Für Männer ein safe space
Der neue Nationalismus überrascht durch den Zeitpunkt, den er sich für seinen Auftritt gewählt hat, denn am Beginn des 21.
Der neue Nationalismus überrascht durch den Zeitpunkt, den er sich für seinen Auftritt gewählt hat, denn am Beginn des 21.
Auf einem Narrenschiff sind die Narren die Passagiere und die Mannschaft. Christoph Hein bemüht dieses in der literarischen Tradition seit dem ausgehenden Mittelalter bewährte Sinnbild, um die Geschichte der DDR als das konfliktreiche Miteinander von Regierten und Regierenden zu erzählen. Der inzwischen als Chronist gewürdigte Autor projiziert die Metapher des Narrenschiffs auf die poltische und gesellschaftliche Realität des „ersten sozialitischen Staates auf deutschem Boden“ und konzentriert dabei Handlungen, Stimmungsbilder und Reflexionen auf das Leben von fünf miteinander befreundeten Protagonistinnen und Protagonisten, zwei Ehepaaren und einem Single.
Alle fünf Personen gehören zur geistigen Elite, die Männer haben hochrangige Positionen inne. Der eine ist ein weltweit anerkannter Ökonom, aber als Mitglied im Zentralkomitee fast kaltgestellt. Der andere ist eine nur durch seine fachliche Qualifikation einigermaßen abgesicherte Führungskraft in der Metallgewinnung. Er lebt stets im Stress zwischen seinem Ehrgeiz und dem ihm verwehrten weiteren Aufstieg. Der dritte Mann ist ein seine Homosexualität nur sehr begrenzt auslebender angesehener Germanist und Anglist. Er kann sich zwar als Publizist durch seine kritische brillante Feder gesellschaftliche Anerkennung verschaffen, muss aber immer mit dem Argwohn der Nomenklatur rechnen.
Hein erzählt die Geschichte der DDR jeweils an den Schnittstellen von Politik und Privatheit. Er schildert dabei die folgenschwere Umstellung der Schwerindustrie auf die Produktion von Konsumgütern und zeigt, wie sich hinter dieser volkswirtschaftlich fragwürdigen planerischen Maßnahme die Angst der Regierenden vor dem Unmut der Bevölkerung verbirgt.
Die Geschichte zwischen Regierenden und Regierten ist grundsätzlich von anfänglichen Hoffnungen, dann aber bald von gegenseitigem Misstrauen und Einschüchterung geprägt. Die Aufstände um den 17. Juni 1953, die immense Republikflucht gerade der Leistungsträger, der Mauerbau und die zunehmende soziologisch als Nischenkultur zu beschreibende innere Emigration erscheinen bei Hein nicht lediglich als Streiflichter, sondern als Einschnitte zwischen dem politischen und privaten Leben der beiden Ehepaare und deren Freund. Dem Mitglied des Zentralkomitees, das die Stalinschen „Säuberungen“ ab der Mitte der 1930er-Jahre in Moskau noch hautnah erleben musste, drängt sich in der DDR zunehmend die Einsicht auf, dass Treue zu ethischen Überzeugungen keineswegs Linientreue sein kann, wie sie die Partei erzwingen will. Als engagierter Wissenschaftler kommt er sich vor wie auf einem Narrenschiff.
Der Roman blendet bei aller Privatheit aber keineswegs die politischen Rahmenbedingungen, die Großwetterlage für das Narrenschiff im gespaltenen Land und in der geteilten Welt aus. Die Narren bewegen sich in aufgewühlten Gewässern auf einem Kriegsschiff im Kalten Krieg, der erbittert als Glaubenskrieg zwischen den Systemen geführt wird. Der Metallurge versucht stets, den Direktiven der Partei zu folgen, also nach dem Grundsatz, dass die Partei immer recht hat, zu wirken und zu leben. Bis zu seinem Tod bemerkt er nicht, dass er in Wahrheit einer Schlängellinie gefolgt ist. Die Frauen bewegen sich hingegen mehr und mehr in den Freiräumen, die ihnen die unaufhaltsame Liberalisierung eröffnet. Im Leben und Erleben der Kinder und deren Schritten in eine nach der Wende ungesicherte Zukunft werden die Auflösung des Systems und das unvermeidliche Ende anschaulich. Hein führt seinen Roman auf dieses Ende hin, indem er in Skizzen, die gerade als Fragmente bedrängen, vom Sterben der befreundeten drei Männer erzählt. Als Chronist und kritischer Kommentator seiner Gegenwart will er im Übrigen keineswegs auf dem Narrenschiff der Literatur zurückbleiben, sondern mit seinen Leserinnen und Lesern nach Land Ausschau halten.
Dr. Friedrich Seven ist Pastor. Er lebt in Scharzfeld.
