Zum Tanzen

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Ezra Collectives neue Scheibe

Wir werden ja sehen. Im Spätherbst zählte BBC Radio 1 das Ezra Collective auf der Sound of 2025-Liste zu jenen elf Acts, deren Durchbruch im Popmainstream zu erwarten sei. Was auch Anschub geben kann. Oder soll? So ist das Business. Parallel stand wochenlang auf evangelisch.de prominent ein Stück zum „Pfarrer-Beamtenstatus auf der Kippe“ samt aufgeregten Stimmen der „community“. Mit dem „Wehen des Geistes“ hat beides auf je seine Weise zu tun.

Ezra Collective (kurz: EC) setzt pensionserwartungsfrei seit Gründung des Jazzquintetts mit vollem Risiko auf das Wehen und löste so schon viel Bewegung aus, zuletzt mit dem Mercury-Prize-Gewinner „Where I‘m Meant to Be“. Ihr drittes Studioalbum „Dance, No One‘s Watching“ setzt da noch einen drauf, obwohl sich sofort Bilder einstellen, wo doch einer guckt: Von David etwa – Soldat, Söldnerführer und Messiasahne – , wie er ausgelassen vor der Bundeslade tanzt, weshalb ihn die Gattin verspottet. Oder von der jungen Frau mit Headphones, in kalter Nacht auf der Bank vor der Bäckerei. Beine und Arme schwingen. Ein Alter auf Späthunderunde lächelt. Sie antwortet mit Strahlen. Ein junger Kerl gröhlt aus dem zweiten Stock „Junkie“. Sie hört es nicht. Finster droht nur der Alte. Am Tanz scheiden sich die Geister. „Dance, No One‘s Watching“ beginnt mit Stimmengewirr und verhalltem Reggae. Ein kurzes Zögern, dann ist kein Halten mehr. Der Flow der vierzehn folgenden Tracks ist famos, zugleich gibt es eine stringente Albumdramaturgie, dominiert von afrikanischen Rhythmen, teils komplex, stets treibend. Karibisches kommt hinzu. Herz, Becken und Füße sind eine Stunde lang kurzgeschlossen. Freunde von EC (Drums, Bass, Keys, Tenorsaxophon, Trompete) stocken wechselweise bis auf Bigbandstärke auf. Vor allem die Bläser sind eine Wucht.

Drei Vocaltracks strukturieren das Album: Das Titelstück singt Neo-Soulerin Olivia Dean. Rapper M.anifest aus Ghana und Kwaito-Granate Moonchild Sanelly aus Südafrika liefern in „Streets is Calling“ frenetisch ab. Den Akzent jedoch setzt zuvor Soulsängerin Yazmin Lacey mit dem irisierenden „God Gave me Feet For Dancing“. Drummer Femi Koleoso sagt dazu: „Tanzen ist eine Sache der Gemeinschaft, eine spirituelle Sache. ‚God Gave Me Feet For Dancing‘ ist für uns fünf wie ein Fenster in dieses Element von EC. Es gibt eine Geschichte über ‚David tanzt vor dem Herrn‘. Das hat mich schon immer inspiriert.“ Den Song nimmt das zuerst pianoversonnene „Everyone“ mit grandioser Finale-Verve wieder auf. Arrangements, Spielwitz, Leidenschaft, funky Groove – und Freude! Hier stimmt einfach alles. EC sind wunderbar und haben in diesem Fall auch eine Botschaft: „Sei du selbst, befrei dich vom Urteil anderer. Tanz!“ Written for the dancefloor müsste gar nicht eigens draufstehen.

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Passionswunder

Passionswunder

Buxtehudes größtes Werk

Was barocke Passionsmusik angeht, so überstrahlen Bachs Passionen alles. Die kurze, dramatischere Johannespassion (zwei Stunden) und die lange, lyrischere Matthäuspassion (drei Stunden). Doch diese freudvolle Austerität Bachscher Passionsklänge darf den Blick auf kostbare Alternativen der vorbachschen Epoche nicht verstellen, die überreich vorhanden sind. An prominenter Stelle ist da der Motettenzyklus „Membra Jesu nostri“ von Dietrich Buxtehude zu nennen, jenem Großmeister in den Jahren vor 1 700, zu dem der junge Bach einst nach Lübeck pilgerte, dessen Nachfolge er dann aber aufgrund der Bedingung (Heirat der Tochter Buxtehudes) ausschlug. Und seit Ton Koopman vor fast 40 Jahren beim Label ERATO die erste Aufnahme vorlegte, haben sich zahlreiche Barockgrößen an dem Stück versucht, so hat es quasi subkutan die kirchenmusikalische Passionszeit erobert.

