Julian Zeyher-Quattlender

Dr. Julian Zeyher-Quattlender ist Professor für Systematische Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik (Tenure Track) an der Universität Göttingen.

Gänsehaut unterm Affenfell

Gänsehaut unterm Affenfell

Zur Phänomenologie des Haut- und Härchenaufstandes
Foto: Privat

Vorspiel: Piloerektion - Piloerektion lautet der bildstarke medizinische Fachbegriff für Gänsehautgelegentlich auch Piloarrektion genanntalso ein unwillkürlicher kollektiver Haut- und Härchenaufstand, genau dann, wenn sich kleine Haarmuskeln (lat. Musculi arrectores pilorum) gleichzeitig in der Haut zusammenziehen. Dadurch stellen sich die sehr feinen Haare gleichzeitig auf und die Haut bekommt, wie ChatGPT so einfühlend sagt, eine „hügelige“ Struktur – erinnernd an die Haut einer gerupften Gans.[1]

Der physiologische Ablauf lässt sich in drei Phasen gliedern: 1. Reiz: einerseits Kälte (Zugluft oder Frost), andererseits Emotionen (Angst, affektives Betroffensein etwa durch Kunst, namentlich Musik) 2. Nervensystem: Das vegetative Nervensystem (Sympathikus, vegetare, lat: in Bewegung setzen, beleben) aktiviert kollektiv die Haarmuskeln.3. Reaktion: Die Härchen richten sich auf und die Haut wirkt nicht glatt, sondern wie eine raue, hügelige Landschaft

Die evolutionsbiologische Bedeutung dieses Phänomens lässt sich knapp so beschreiben: Bei Tieren (etwa Katzen, Hunde, Igel, Vögel) dient das Aufstellen der Haare/Federn/Stacheln einerseits als Wärmeschutz, denn das Luftpolster zwischen Haaren/Federn/Stacheln hält schön warm; andererseits firmiert der Härchen/Feder/Stachelaufstand als Imponierverhalten, das dem eigenen Schutz gegen Angreifer dient: Das entsprechende Tier wirkt für potentielle Feinde markant größer. An Körperpartien ohne Haarbewuchs wie den Fußsohlen kann keine Gänsehaut auftreten. Streng genommen gibt es also keine Ganzkörpergänsehaut. Zwar ist beim Menschen das Funktionsprinzip noch da, aber die Schutzwirkung ist durch unsere eher geringe Körperbehaarung nahezu bedeutungslos. Wohl nicht zufällig tragen viele Menschen im Winter Jacken und Mäntel mit Luftpolster oder sogar mit Daunen gefüllte Polster, um den Wärme-Nachteil gegenüber der Tierwelt auszugleichen. Ästhetische Fragen werden dabei vorübergehend eingeklammert.

Henne, Huhn oder Gans

Auffällig auch das: Einerseits gibt es in weiten Teilen Europas Einigkeit über die Deutung des Gefühls als Gänsehaut: im Englischen Goose flash oder goosebumps, im Schwedischen Gåskött, ähnlich im Norwegischen und Dänischen, im Italienischen sagt man pelle d’oca, aber es gibt auch eine zweite Variante: die Franzosen sprechen von chair de poule und wir Niederländer von kippenvel, also Hühnerhaut, die Spanier sagen ebenfalls Piel de gallina, in Finnland heißt es kananliha, die Schweiz fühlt Hühnerhaut, in Graubünden (Schweiz), Vorarlberg (Österreich) und vom Allgäu bis hin zum Chiemgau sagt man nochmals einschränkend  Hennenhaut. Daran sieht man, wie kompliziert es ist in Europa Einigkeit zu erzielen, wenn man sich noch nicht einmal darüber verständigen kann, wie kollektive Hautaufstände zu deuten sind: als Gänsehaut oder als Hühnerhaut oder spezifischer: Hennenhaut. Der Gefühlskompass kommt nicht zur Ruhe. Die revolutionären Franzosen und die calvinistischen Niederlande und die calvinistische Schweiz fühlen mit den in der Verwertungskette deutlich tiefer eingestuften Hühnern oder Hennen, aber was hat die Finnen und die Spanier und die Österrreicher, Allgäuer und Oberbayern bewogen, sich mit dem Hühnerprekariat zu identifizieren, bitteschön? Die anderen machen es nicht unter einer stolzen Gans. 