In jüngerer Zeit veröffentlicht er mit erhöhter Frequenz. Ob Jürgen Theobaldy aber auch im erhöhten Maß Erzählungen und Gedichte schreibt, ist nicht klar. Auf die Novelle Mein Schützling (2023) folgte im Frühjahr 2024, aus Anlass seines 80. Geburtstages, die Lyrik-Anthologie Nun wird es hell und du gehst raus; jetzt ist ein neuer Band mit Erzählungen unter dem Titel Bis es passt erschienen. Und erneut wirken Texte des Autors, der seit langem in der Schweiz lebt, stellenweise so, als ob sie nicht vor Kurzem geschrieben worden seien. Sie wirken überzeitlich fast, verankert noch in der Gegenwart, aber auch schon darüber hinaus.
Die Gegenwartsliteratur prägt und bereichert Theobaldy seit einem halben Jahrhundert, vom Rand her freilich, denn zu den allerersten deutschen Autoren wurde er nie gerechnet. Und wahrscheinlich wäre ihm eine Position im Rampenlicht unangenehm. Festlegen lässt er sich nicht gerne – und nicht leicht. So schreibt er fort, wortgewandt und stilistisch erlesen, mal ironisch gebrochen, dann ganz ernst. Längst hat er den Sozialrealismus seines frühen Romans Sonntags Kino hinter sich gelassen, aber zeitgeschichtlich verankert blieb sein Schreiben doch, egal ob er nun von Paarbeziehungen oder Einzelgängern erzählt.
Der Band führt ebenso die stilistische und thematische Bandbreite Theobaldys wie sein feines Sprachempfinden und die Lust am Sprachspiel vor Augen. Ganz wirklichkeitsnah erinnert sich da ein melancholisch gestimmter Ich-Erzähler an eine Jugendliebe oder wird von einem Paar erzählt, das erfahren genug ist, um zu wissen: „Es sollte nicht zu lange still bleiben zwischen ihnen.“ Sie stellen auch grundsätzliche Fragen wie diese: „Weiß man, wovon man spricht, wenn man das Wort Natur ausspricht?“ Um Natur und Prinzipielles kümmerte sich auch Albert Einstein. Die Erzählung Einstein getroffen ist eine Hommage an die Zeit, als er beim Schweizer Patentamt in Bern arbeitete und Grundlagen seiner Relativitätstheorie entwickelte. Der Erzählfluss ist schnell, entsprechend der Gangart der Figuren und der Geschwindigkeit, mit der sie Gedanken austauschen.
Ein Kind ihrer Zeit ist die Hauptfigur der surreal angehauchten Erzählung Ein Glücksfall. Heller heißt sie und betreibt eine Agentur für Werbegrafik. Als Heller einen extravaganten Pullover kauft, kommt Bewegung in sein Dasein. Die Erzählung streift fortan alle Lebensstationen der Hauptfigur, wobei der seltsam die Farbe ändernde Pullover Hellers Selbstbilder repräsentiert – und ihn mit der Frage konfrontiert, ob er wirklich das Leben führt, das ihm gemäß ist.
Überhaupt das Leben: Verständlich wird es vielfach erst vom Ende her, wie Heller registriert. Und dieses Ende bildet erst recht in der fantastisch anmutenden Erzählung Aus der Mitte von Irgendwo ein Zentrum. In einer „Kaschemme" berichtet dem Erzähler ein Gast von einem seltsamen Friedhof, wo Verstorbene noch aus der Erde ragen und sich aus ihren Reden ein Begriff vom Jenseits ergeben soll. Wie wirklichkeitsnah ist das noch? Es ist eher eine Kopfgeburt – so wie das, was der Text Wie es mich durchströmt entfaltet. Man liest den inneren Monolog eines Sonderlings, der sich politisch radikalisiert hat oder psychotisch wurde.
Dass solches in der Schwebe bleibt, macht den Reiz des an Kafka, Beckett oder Bernhard erinnernden Erzählstücks aus. Oft geht es bei Theobaldy um die Kunst – darum, was sie ist und unverwechselbar macht, wo doch alles naturwissenschaftlich erklärbar scheint. Nicht nur die Zeit verrinnt und vergeht doch nicht. Dasselbe gilt für die Literatur. Die Dauer der Lektüre ist messbar, ihr Wert und ihre Bedeutung aber kaum. Wie alle echte Kunst widersetzt sich dieses Buch der Vergänglichkeit und zeigt: Etwas bleibt ja doch.
Thomas Groß ist Kulturredakteur des Mannheimer Morgen.