Die neuste Aufnahme der „Membra“ stammt vom französischen Ensemble Correspondance mit seinem Leiter Sébastien Dauncé. Die Künstler haben nach Angabe auf dem CD-Cover „Paris und die Ufer des Ärmelkanals“ verlassen und sich „an die Ostsee zwischen Lübeck und Stockholm“ begeben, „um die lutherische Musik vor Bach zu erkunden“. Und was soll man sagen? Ihr Vorhaben ist trefflich gelungen, denn die Franzosen haben eine mustergültige Einspielung des siebenteiligen Buxtehude-Zyklus vorgelegt, der sich textlich auf den Kern des christlichen Passionsglaubens konzentriert: die Betrachtung des Kreuzes Christi. Als Textgrundlage dient eine lateinische Dichtung des belgischen Zisterziensermönchs Arnulf von Löwen (um 1200–1250), die in aufsteigender Reihenfolge den Körperpartien des Gekreuzigten gewidmet ist – Füße, Knie, Seite, Brust, Herz, Gesicht – und die in der siebten Kantate im Vers „Salve caput cruentatum“ mündet. Eine Vorlage, die Paul Gerhardt für sein berühmtes Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“ gedient hat, der Passionschoral schlechthin, von Bach dann zentral in seiner Matthäuspassion verwendet. So schließt sich ein Kreis …

Wer dieses Werk noch nie genossen hat, dem sei der Erwerb dieser CDs dringend empfohlen. Und auch auf die Gefahr hin, dass dieses Wort hier schon öfter gefallen ist: Buxtehudes „Membra“ hat einen hohen (positiven) Suchtfaktor. Sie ist durch die erlesene Mischung von dissonanzreichen Kantilenen der Solistenquintetts – ob einzeln, zu zweien oder im Tutti – und den herb beglückenden Klängen des Streicher­ensembles mit zwei Violinen und einen bis zu vierstimmigen Gambenensemble einmalig. Und dass diese „Membra“ zusammen mit einer weiteren CD voller erlesener Kostbarkeiten (unter anderem dem Minioratorium „Die sieben Worte“ von Heinrich Schütz) zu einem äußerst günstigen Preis angeboten wird, sollte es erleichtern, die Scheiben zum persönlichen Passionsobjekt 2025 zu deklarieren.

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Nachdem bereits im Oktober 2023 eine Stellungnahme zur Thematik des

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Sonja Thomaier

Sonja Thomaier ist Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in an der Universität Hildesheim mit einem Promotionsprojekt im Themenfeld „Queere Theologien“. Zudem ist Sonja Thomaier Pfarrperson im Ehrenamt mit einem Auftrag für die Queersensible Seelsorge Hannover.

Fragwürdiger Fortschrittsoptimismus

Zu den Projekten, die die Ampelkoalition in der vergangenen Legislaturperiode nicht mehr hat realisieren können, gehört die Revision des § 218 StGB.

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Kitsch und Camp

Kitsch und Camp

Eine Verteidigung der pittoresken Kunst
Foto: Privat

1. Hummelfiguren: Eine Reise in die Gefühligkeitsvergangenheit: Ich gestehe: Meine Mutter sammelte in ihren späteren Jahren Hummel-Figuren, Porzellanfigürchen in klebrig-süßlichem Gewand. Hummelfiguren sind Putten in einem säkularen Kinder-Outfit oder in einem kindlichen Arbeitsdress (etwa Apotheker, Arzt, Lehrer; bevorzugt männlich). Diese Ministatuen inszenieren eine glückliche Kindheit, erlauben mütterliche Rückwärts-Reisen in die süßliche Gefühligkeitsvergangenheit. Und yes: Ich habe meiner Mutter diese Figuren zu jedem Geburtstag und zu jedem Weihnachtsfest geschenkt und Augenrollen bei meinen älteren Schwestern riskiert. Nach ihrem Tod kamen diese Figuren prompt zu mir zurück und stehen jetzt in meiner Würzburger Arbeitswohnung zwischen den Bücherbergen. 2008 wurde die Produktion der Hummel-Seligkeitsdinge eingestellt, der Wert der Figuren steigt seitdem erschreckend kontinuierlich an. Hummel-Figuren avancieren zur neuen Krypto-Währung.