Als typische Auslöser für Gänsehaut gelten physikalisch Wind und Kälte und ein jäher Temperaturabfall, emotional sind es: Angst, Ekel, Freude, namentlich auch ästhetisch/religiöse Ergriffenheit etwa beim Besuch bei einem Wasserfall, bei Lost places, in der Oper, oder im Kino, auf Musikfestivals, im Theater, im Museum angesichts großer Malerei. Als liberaler Theologe bin ich sofort bereit, die Gänsehaut als leibliche Antwort auf eine religiöse Grunderfahrung oder genauer: Heiligkeitserfahrung zu deuten, die der große Rudolf Ott als mysterium tremendum et fascinans, als Geheimnis, das gleichzeitig als überwältigend, erschreckend und faszinierend, anziehend empfunden wird. Dazu mehr an anderer Stelle…

Am Wasserfall

Nachspiel: Die Ehrfurcht der Schimpansen - Und dann das. Am frühen Sonntag war ich schlagartig hellwach. Die Grand-Dame der  Primatenforschung, Jane Goodall, die über Jahrzehnte eng mit Schimpansen zusammenlebte, war 2023 (Wiederholung 2025) Gast in der 3sat Produktion Sternstunden der Philosophie und äußerte sich über komplexe Gefühle bei Schimpansen, die lügen können, aber offenbar auch Ehrfurcht empfinden. Eingespielt wird ein kurzer Clip, der zeigt, wie Schimpansen bei einem Wasserfall mit einem Ritual reagieren. „Wenn sich Schimpansen nähern, hören sie dieses tosende Geräusch. Ihre Haare stehen zu Berge, sie bewegen sich ein wenig schneller. Und wenn sie hier ankommen, wiegen sie sich rhythmisch, oft aufrecht, heben große Steine auf und werfen sie vielleicht zehn Minuten lang. Manchmal klettern sie an den Lianen den Bach hoch und schwingen sich in die Gischt und stürzen sich ins Wasser, was sie normalerweise vermeiden. Danach sitzen sie im Bach auf dem Felsen, schauen nach oben und beobachten das Wasser: wie es hinunterfällt und dann wieder verschwindet.

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses Schauspiel oder dieser Tanz am Wasserfall vielleicht durch Gefühle der Ehrfurcht, des Staunens, ausgelöst wird, die wir empfinden.“[2] Das wir ist hier inklusiv gedacht. Dem Gebaren und dem Aufstand der Haare nach zu urteilen, erleben die Schimpansen eine Heiligkeitserfahrung. Sind (hoch entwickelte) Tiere religiös? Haben hier: Schimpansen religiöse Gefühle? Aus phänomenologischer Perspektive ein vorsichtiges: Ja.

Übrigens: Es gibt bei dem amerikanischen Spielzeughersteller Mattel eine Barbiepuppe Dr. Jane Goodall mit einem Schimpansen. Leider ist sie eine Woche nach dem Tod von Jane Goodall ausverkauft.                                                                                                                                        


 

[1] Der kurze Abriss der naturwissenschaftlichen Erklärung des Phänomens Gänsehaut wurde mit Hilfe von ChatGPT und Google KI erarbeitet. Letzter Aufruf am 8. Oktober 2025.

[2] 3sat: Sternstunde der Philosophie: Jane Goodall im Interview mit Barbara Bleisch; 5.10.2025. Ich zitiere die Untertitel mit leichter Korrektur. Wiederholung von 2023.

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.

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Mit Bibel und Grundgesetz

Mit Bibel und Grundgesetz

Über den Stolz auf die Demokratie und ihre Verteidigung gegen braunes Gedankengut
Foto: Harald Oppitz

„Nach Hitler – Die deutsche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.“ Eine Ausstellung im Haus der Geschichte, die ich gerade besucht habe. Die Auseinandersetzung mit Transgenerationaler Traumaweitergabe habe ich für die Ausbildung künftiger Pfarrpersonen als festen Bestandteil in mein Curriculum integriert. Wie wirken sich die Traumata des Terrorregimes der Nationalsozialisten und des 2. Weltkriegs auf die Kinder- und Enkelgeneration aus? Tatsächlich spielt das in vielen Seelsorgebegegnungen eine Rolle, und auch manche Vikar*innen entdecken Folgen in ihrem eigenen Leben, obgleich sie schon der 4. Generation nach dem Krieg angehören. 