Am 5. Mai 1525 starb Kurfürst Friedrich III. von Sachsen im Jagdschloss Lochau. Nach Aufbahrung, Leichenzug und Begräbnisfeierlichkeiten fand der 62-jährige Regent seine letzte Ruhestätte im Großen Chor der Wittenberger Schlosskirche. In seiner Leichenrede klagte Philipp Melanchthon, ein Friedensfürst, kluger Politiker und frommer Christ sei von uns gegangen. Ebenso lobte Martin Luther Friedrichs Geduld und Weisheit und dass er um des Evangeliums vieles erduldet habe. Als christlicher Fürst sei er, nachdem er das Abendmahl unter beiderlei Gestalt genossen habe, mit Sanftmut, frischer Vernunft und Verstand verstorben – unter Verzicht auf die bisher üblichen Sterbezeremonien. Damit fand ein Prozess seinen Abschluss: Der tieffromme spätmittelalterliche Reichsfürst, den die Luthersache in seinen letzten Lebensjahren intensiv bedrängt und der den reformatorischen Änderungen nur zögerlich nachgegeben hatte, war im evangelischen Glauben gestorben.
Aus Anlass seines 500. Todestages legt Armin Kohnle nun eine höchst lesenswerte Biografie über diesen bedeutendsten Kurfürsten der Reformationszeit vor. Aus zahlreichen neu erschlossenen Quellen erarbeitet, gelingt es dem Leipziger Kirchenhistoriker, ein lebendiges und facettenreiches Bild von Friedrich III. zu entfalten. Sachbezogen, souverän und mit einer Prise Humor goutiert, entsteht ein packendes Portrait dieses nach seinem Tod mit dem Attribut „der Weise“ versehenen Herrschers. Die kenntnisreiche Einordnung sowohl in die reichs-, landes- und sozialgeschichtlichen als auch in die kirchen-, frömmigkeits- und bildungsgeschichtlichen Kontexte zeichnet diese auch im äußeren Erscheinungsbild gelungene Monografie aus.
Umsichtig werden der Aufstieg der Wettiner sowie die Leipziger Teilung 1485 mitsamt der auf Kurfürst Ernst beziehungsweise Herzog Albrecht von Sachsen zurückgehenden ernestinischen beziehungsweise albertinischen Linie skizziert. Unter der Überschrift „Ein schöner Herr und junger Sohn zu Sachsen“ wird sodann über die Geburt Friedrichs am 17. Januar 1463 in Torgau und den Bildungsgang des ältesten Sohnes von Kurfürst Ernst und seiner Frau Elisabeth von Bayern berichtet. Eingehend dargestellt werden die Beziehungen zu den jüngeren Brüdern Ernst (Erzbischof von Magdeburg), Adalbert (Administrator des Erzbistums Mainz) und Johann (Herzog und seit 1525 Kurfürst) mitsamt der ernestinischen Machtentfaltung am Ende des 15. Jahrhunderts. In diesem Zusammenhang hätten auch Friedrichs Mutter sowie seine beiden Schwestern Christine (seit 1478 mit König Johann von Dänemark verheiratet) und Margarethe (seit 1487 mit Herzog Heinrich von Braunschweig-Lüneburg verheiratet) etwas ausführlicher berücksichtigt werden dürfen. Mit dem Tod des Vaters 1486 wurde Friedrich Kurfürst und sein Bruder Johann Mitregent. 1513 kam es zur Verwaltungsteilung (Mutschierung) des ernestinischen Territoriums zwischen den beiden. Konzis wird Friedrichs Engagement in der Reichspolitik mit seinen Aufenthalten an den Kaiserhöfen Friedrichs III. und Maximilians I. sowie sein Bemühen um die Reichsreform dargestellt. Dass Friedrich, seit 1507 „Generalstatthalter des Reiches“, eine vermittelnde Position in der Reichspolitik einnahm, entfaltet der Biograf überzeugend. Nach dem Tod Maximilians 1519 wurde Friedrich in Frankfurt am Main zum römisch-deutschen König bestimmt, verzichtete aber umgehend zugunsten von Karl V., der sodann gewählt wurde.
Feinfühlig spürt Kohnle dem Privatleben des als bedächtig charakterisierten Fürsten nach, dessen Leidenschaft die Jagd war, der eine eher bescheidene Hofhaltung führte, viel auf Reisen war und über die diplomatische „Kunst des Hinhaltens“ verfügte. Nie standesgemäß verheiratet, hatte Friedrich mit seiner nicht näher bekannten Partnerin vermutlich vier Kinder.
Umfänglich förderte der Renaissancefürst Architektur, Kunst, Musik und Bildung, ließ Wittenberg zur Residenz ausbauen und ebendort 1502 eine Universität errichten. Aufgrund seiner tiefen Frömmigkeit, die Kohnle anhand der Pilgerreise ins Heilige Land, der frommen Stiftungen, des Aufbaus der Reliquiensammlung und anderem anschaulich schildert, engagierte sich Friedrich für den das Wort Gottes in den Mittelpunkt stellenden Professor Luther (Lutherschutzpolitik), vermied aber jegliche Nähe zum gebannten und geächteten Mönch. Auch blieben ihm die liturgischen Reformen in Wittenberg der 1520er-Jahre suspekt. Diese und weitere feinsinnige Beobachtungen zu Friedrichs Kirchenpolitik, die nicht zuletzt durch die proreformatorische Vermittlung Georg Spalatins geprägt war, eröffnen ein neues, differenziertes Bild auf einen Landesherrn, mit dem es sich zu beschäftigen lohnt.