Gibt es eine positive Deutung dieser Vorliebe? Zur Verteidigung meiner Mutter könnte ich etwas schal sagen: Diese Figuren feiern die Entdeckung der Kindheit, eine späte Entdeckung, vorangetrieben namentlich durch den französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau, sein Roman Emile oder über die Erziehung von 1762 zählt zur Pflichtlektüre. Ikonographisch verdichtet findet die glückliche Kindheit Gestalt in dem Gemälde Die Hülsenbeckschen Kinder von Philipp Otto Runge von 1805. Satt fröhliche Gesichter, der Älteste präsentiert sich stolz in einer saftig grünen Spiel-Hose.

Glucksglückliche Kindheit

Anthropologisch gesprochen: In diesen süßlich kitschigen Statuen verdichtet sich eine tief eingepflanzte Sehnsucht nach heiler Welt, bürgerlicher Sicherheit, parfümierter Idyllenkultur, glucksglücklicher Kindheit. Kitsch ist als Kunst diejenige Kunst, die wohlig und hoffnungsfroh in die Vergangenheit schaut. Der Chefdenker der Frankfurter Schule, Theodor Wiesengrund Adorno, hat Kitsch als „dümmlichen Trost“ verdammt. Und der Schriftsteller Hermann Broch (sein dreibändiges Opus magnum: Der Schlafwandler ist gut gealtert) hat davon gesprochen, Kitsch sei „das Böse im Wertesystem der Kunst“. 

Ist es so einfach mit dem Kitsch? Ist er nur verdammenswürdig?

2. Kitsch und Mode: Wie so häufig: eine sprachliche Herkunftssuche ergibt allenfalls einen ersten Hinweis. Im Angebot ist vor allem das mundartliche österreichische kitschen als Straßenschmutz oder schmieren, Kitsch ist also wertlos, hat als Schmutz zugleich einen moralischen Nebensinn. Meine These lautet: Als Kitsch lässt sich heute der spät, gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfundene Begriff rückwirkend als falsche Antwort auf den Strukturwandel der Moderne und Spätmoderne beschreiben. Worin bestand dieser Strukturwandel? 

Sprachspielend gesagt: Die Moderne entdeckte die Mode. Modern bedeutet,  nicht mehr die Vergangenheit leidlich nachzuahmen (dann landet man in der Einrichtungsmode im Gelsenkirchener Barock, das ist eine Demütigung jeder verarbeiteten Eiche), sondern modern heißt, das Neue nachzuahmen. Exemplarisch hat diesen turn in der bildenden Kunst bereits Albrecht Dürer (1471-1528) vollzogen: Dürer war der Großimporteur des Neuen aus der Malerei Italiens, die er für den eigenen Stil einfränkelte, etwa indem er die oft ausgeprägte Emotionalität italienischer Kunst fränkisch milde herunterdimmte. Kitsch ist in dieser Deutung Avantgarde-Verweigerung oder Moderne-Verweigerung. So gedeutet, wird der Kitsch-Begriff als Deutungsvokabel kräftig nach rückwärts verlängert. Frage: Hat Dürer selbst stilistisch Neues erfunden, das Nachahmer, auch späte Nachahmer gefunden hat? Ich behaupte ja. Er hat, lange bevor der Begriff Karriere machte, Kitsch als Camp erfunden. Dieser Twist wird bis heute fleißig nachgetanzt.

Kitsch als Camouflage

Um dahin zu kommen, müssen Sie als Lesende zwei Zwischenschritte machen, die die erstaunliche Flexibilität des Kitschbegriffs als Prüfmuster für Modernetauglichkeit feiern.

3. Kitsch als ironisches Camouflageprojekt: Die Verbindung von Kitsch und Ironie ist hoch spannend. Mit Peter Sloterdijk gesprochen: Ironie ist schwebender Sinn, der sich nicht so leicht verhaften lässt und – wenn nötig – im Kitsch sich verstecken kann. Ein prächtiges Beispiel. Carl Spitzwegs Gemälde, dessen Bild Der arme Poet von 1839 bis heute als ein Lieblingsbild der Deutschen gelten darf, gewähren dem schwebenden Sinn beschauliche Heimat. Kurz gesagt: Spitzweg (1808-1885) ist über viele Jahrzehnte falsch gelesen und interpretiert worden. Auch in der Kunstwissenschaft. Kitschige Idylle, betulich, ein Chronist der ach so guten alten Zeit! 