Besonders beeindruckt hat mich in der Ausstellung die Geschichte einer Hitlerbüste der Bildhauerin Hedwig Maria Ley. Ley hatte 1932 die erste von Hitler autorisierte Büste angefertigt, die vielfach kopiert wurde. Nach dem Krieg hat Ley eine dieser Büsten in ihrem Garten vergraben. 1967 entdeckt ein Gärtner bei Arbeiten in Leys Garten den Hitlerkopf, die Künstlerin schenkt sie dem Mann, der den bronzenen Hitler bei sich zuhause auf den Kaminsims stellt. Heute kann man den Kopf in der Ausstellung besichtigen.

Vergraben, aber nicht vermodert

Für mich ist die Geschichte dieser Büste wie ein Symbol für die Auseinandersetzung vieler Deutscher mit der NS-Vergangenheit und dem gefährlichen Potential rechten Gedankenguts. Vergraben, aber weder vergessen noch vermodert, jederzeit kann es ausgegraben und im privaten Rahmen präsentiert werden, ohne dass sich jemand groß aufregt. Unbelehrt ist Ley 1978 gestorben. Wer mag, kann für 4.800 Euro gerade eine von Ley geschaffene Büste von Gottfried Daimler erwerben. In der Information des Händlers wird ganz offen auf das nationalsozialistisch-künstlerische Wirken von Ley hingewiesen. Offenbar ist der Händler der Ansicht, dass dies dem Verkauf eher nutzt als schadet. 

Auch damit setzen wir uns in der Seelsorgeausbildung auseinander: Wie begegnen wir Menschen, die offen eine menschenverachtende politische Meinung vertreten? Was kann eine Vikarin sagen, wenn beim Geburtstagsbesuch nationalsozialistische Memorabilien auf dem Kaminsims stehen?

Im Stresemann-Haus

Übernachtet habe ich in Bonn übrigens im Gustav-Stresemann-Haus, das auch einen Hotelbetrieb hat. Auf dem Zimmer gab´s keine Bibel, dafür aber das Deutsche Grundgesetz. Mit einem Vorwort von Frank-Walter Steinmeier, also immerhin ein evangelischer Akzent. Übrigens war Gustav Stresemann auch evangelisch. Seine evangelische Witwe musste mit den Kindern aus Nazideutschland in die USA emigrieren, da sie eine jüdische Herkunft hatte – für die Stresemann Zeit seines Lebens immer wieder angefeindet wurde. Auch der Antisemitismus ist in vielen Familien lediglich vergraben, nicht aber überwunden worden. Gerade wird wieder fleißig ausgegraben. Ein Skandal! 

Ein Grundgesetz statt der Bibel? Ich finde, man kann in beiden Werken mit Gewinn lesen, um sich gegen braunes Gedankengut zu wappnen. Nach Ausstellungsbesuch und Hotelübernachtung habe ich überrascht festgestellt: Ich war stolz. Stolz auf unsere Demokratie. Auf Menschen, die sich mit Kopf, Herz und Kräften dafür einsetzen, dass in unserem Land immer noch die Menschenrechte gelten. Stolz auf ein Deutschland, das eine Wiedervereinigung geschafft hat und in dem man sich, immer noch, auf den Rechtsstaat verlassen kann, trotz aller Leute, die ihre rechte Gesinnung nur vergraben, nicht aber verarbeitet haben und seltsame Büsten ausstellen oder kaufen. 

Die Ausstellung „Nach Hitler“ kann man sich noch bis zum 25.1.2025 im Bonner Haus der Geschichte anschauen. Die Dauerausstellung wird gerade komplett neu gestaltet und im Dezember eröffnet. Dann steht ein nächster Besuch in Bonn an. Und eine Übernachtung mit Grundgesetz. Die Bibel bringe ich halt selbst mit.

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.

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Unser Bauernkrieg

Unser Bauernkrieg

Warum der Aufstand vor 500 Jahren noch immer ein aktuelles Thema ist
Foto: privat

Ich schreibe Ihnen, werte "z(w)eitzeichen"-Leser:innen, heute von einer vollgepackten und ziemlich hochkarätigen wissenschaftlichen Tagung zu 500 Jahren Bauernkrieg, die in dieser Woche in Bad Frankenhausen stattfindet. Das Gedenken an den Aufruhr von 1524/25 bringt es mit sich, dass es auch in der ostdeutschen Provinz richtig was zu erleben und zu lernen gibt! Nicht zuletzt, dass der Bauernkrieg in einem emphatischen Sinne unser Krieg ist. 