Dr. Christopher Spehr ist Professor am Lehrstuhl für Kirchengeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Es gibt eine Grundregel im Journalismus, und die heißt: Vorsicht mit Superlativen! Im vorliegenden Fall aber ist es gestattet, ja vielleicht sogar geboten, diese Regel zu durchbrechen. Denn das, was der 1958 geborene Heinz (so das Pseudonym, das die Buchautorin Christiane Florin ihm gegeben hat) in seinen Jahren im Kinderheim erlebt hat, gehört sicher zum Schlimmsten, was Erwachsene Kindern antun können. Es ist so schrecklich, dass sich die Finger sträuben, die geschilderten Gewalttaten in die Computertastatur zu tippen. Darum nur so viel: Der Alltag von Heinz in einer katholischen Einrichtung im Ruhrgebiet in den 1960er-Jahren – das waren regelmäßige Vergewaltigungen, Schläge mit schwersten Verletzungsfolgen, entwürdigende Bestrafungen, Medikamentenversuche. „Ich habe neues Fleisch für dich, er hat keine Eltern, und wir brauchen nicht aufzupassen.“ Dieser eine Satz von Schwester Ilse, zitiert auf der ersten Seite des Buches, lässt Fürchterliches ahnen …
Und dieses Fürchterliche ist bis heute nicht abgeschlossen. Heinz leidet schwer nicht nur an den seelischen Folgen der Misshandlungen („Ja, man kann sagen, dass ich ein gebrochener Mensch bin“), er leidet darunter, wie mühsam es war, finanzielle Entschädigung für sein Leiden zu erkämpfen. Dieser Kampf hat Heinz zum zweiten Mal der Institution Kirche ausgeliefert, ihn zum zweiten Mal zum Opfer gemacht.
Mit dem Argument, erlittenes Unrecht lasse sich nicht mit Geld rückgängig machen, so beklagt Christiane Florin zu Recht, rechneten Hierarchen „Schmerzensgeld zu Almosen klein“ und behielten ihre Machtposition der Zuteilung. Aber Geld, so die Autorin, sei eben wichtig, denn es vermittele den Opfern „messbar Selbstbestimmung“ und es helfe gegen das Ohnmachtsgefühl.
Heinz hat einen Teil seiner Geschichte selbst aufgeschrieben. Christiane Florin, Ressortleiterin Kultur beim Deutschlandfunk und lange Zeit Religionsredakteurin ebenfalls beim Deutschlandfunk, hat weiter recherchiert: Wie stellen sich katholische Kirche und Caritas zu den Verbrechen? Wie das Jugendamt? Will man es kurz zusammenfassen, lässt sich das dazu sagen: Die Aktenlage ist mangelhaft, und die Bereitschaft zu einer ehrlichen und umfassenden Aufarbeitung ebenso.
Im Blick auf seine Familie (der Vater von Heinz hat sich am Neujahrstag 1965 das Leben genommen und anderthalb Jahre später starb seine Mutter) und das Ausmaß der erfahrenen Gewalt ist die Lebensgeschichte von Heinz eine ganz besonders tragische. Aber ein Einzelfall ist sie nicht. Sie ist ein Keinzelfall, wie das Buch von Christiane Florin betitelt ist. Die Heimerfahrung selbst und der spätere Kampf um Anerkennung verbindet viele Opfer. Beide Kirchen und ihre Sozialwerke tun sich weiterhin schwer damit, sich der Vergehen, die unter ihrem Dach und in ihrem Namen verübt wurden, zu stellen. Aufarbeitung, Entschuldigung und Entschädigung verlaufen trotz eingeleiteter Maßnahmen schleppend, nicht nur im Fall von Heinz, der in einer katholischen Einrichtung gelitten hat. Da ist sicherlich auch im evangelischen Bereich noch reichlich Nachholbedarf.
Ganz besonders schwierig ist Florin zufolge dabei die Situation ehemaliger Heimkinder. Sie, die Zuwendung und Liebe gebraucht hätten, mussten auch in kirchlichen Häusern schon früh die Erfahrung machen, in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten zu stehen. Und diese Erfahrung setze sich fort, wenn sie als Erwachsene um Anerkennung ihres Leids ringen.
Christiane Florins Buch über das Leben des Heimkindes Heinz ist ein erneuter Weckruf an alle Institutionen, unter deren Dach Gewalt und Missbrauch geschehen (sind), den Opfern zuzuhören, erlittenes Unrecht anzuerkennen und Schadenersatz zu leisten. Ganz besonders aber ist er ein Weckruf an die Kirchen und ihre Sozialwerke, sich ihrer christlichen Verpflichtung nicht zu entziehen.