Diese Wertungen sind schlicht falsch. Spitzweg ist ein mit leiser Ironie arbeitender Maler, der gegen den Überwachungsstaat jener Jahre, gegen Zensur, gegen Unterdrückung und Ausbeutung leise aufbegehrt und für liberale Bürgerrechte plädiert. Ein leicht zu übersehendes, sogar mehrfach verwendetes Signal ist etwa der schwachrote Schirm auf dem Bild Der Schmetterlingsjäger (1840, ähnlich Der Schmetterlingsfänger). Spitzweg malt Soldaten, die schlafen, gähnen oder Achtung: stricken. Wer die Ironie, diesen schwebenden Sinn entziffert, entdeckt einen Avantgardisten im Schutzmantel der Biederkeit. In politisch schwierigen Zeiten ist Kitsch das ideale Gehäuse für das leise und doch energische Aufbegehren. Das ist auch für eine Zukunft, die politisch mit Unheil droht, gut zu wissen.

Satire und Kitsch

4. Parodie als (religiöser) Kitschtest: Anders als die Ironie arbeitet die Satire mit kräftigen Verzerrungen, Übertreibungen und vor allem mit Spott. Lukian von Samosata (um 120 geboren, das Sterbejahr ist hochumstritten) gilt als Held der Satire. Berühmt geworden sind seine Gespräche der Götter und Meergötter, der Toten und der Hetären. Diese kleine Schrift läutet das Ende des griechischen Götterhimmels ein, ist Spott und Nachruf gleichermaßen. Lukians Satire ist ein Test darauf, ob die Götter Griechenlands den von ihm angezettelten Spott überleben. Sie tun es nicht. Diese Götter und Meergötter werden dem spöttischen Lachen überantwortet. Wer ihnen noch vertraut, macht sich selbst lächerlich, verfällt, wie man heute sagen würde, dem religiösen Kitsch. Geben diese Götter und Meergötter noch Hilfe und Rat? Nein. Sie sind schier lächerlich geworden.

Spannend: Satiren waren auch in der Reformationszeit ein veritabler Test auf das Haltbarkeitsdatum des himmlischen und den Himmel stellvertretendes Personal. Erasmus von Rotterdam (gest. 1536, das Geburtsjahr ist strittig), Humanist, zunächst Verbündeter, später Gegner Luthers, hat eine prächtige Satire geschrieben: Papst Julius vor der Himmelstür, Julius exclusus e coelis, ein beklatschter Abgesang auf die Papstaristokratie. Der Stellvertreter Gottes wird der Lächerlichkeit preisgegeben und findet keine Gnade an der Himmelstür. Als eine Art Parallelaktion wurde aus der Community von Dürer eine Satire publiziert, die einen der großen katholischen Gegner Luthers, Johannes Eck (1486-1543), dem Verspotten preisgibt. Wahrscheinlich ist der Autor Willibald Pirckheimer: Eckius dedolatus; Der enteckte Eck. Auch die katholische Theologie in Gestalt ihres Vertreters Eck wird dem Spott preisgegeben.

Queen und Dragqueen

5. Dürer, Kitsch und Camp: Camp ist der Titel eines oft zitierten Essays aus den 60ern des letzten Jahrhunderts, verfasst von der amerikanischen Philosophin, Religionsphilosophin, Essayistin, Romanautorin, Theater- und Filmregisseurin Susan Sontag (1933-2005): Notes on Camp (1964). Sie war einige Jahre verheiratet, hatte einen Sohn und lebte danach mit verschiedenen Frauen (u.a. mit der Photographin Annie Leibowitz) zusammen. Sprachlich ist es wahrscheinlich, dass sich Camp von frz.: se camper = übertrieben posieren, affektiert spielen und agieren hergeleitet – Susan Sontag lebte einige Jahre in Frankreich und liebte die französische Sprache. Einer der Ideengeber ist fraglos Oskar Wilde als Dandy. Camp orientiert sich am Pittoresken, am Dekor, am Ornament, an der Verkleidung, am Theatralischen, am Spiel, an der Oper, hat Lust an der Überspitzung. Alle Sinne sollen gefeiert werden, bitteschön. Bestes Beispiel ist Freddie Mercury in Bohemian Rhapsody (2018). Queen, der Name der Band, meint immer auch Dragqueen. 

Was hat das mit Dürer zu tun?

Zunächst: Dürer hat die Avantgarde aus Italien importiert, ein gutes Beispiel ist sein Selbstbildnis im Pelzrock von 1500, das die Proportionenlehre von Leonardo da Vinci konsequent umsetzt. Einerseits also wird von Dürer der idealen Form von Schönheit nachgeeifert, gleichzeitig gestaltet er einen Kupferstich, auf dem sein Antlitz mit Dornenkrone auf dem Schweißtuch der Veronica abgebildet ist. Die Bibel gibt übrigens für beide Ausgestaltungen Malempfehlungen. (Jes 53,2.: Keine Gestalt hatte er, keine Schönheit; dagegen Ps.44,3: Du bist der Schönste der Menschenkinder, Anmut liegt auf deinen Lippen.) 