Damit ist zunächst einmal die Tendenz gemeint, sich mit den Aufständischen von damals positiv zu identifizieren. Laut Professor Gerd Schwerhoff von der TU Dresden, einem der maßgeblichen Bauernkriegsbuchautoren des gegenwärtigen Denkjahres, können sich auch die Forscher:innen diesem Sog nicht gänzlich entziehen. Es macht jedenfalls Spaß, sich mit dem Bauernkrieg – vielleicht ja auch zum ersten Mal – intensiv auseinanderzusetzen. 

Zum Beispiel der Bundespräsident

Exemplarisch vorgeführt hat einen solchen identifikatorischen Rückbezug Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in seiner Rede zum Bauernkriegsgedenken am 15. März in Memmingen. Die Aufständischen von damals sind ihm der Auslöser einer „Freiheitsbewegung“, die bis in unsere Zeit fortdauert. Wir Bürger:innen können uns von ihnen eine Scheibe Courage abschneiden: „Dass wir es bleiben, frei bleiben, das liegt heute in unser aller Hand! Begegnen wir den Bedrohungen von Freiheit nicht mit Gleichgültigkeit.“

In einem zweiten Sinn ist der Bauernkrieg aber unser Krieg im Blick darauf, was die Aufständischen damals einte und bewegte. Durch die Forschungen der vergangenen Jahrzehnte sei deutlich geworden, höre und lerne ich, dass man ihn wohl kaum zutreffend als „deutsch“, als „Krieg“ und als „Revolution des gemeinen Mannes“ bezeichnen kann. Jedenfalls nicht, ohne detailliert darzulegen, was man denn nun unter deutsch (das Alte Reich?), Krieg (das Niederschlagen der Aufständischen durch die Obrigkeiten?) und Revolution versteht.

Ohne Reformation kein Bauernkrieg

Übrig bleibt als Klammer um die Vielheit der verschiedenen Ausdrücke, die der Aufstand in den Jahren 1524/25 fand, das Evangelium, auf das die Haufen, die Publizisten und selbst die den Aufstand bekämpfenden Obrigkeiten Bezug nahmen. Der Bauernkrieg wurde maßgeblich, darin sind sich die Forscher:innen nun 500 Jahre nach der „wilden Handlung“ weitgehend einig, nicht nur von den sozio-ökonomischen Nöten der einfachen Land- und Stadtbevölkerung angetrieben (wie die Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik noch zum 450. Jubiläum es mehrheitlich vertrat), sondern vom Streben der Aufständischen nach christlicher Freiheit und Gerechtigkeit. Ohne Reformation kein Bauernkrieg.

Zu unterscheiden sei jedoch zwischen der apokalyptisch orientierten Perspektive, aus der Martin Luther und Thomas Müntzer – bei allen Unterschieden - im Geschehen auf die Zeitenläufe blickten, und der „bäuerlichen“ Weltzugewandtheit. Den Aufständischen ging es um die Umstände hier auf Erden, die evangeliumsgemäß umgestaltet werden sollten.

Zwei Lager

Das macht die Erinnerung an „unseren“ Bauernkrieg als den Krieg, der zur Reformation gehört, der ohne Luthers Freiheitsschrift undenkbar ist, an diesen Religionskrieg der einfachen Leute, der sich vor allem auch gegen geistliche Obrigkeiten richtete, die weltliche Macht missbrauchten, heute im Jahr 2025 so aktuell. Heute erscheint die weltweite Christenheit, wie sie uns medial vermittelt in herber Gleichzeitigkeit vor Augen steht, erneut in zwei Lager geteilt, die quer zu Konfessionen, Frömmigkeiten und politischen Orientierungen liegen: 

Da sind jene, die das Ende der Zeiten gekommen sehen. Nicht nur solche, die von Rapture und Apokalypse träumen, sondern auch jene, die - üblicherweise hübsch institutionell abgesichert und mit bürgerlichen Sicherheiten reich gesegnet - mit gehörigem Zynismus dem Verfall von Abendland, christlichen Werten, Kirchenbindung etc. pp. beiwohnen. Und natürlich jene, die aus dem von ihnen diagnostizierten „Untergang“ Legitimation für die eigene Gewaltanwendung ableiten, seien es US-amerikanischen Kulturkrieger oder die russisch-orthodoxe Putin-Kirche. 