Annemarie Heibrock ist Journalistin. Sie lebt in Bielefeld.
Die vorliegende Aufsatzsammlung trägt einen Titel, der weiter kaum gespannt sein könnte. Ihr Autor, Neutestamentler in Tübingen, nimmt darin die Schrift (beider Testamente) als die maßgebliche Bezugsgröße kirchlicher Wirklichkeit in den Blick – vor einem ökumenischen Horizont und angesichts der globalen Herausforderungen unserer Zeit. Kardinal Walter Kasper hat dafür ein Geleitwort geschrieben, in dem er Gemeinsamkeiten würdigt: Tradition „ist ursprungsorientiert und entdeckt eben dadurch immer wieder überraschende Zukunftspotentiale“.
Der Band versammelt elf Beiträge aus der Zeit zwischen 2018 und 2023. Ihr Markenzeichen sind gediegene Exegesen, klar strukturiert und lebensnah vermittelt. Die Entstehungskontexte verdanken sich der Arbeit kirchlicher Gremien sowie Fragestellungen biblischer Theologie im Raum kirchlich-kultureller Diskurse. Gewichtige Themen wie Schriftverständnis, Bund oder Amt tragen den Ton.
Der Band gliedert sich in drei Teile. Am Anfang steht, gleichsam grundlegend, das Thema Schrift. Hier geht es vor allem um das Beziehungsgefüge von Begriffen wie Bibel, Heilige Schrift oder Wort Gottes sowie um die damit verbundenen Zuschreibungen und Funktionen. Ein kleiner Beitrag reflektiert im Kontext der Ausstellung „Die Bibel in Bildern” die Relation von Sehen und Glauben in ihrem biblisch-theologischen Spannungsverhältnis. Das größte Gewicht kommt schließlich dem Dual „Alter und neuer Bund” zu, der im Zusammenhang des christlich-jüdischen Gesprächs vor besondere Herausforderungen stellt. Eine sorgfältige Aufarbeitung aller Aussagen zwischen Corpus Paulinum und Hebräerbrief bestätigt die Vermutung: Kontinuität und Diskontinuität neutestamentlicher Bundestheologien lassen sich nicht in einem stringenten System auflösen, sondern halten die gemeinsame Geschichte von Juden und Christen offen.
Den größten Umfang beansprucht der zweite Teil zum Thema „Kirche und Ökumene”. Hier werden die Begriffe „Heiden, Völker und Nationen” evaluiert sowie die klassischen Einheitsaussagen in Epheser 2 und 4 (die sieben Kennzeichen für die Einheit der Kirche) oder in Johannes 17,21 (dass alle eins seien) als Verpflichtung und Hoffnung gleichermaßen profiliert. Die kontroverstheologisch belastete Frage nach Amt und Ämtern setzt neutestamentlich bei der Diakonia an, die das entscheidende Leitbild für die Übernahme von dauerhafter, geordneter Verantwortung in der Kirche vorgibt. Zwei Beiträge zur Predigt im Neuen Testament und zu Luthers Kirchenverständnis schließen diesen Teil ab.
Gesellschaftspolitische Relevanz haben die beiden Beiträge des letzten Teils. Auf die Klimakrise zielt eine profunde Auseinandersetzung mit dem Hymnus in Kolosser 1,15–20 (einem „der stärksten Schöpfungstexte der Bibel”). Hier erhält Schöpfungstheologie ein christologisches Format, das zugleich Fragen aufwirft: Wie hängen Schöpfung und Erlösung zusammen, und wie lässt sich menschliche Verantwortung bestimmen, wenn Gott zugleich Schöpfer und Vollender ist? Die Antwort setzt bei der paränetischen Einbettung des Hymnus im Kolosserbrief an: „Der Glaube an die Schöpfung und Bewahrung, Erlösung und Vollendung durch Gott in Christus rechtfertigt nicht Trott und Tatenlosigkeit, sondern führt zu einem aktiven Abtöten und Ablegen alter Gewohnheiten, zum Anziehen des neuen Menschen, zum Anpacken neuer Aktivitäten, zur Erneuerung des Lebensstils, zu einer veränderten Lebenspraxis aus dem Bewusstsein der Dankbarkeit.”
Acht „Thesen zur Krise im Reden von Gottes Handeln in der Neuzeit” schließen den Band ab, dessen detaillierte exegetische Argumentationen durch ein Verzeichnis von Bibelstellen und Sachbegriffen noch einmal hilfreich erschlossen werden.
Wissenschaftliche Exegese und kirchliche Arbeit sitzen in einem Boot, ziehen am selben Strang, befruchten sich gegenseitig – oder wie auch immer man ihre ansonsten eher als kriselnd wahrgenommene Beziehung beschreiben will. Das macht der vorliegende Band auf mustergültige Weise sichtbar und regt dazu an, den biblischen Text nicht nur als nachträgliche Bestätigung eingespielter Traditionen, sondern als Inspirationsquelle und Impulsgeber wahrzunehmen.