Dürers Männerbad

Das Bild seines Coming out ist ein Holzschnitt: Männerbad (1496/97), unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Italien entstanden. Vor einer offenen Badelaube versammelt sich eine Figurengruppe. Dürer selbst lehnt in affektiver Pose am Hahnstock: Der Wasserhahn auf der Höhe seines Geschlechts weist auf den morbus gallicus, denn, so die die häufig kolportierte Meinung, durch Matrosen sei die Franzosenkrankheit eingeschleppt worden. Alle Bordelle sind in Nürnberg zu der Zeit, als Dürer den Holzstich gestaltete, geschlossen. Zwei zentral positionierte Männer flöten und fiedeln fidel in fraglos lasziver Pose. Dürer blickt in einer Melange aus Sehnsucht und Melancholie zu seinem Freund, und höchstwahrscheinlich seinem Geliebten Willibald Pirckheimer (Renaissance-Humanist, Patrizier, Jurist, Feldherr, Mäzen, Kunstsammler etc.) hinüber. Die zwei Männer an der Brüstung sind, so weit geht der Konsens der Kunstexperten, die Brüder Paumgartner aus einer Kaufmanns- und Patrizier-Familie. Dann gibt es noch einen Zaungast, der bisher nicht identifiziert werden konnte.

Alle fünf Sinne sind im Spiel: Dürer verkörpert das Hören, Pirckheimer das Schmecken, die Paumgartner Brüder das Riechen (Mann mit Blume) und das Spüren (Mann mit Rückenschaber), der Zaungast verkörpert das Sehen. Vernunft und alle Sinne gegeben? Edgar Wind, Meister-Schüler des großen Kunstwissenschaftlers Aby Warburg, hat hier auch eine Umdeutung des Dionysos-Kultes gesehen. Aber nicht jeder Biertrinker ist ein Dionysus-Anhänger. Etwas überzeugender ist Winds Vier-Säfte-Theorie: Dürer der Melancholiker, Pirckheimer der Phlegmatiker, Sanguiniker der Mann mit der Blume, Choleriker der Mann mit dem Schabmesser. Ich ziehe die erste Deutung entschieden vor, weil die Figuren letztlich doch alle in großer Resonanz posen. Ich lese den Holzschnitt als Camp. Als nacktes Spiel, das die Sinnlichkeit und namentlich die aus engen Grenzen befreite Sexualität ganz unverschämt feiert. Die These also lautet: Dürer ist am Anfang der Moderne bereits der Erfinder des Camp.

Kumulation von Kitsch

Ist Kitsch also das Böse im Wertesystem der Kunst? 

Nicht zwingend. Kitsch als nach rückwärts verlängerte Deutekategorie kann politischer Kunst als Camouflage dienen. Sie kann in der Verbindung mit Satire als Test eingesetzt werden, ob vormoderne oder frühmoderne religiöse Vorstellungen noch lebensfähig sind. Schließlich: Kitsch kann als Camp positiv eine Lust am Pittoresken und Spielerischen hervorrufen und sexuelle Diversität feiern. Fraglos: Es gibt Bestrebungen, auch in dieser Frage das Alte zu wiederholen. 

Lebenspraktische Empfehlung: Häufeln Sie in ihrer Wohnung kitschige Seligkeitsdinge an einem Ort. Dann können Sie auch Gegenständen mit triggernden Gefühlswelten, die ihnen wichtig sind, präsentieren: Die gewollte Kumulation von kitschigen Gegenständen ist Signal für Ironie und Camp und wird jeden Besucher von abfälligen Blicken abhalten. Oder: Sie tragen nicht nur einen Anhänger mit dem Motiv der betenden Hände von Dürer, sondern drei übereinander. Auch dann sind Sie safe. Ich werde künftig schamfrei meine Hummelfiguren in einer Häufung mit Besitzerstolz präsentieren.

Zu Camp vgl. den knappen, aber sehr hilfreichen Artikel von Clemens Schwender: Camp – eine Theorie des schlechten Geschmacks, https://mediendiskurs.online/beitrag/camp-eine-theorie-des-schlechten-geschmacks/ Letzter Aufruf: 10. März 2025. Dort auch der Hinweis auf Queen.

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.

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