Noch nicht fertig

Auf der anderen Seite finden sich diejenigen ein, die diese Welt und die Menschen (noch) nicht aufgegeben haben und die Kraft der Hoffnung auch daran glauben, dass mit dem Evangelium mehr und anderes gemeint ist als nur der Trost auf ein gedeihlicheres Jenseits.

Geht es uns heute um eine verstümmelte Form christlicher Freiheit, die ausschließlich die geistliche Freiheit meint – und in der Gefahr steht, sich von leidensfähiger Zeitgenoss:innenschaft freizusprechen? Die den Mächtigen der Welt nicht in den Arm fällt, wenn sie das Schwert gegen die Armen und Schwachen führen? Oder halten wir daran fest, dass christliche Freiheit auch heute Freiheitskampf und -Gestaltung auf Erden meint. 

Erinnerung und Gedenken an den Bauernkrieg können zu einer vertieften Befassung damit führen, wie Christ:innen sich heute zu Obrigkeit, Machtmissbrauch, Verteilungs- und Schöpfungsgerechtigkeit stellen sollten. Wir sind mit dem, was die Aufständischen damals begonnen haben, tatsächlich noch nicht fertig. 

 

Hinweis: Hier geht es zum Schwerpunkt zum Thema Bauernkriege in der zeitzeichen-Ausgabe vom Januar diesen Jahres.

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Ratsche

Ratsche

Punktum
Foto: Rolf Zöllner

Sie kennen das: Man geht in einen Baumarkt und ist der Depp. Man weiß so ungefähr, was man bräuchte, um kleine Reparaturen zuhause selbst zu machen, aber wie heißen nun diese bescheuerten Dinger, die man jetzt so dringend braucht: Muffen, Puffen, Wuffen – keine Ahnung! Und wie genau funktionieren sie?

Also geht man demütig zu einem meist nur schwer zu findenden Angestellten irgendwo zwischen den riesigen Regalen. Dort versucht man, mit seinem begrenzten, ja eher völlig fehlenden Fachvokabular das zu bekommen, was man braucht – und die mitleidsvolle, wenn nicht genervte Mimik des „Ideengebers“ (so heißen die hier wirklich!) zeigt einem, dass man eben: der Depp ist.

Dann aber die Erfahrung vor ein paar Wochen: Balsam auf meiner geschundenen Seele! Für die Gurte einer geschenkten Hängematte wollte ich eine Ratsche kaufen – und das Wort ist so hässlich wie das Ding, dessen Namen es trägt. Eine Ratsche (den Namen wusste ich komischer Weise, vielleicht, weil er so hässlich ist) ist eine Art Spange, die Gurte festspannt.

Nun fragte ich an der „Information“ voll Demut, ob man mir erklären könne, wie denn diese Ratsche funktioniere. Was folgte, entschädigte mich für so viele Stunden der Demütigung im Baumarkt: Ungelogen vier gestandene Baumarkt-Männer versuchten etwa eine Viertelstunde lang die von mir gekauften Gurte mit der Ratsche zu spannen, einer wurde sogar als scheinbarer Experte aus dem Lager gerufen. Sie stellten sich, sorry, so blöd an, dass ich heimlich nach der versteckten Kamera suchte.

Und wenn ich ein amerikanischer Manager wäre, hätte ich sofort gerufen: „You are fired!“ Einer konnte es schließlich – und empfahl mir ein Youtube-Video, in dem erklärt wird, wie eine Ratsche funktioniert.  Ich habe mich wunderbar gefühlt! 

 

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Held? Verräter? Stauffenberg!