Dr. Christfried Böttrich ist Professor am Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Greifswald.
Herrschaftsmisstrauen sei im Zuge und Nachgang der Covid-19-Pandemie zunehmend „suspekt“ geworden. Seit den Anti-Corona-Protesten der 2020er-Jahre würden nahezu alle Formen von Kritik an oder gar Widerstand gegen bestehende Ordnungen und Obrigkeiten unter dem Generalverdacht stehen, querdenkerisch oder gar verschwörerisch zu sein, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu gefährden und allzu schnell in Gewalt abzudriften. So die Diagnose, die Florian Mühlfried in seinem Werk Unherrschaft und Gegenherrschaft formuliert. Er weist darauf hin, dass dies dazu führe, dass der Wert solch kritischer Haltungen und Handlungen sowohl politisch als auch wissenschaftlich zunehmend übersehen werde.
Die mangelnde Wertschätzung und Auseinandersetzung stehen jedoch in einem diametralen Kontrast zur Konjunktur, die kritisch-widerständige Aktionen gegenwärtig erleben. Man denke nur an die Vielzahl an Protesten gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus, Pro-Palästina-Demonstrationen sowie Demonstrationen nach den Wahlerfolgen der AfD, Demonstrationen zum Krieg in der Ukraine sowie die Klima- und Bauernproteste, die im Jahr 2024 stattfanden. Wenn diese Protestkonjunktur eines nahelegt, dann, dass es aktuell nicht weniger, sondern mehr Nachdenken über Widerstand und Kritik benötigt. Schon allein deshalb, um nicht pauschalen Verurteilungen und vereinfachenden Gleichsetzungen – etwa von Klimaprotestierenden als „Terroristen“ – auf den Leim zu gehen, sondern eine Differenzierungs- und Sprachfähigkeit zu bewahren, die es erlaubt, unterschiedliche Phänomene in ihrer Komplexität wahrzunehmen und angemessen zu beurteilen.
Einen wichtigen Schritt in diese Richtung unternehmen Stefan Silber, Sung Kim, Christian Tauchner und Simon Wiesgickl mit ihrem Sammelband Gewalt und Widerstand. In diesem vereinen die Herausgeber 14 Beiträge, die alle um die Titelphänomene kreisen und diese aus verschiedenen disziplinären, aber durchweg befreiungstheologisch orientierten Perspektiven beleuchten. Dabei werden sowohl klassischere Themen diskutiert, etwa Dietrich Bonhoeffers Position zu Gewaltlosigkeit und Tyrannentötung oder das Recht auf Selbstverteidigung im Anschluss an Malcolm X. Hinzu kommen neuere Ansätze, etwa ökofeministische Perspektiven auf Widerstand gegen multidimensionale Gewaltstrukturen, performancetheoretische Deutungen pentekostaler Kirchen als Widerstandsbewegungen oder Überlegungen zu den produktiven Wechselwirkungen zwischen Hip-Hop und theologischen Widerstandsnarrativen.
Zu den anregendsten Denkanstößen des Bandes zählten insbesondere die Beiträge von Chiara Fröhlich, Simon Wiesgickl und Nils Richber. Vor einem missionsgeschichtlichen Hintergrund und angesichts internationaler und machtpolitischer Verstrickungen entwickelt Fröhlich in ihrem Beitrag eine „Befreiungstheologie für den Kulturraum China“, die sie unter das Motto des „Gesichtsgebens“ stellt. Wiesgickl greift das Motiv des Wassers als Widerstandssymbol auf und erkundet, untermalt von popkulturellen und literarischen Streifzügen, fluide Protestformen. Richber setzt sich kritisch mit Formen von „Pseudo-Aktivität“ und „Verdrängungswiderstand“ auseinander, die auf den ersten Blick zwar widerständig erscheinen mögen, sich letztlich aber darin ergehen, bestehende Strukturen des endlosen Endes – versinnbildlicht im Gegenwartsphänomen des so genannten doomscrolling – weiterzuführen; und setzt diesen die Skizze einer apokalyptischen politischen Theologie entgegen.
Aus der Lektüre der vielfältigen Beiträge bleiben vor allem zwei zentrale Erkenntnisse hängen. Erstens eine erhöhte Sensibilität für die Vielfältigkeit und -schichtigkeit von Widerstandsformen und das Bewusstsein, dass jeder dieser Formen in ihrer spezifischen Eigenartigkeit begegnet werden muss. Zweitens eine neue Wertschätzung für solch kritisch-widerständige Ansätze, die – ganz im Sinne Mühlfrieds – nicht zwangsläufig negativ zu beurteilen sind. Statt, wie von Skeptiker:innen häufig befürchtet, unvermeidlich in Gewalt und gesellschaftlicher Spaltung umzuschlagen, können Kritik und Widerstand gerade auch als gegengewaltige Kräfte verstanden werden, die sich gegen herrschende und oft unsichtbare Formen von Gewalt richten und zugleich Zusammenhalt und Solidarität stärken. Für alle, die angesichts der vielfältigen Widerstands- und Protestformen dieser Zeit sprach- und urteilsfähig bleiben wollen, ist dieser Sammelband eine absolute Leseempfehlung.
