüdischen Mutter tödlich bedrohte Kühn bis zum Ende täglich mehrere Stunden Klarinette. Man spürt es am Ton. Untergegangen ist seine Welt nicht, wie das Album posthum aufs Schönste beweist.

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Frühlings-Funkeln

Frühlings-Funkeln

Momente der Extraklasse

Fühlen Sie solche inneren Bilder von zart, aber bestimmt einfliegendem Frühling – schwebend, aber als ein klares, unmissverständlich spürbares Signal? Das ist der Klang der Oboe. Xenia Löffler schenkt mit diesem Instrument und ihrer sublim beseelten Art, es zu spielen, solche Momente zuhauf – auch wieder auf dieser neuen CD, die, strahlend wie viele ihrer Schwestern vorher, diese Momente vergegenwärtigt klingender Wiederbelebung an einem Besonderen exerziert: Johann Sebastian Bach, dem Großmeister der Vermessung von Himmel und Erde. Faktisch besonders an dieser Aufnahme ist, dass alle ausgewählten Werke von Bach ursprünglich gar nicht für die Oboe vorgesehen waren – wie etwa die Sonate h-Moll, BWV 1030, Highlight der barocken Literatur für Traversflöte und obligates Cembalo. Die hier eingespielten Fassung Zwei basiert auf einer Abschrift, die erst nach dem Tode Bachs angefertigt wurde und so tief liegt, dass sie für die Oboe besser spielbar ist als für die Flöte dieser Zeit. Diesen Steilpass nimmt Xenia Löffler auf und zelebriert eine ungemein leuchtende Fassung, deren weite Bögen einem den Atem verschlagen. Überzeugend entschlackt sie das träumerische Siciliano von romantisierender Verzuckerung und beweist im abschließenden Presto nicht nur technische Bravour, sondern vor allem einen tänzerischen Habitus, mit dem sie über Wasser läuft.

Bravouröse Partnerin am Cembalo ist Flóra Fábri, die es versteht, Begleiterin und Führerin zugleich zu sein. Ihr Spiel ist geistreich in allen Facetten: con discrezione und pulsierend vital, womit sie in ein selten schönes Wechselspiel mit Xenia Löffler geht, das den Gestus der Sonate wesentlich trägt. Neben der g-Moll-Sonate finden sich außerdem die Sonata E-Dur BWV 1031, die Trio-Sonate e-Moll BWV 528 und die jede Stunde zu einem Fest werden lassende Trio-Sonate C-Dur BWV 529, die Bach eigentlich für die Orgel geschrieben, wohl aber (schon in Köthen) ursprünglich kammermusikalisch konzipiert hat. Hier gesellt sich Daniel Deuter an der Violine dazu. Sein Bogen geht mit viel Verve über die Saiten, bleibt aber immer samtig im Ton, nimmt jedes zugespielte Motiv, jede Parallelbewegung behänd auf und erweist sich als wunderbar wacher (Mit)spieler.

Das Schönste an dieser CD sind aber die Zäsuren zwischen den konzertanten Werken. Eine steht in der besonderen Besetzung und ihrem maigrün-weichen Timbre für sich: die Canzona BWV 588, ebenfalls ursprünglich für Orgel, arrangiert für ein Oboe-Fagott-Quartett, das Xenia Löffler und Michael Bosch an den Oboen sowie Györgyi Farkas und Großmeister Christian Beuse am Fagott in der fugalen Struktur hingebungsvoll musizieren. Und dann gibt es da diese drei wundervollen Orgelbüchlein-Adaptionen „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ (BWV 639), „Herr Gott, nun schleuß den Himmel auf“ (BWV 617) und „Wenn wir in höchsten Nöthen sein“ (BWV 641). Die funkeln am hellsten.

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