Nicht größer und höher als eine Lastwagengarage ist das Kellergewölbe im Alten Schloss in Stuttgart, in das das Haus der Geschichte Baden-Württembergs die Stuttgarter Stauffenberg-Eri

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Zeitlos spirituell

Zeitlos spirituell

Pop und Rock durch die Bibel

Er freue sich unbändig über jede biblische Spur, die er in Pop- und Rocksongs entdecke. Frei von dogmatischen Zwängen und theologischen Spitzfindigkeiten, pusteten sie den Staub von der Bibel, machten sie „fassbar für die heutige Zeit“, schreibt Uwe Birnstein. Die Musiker nennt er „Mit-Verkündiger“, die den Kern biblischer Botschaften freilegten, in verständliche Sprache übersetzten. Wobei vieles aus der Bibel selbst „Pop ihrer Zeit“ sei, „erzählt für einfache Leute – nicht für Theologieprofessoren“. Daran will er Teil haben lassen: „In einer solch kreativen Wiederentdeckung zeitloser Weisheiten im Kontext der Gegenwart liegt eine Chance für lebendige Spiritualität im 21. Jahrhundert.“

Mit ähnlich hoch gelegter Latte hat er schon „spirituelle Biografien“ über Leonard Cohen, Bob Dylan, Johnny Cash und Udo Lindenberg verfasst, die für ihn „Brüder im Geiste“ sind. Unter den 25 Songs dieses „Hits from Heaven“-Bands mit seinem Bibelstreifzug sind auch sie vertreten. Zwei ganz ähnliche Bände legte der 1962 Geborene, der nach dem Theologiestudium Journalist statt Pfarrer wurde, schon vor.

Die durchweg kurzen Texte haben Radioandacht-Format und stets dasselbe Schema: Nach Titelstichwort (Schöpfung, Wunder, Gott ist in der Stille, Engel oder Das Hohelied der Liebe, dies gleich zweimal) folgt ein dazu passender oder vom Song bemühter Bibeltext, teils gekürzt oder paraphrasiert. Der Einstieg ist oft catchy: „Was hilft, wenn alles zu zerbrechen droht?“ etwa zu „Let it be“ von den Beatles, präsentiert unter „Maria“ samt Abschnitt aus der Verkündigung des Engels an sie.

Für selbst Bibel- und Pop-Vertraute ist der assoziative Flow, der darauf folgt, interessant. Birnstein wechselt gewandt zu weiteren Bibelstellen, hier nach der Binse „Vertrauen auf Gott und seine Unterstützung in schweren Zeiten ist ein Grundthema der Bibel“ etwa zu den Psalmen („Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“). Zwingend ist das nie. Mutgemaßtes oder wirklich Bekanntes der religiösen Musikerbiografien bindet er ein. Das wirkt mitunter hergeholt, teils übergriffig – als schwappte eigenes Song­erleben in die Deutung. Im Fokus steht Mainstream, viel aus eigener Jugend. Taylor Swift darf indes nicht fehlen. Solchem Buch drängt sie der Hype um Swiftie-Gottesdienste in Heidelbergs Heiliggeist-Kirche geradezu auf.

Doch ob Songs oder Musiker, ein raunendes „erreicht Millionen!“ steht störend oft im Text. Um den erhofften Zugewinn zu käschern, ist einiges vorausgesetzt – etwa dass die Bibel verstaubt sei (oder gar tot). Ist sie das? Wenige lesen sie noch, selbst in den Kirchen, doch über Songs ließe sich Ähnliches sagen. Zuhören ist einsame Kunst. Ihnen unterstellt er, sie seien authentisches, von der Biografie verbürgtes Reden, „echt“. Und sofern es darin um „große Fragen“ wie Sinn, Schuld, Liebe und Tod geht, schließt er ihr drängend Existentielles schematisch mit der „Echtheit“ der Songs kurz und hat flugs für die Bibeltexte einen offenbar als flotter angesehenen Drive.

Sichtbar machen das nicht zuletzt die fast in jedem Text traktierten Worte „zeitlos“ und „spirituell“ (samt Derivaten), teils mehrfach. Da möchte man am liebsten ein „Schweinderl“ aufstellen. Sprachliche Schludrigkeiten und schiefe Bilder im spürbar schnell gearbeiteten Buch kommen hinzu. Songs und ihrer Autonomie wird das ebenso wenig gerecht wie der Bibel als Literatur. Manche spirituelle Eingemeindung ist zudem ärgerlich, etwa bei Cohen und Dylan, für den ohnehin die Joe-Henry-Faustformel gilt: „Wer die Bibel nicht kennt, versteht von ihm nur die Hälfte.“ Man sollte sie halt lesen, diesseits von enervierendem Poptratsch und Entdeckungen à la „die Stones sind gar nicht so“. Dabei wissen wir seit Keith Richards’ Bibliotheks-Leitersturz ohnehin, dass er liest. Und Jagger vögelt eben gern. Kann man so machen. Eine Menge kann man machen.

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