Max Tretter ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg.
Der „Ton vom Ostermorgen“ (Karl Barth) als „die Quelle und die Lebensorientierung des Glaubens“; Kirchengemeinschaft als „eine im Handeln des dreieinigen Gottes gründende Beziehungsgemeinschaft“; Das Verhältnis der Kirche zu Israel als „die eigentliche ökumenische Frage“. Diese Stichworte umreißen die Ökumenische Existenz heute, eine (reformiert) reformatorische Ekklesiologie, die der emeritierte Theologieprofessor Michael Weinrich als Sammelband vorlegt. Weinrich treibt Theologie nicht ohne langjährige Erfahrung als Ökumeniker im universitären Kontext und als Reisender in kirchendiplomatischer Verständigung, insbesondere für die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK) und die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE).
In „der unmittelbaren Nähe zu dem Hauptstrom der realexistierenden Ökumene, wie sie sich im 20. Jahrhundert herausgebildet hat“, habe er die Texte (2004 – 2024) verfasst, schreibt Weinrich selbst. Doch seine Theologie wird über den Anfang des 21. Jahrhunderts hinaus ihre Kraft erweisen, wie auch ihre Quellen über den jeweils zeitgenössischen Kontext hinaus weiterwirken.
Kreativ entwickelt Weinrich seine Lehre von der Kirche auf Grundlage der Wort-Gottes-Theologie, der Israel- und der Erwählungslehre Karl Barths, der Soli-Deo-gloria-Theologie Johannes Calvins und der theologischen Vielfalt im Neuen Testament. Dem Kern des Überlieferten bleibt der Systematische Theologe treu: Die Anrede des lebendigen Gottes geht der menschlichen Antwort voran und diese Antwort ist „aus den jeweiligen Traditionen heraus der Freiheit der aktuellen Verantwortung verpflichtet“. Für die ökumenische Vision der Kirche bedeutet das, sich auszurichten an der Sendung der Kirche und die Perspektive zu richten auf „die aktuelle Bewährung der Kirche“, sprich: die „Herausforderungen der Gegenwart“. Diese Perspektive steht im Hoffnungshorizont, in welchem die Kirche mit dem Judentum verbunden ist.
Die „Einheit der Kirche“, nicht zu verwechseln mit der Einheitlichkeit, ist eine „Gabe“ des Gottes, von dem das Neue Testament in seiner Vielfalt erzählt. So verbietet es sich, das „Wirken Gottes“ beziehungsweise die „Gegenwart“ seines Geistes „einfach mit der eigenen Kirche zu verbinden, ohne sich von seiner Präsenz in den anderen Kirchen tatsächlich berühren zu lassen, um vom Wirken Gottes in seiner Schöpfung auch außerhalb der Kirche einmal ganz zu schweigen“.
Institutionell verfasste Kirchen seien frei, im interkonfessionellen wie im interreligiösen Gespräch nicht um die Wahrheit des eigenen Bekenntnisses oder Glaubens zu ringen. Denn über das Geheimnis der Wahrheit Gottes zu verfügen, liege über den unvollkommenen menschlichen Möglichkeiten. Zugleich werden Glaubende auf das verwiesen, was in ihrer Verantwortung liegt: das Menschliche, der praktisch-ethische Vollzug kirchlichen Lebens.
Neben expliziter Ekklesiologie durchziehen den Band Gedanken zu dogmatischen Topoi wie unter anderen die Trinität Gottes, die Erwählungslehre, die Israellehre auf der Basis von Römer 9–11. Auch der im reformierten Bekenntnis zentrale „Trost“ wird geboten: „Das Reich Gottes kommt nicht da, wo wir für Gott eintreten, sondern eben da, wo Gott für uns eintritt“, ohne dass wir von Gott „gleichsam in die Arbeitslosigkeit“ versetzt werden.Es gibt viel zu tun, zum Beispiel solange „das harte Urteil, dass für die Ökumene das Verhältnis der Kirche zu Israel keine Frage sei“, sich bestätigt und der Mainstream Israel/das Judentum vergisst.
Nach dem 7. Oktober 2023 ist es nötiger denn je, Weinrichs Ekklesiologie zu praktizieren, und das heißt in einem ersten Schritt, das anzuerkennen, was wir in der Kirche wie in der Ökumene einander schuldig geblieben sind.
Barbara Schenck ist Social Media Pastorin beim Landeskirchenamt der Evangelisch-reformierten Kirche in Leer.
"Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. Unser Kampf heute geht um die teure Gnade. Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament.“ Es bleibt faszinierend, Dietrich Bonhoeffer im Original zu lesen. Denn das konnte der Theologe und Widerstandskämpfer gegen die NS-Diktatur, der wegen seines Einsatzes für die Freiheit in Deutschland von den Nazis, in diesen Tagen vor 80 Jahren, hingerichtet wurde. Bonhoeffer konnte schreiben. Er hatte die seltene Gabe, Dinge auf den Punkt zu bringen, und das ohne theologisches Wortgeklingel.
Nun ist Bonhoeffers wohl bekanntestes Buch Nachfolge neu aufgelegt worden. Das 1937 erstmals erschienene Werk hatte noch zu Bonhoeffers Lebzeiten zumindest in kirchlichen Kreisen eine große Wirkung, in diesem Werk konnte er noch alles selbst gestalten. Spätere, ähnlich starke Texte von ihm sind erst post mortem erschienen, manches schrieb er noch in seiner Kerkerzelle.
Doch schon die Nachfolge ist ein radikales Buch Bonhoeffers. Es ist geprägt von einem unmittelbaren, sehr persönlichen Glauben des Theologen an Christus und an die handlungsleitende Kraft seiner Bergpredigt. Beides wirkt noch heute furios. Da schrieb kein abgehobener, akademisch vorsichtig argumentierender Theologe, sondern ein Mann, der von Christus und seiner wohl wichtigsten Predigt, so sie denn im Kern richtig überliefert wurde, regelrecht in Flammen war. Und dies, obwohl er sowohl den Messias wie seine Botschaft natürlich seit seiner Kindheit schon tausendmal durchdacht hatte.
Bekannt ist die Aussage Bonhoeffers, die eine entscheidende Grundlage für die Nachfolge war, nämlich eine Art Erweckungs- oder Befreiungserlebnis während eines Aufenthalts in Gemeinden schwarzer Christen Anfang der 1930er-Jahre in New York. Rückblickend schrieb Bonhoeffer in einem Brief darüber: „Dann kam etwas anderes, etwas, was mein Leben bis heute verändert hat und herumgeworfen hat. Ich kam zum ersten Mal zur Bibel … Ich hatte auch nie oder doch sehr wenig gebetet. Ich war bei aller Verlassenheit ganz froh an mir selbst. Daraus hat mich die Bibel befreit und insbesondere die Bergpredigt. Seitdem ist alles ganz anders geworden.“
Bonhoeffer gab für Vikare der Bekennenden Kirche ab 1935 im illegalen Predigerseminar Finkenwalde fünf Halbjahreskurse zum Thema „Nachfolge“ – und was „Nachfolge“ für diese insgesamt 184 Vikare bedeuten konnte, war so hart wie klar: Verhöre durch Nazischergen, wahrscheinlich Zeiten der Haft und mindestens eine unsichere Zukunft als Pfarrer, da es unklar blieb, ob sie je eine feste Stelle finden würden. In Bonhoeffers Nachfolge spiegelt sich zwischen den Zeilen diese existenzielle Not und Entschlossenheit etwa in dem Satz: „Nur der Glaubende ist gehorsam, und nur der Gehorsame glaubt.“
Später distanziert sich Bonhoeffer sanft von der Nachfolge. In einem Brief aus der Haft notierte er am 21. Juli 1944, einen Tag nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler: „Ich dachte, ich könnte glauben lernen, indem ich selbst so etwas wie ein heiliges Leben zu führen versuchte. Als das Ende dieses Weges schrieb ich wohl die ‚Nachfolge‘. Heute sehe ich die Gefahren dieses Buches, zu dem ich allerdings nach wie vor stehe, deutlich. Später erfuhr ich und ich erfahre es bis zur Stunde, daß man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt.“
Dennoch, die Nachfolge heute zu lesen oder wieder zu lesen, bleibt ein immenser Gewinn. Es ist dem Bonhoeffer-Experten und Leipziger Theologen Peter Zimmerling als Herausgeber zu danken, dass er diesen Schatz erneut gehoben hat. Zimmerlings Einführung bringt Bonhoeffers Werk von 1937 zusätzlich zum Strahlen. Hoffentlich auch für eine neue Generation von Christenmenschen.
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.
Er wurde nur 27 Jahre alt. Der expressionistische Dichter Georg Trakl (1887–1914), Salzburger Bürgersohn, evangelisch getauft, kam Ende des 19. Jahrhunderts zur Welt und lebte in einer, die aus den Fugen geraten war. Seine traumatischen Erfahrungen als Sanitätsoffizier im Ersten Weltkrieg an der Ostfront in Galizien konnte er nicht verkraften.
Der Ton seiner Gedichte ist damit gesetzt. Diesen „Trakl-Sound“ nehmen der Regisseur Torsten Feuerstein und der Musikproduzent Rainer Oleak in einem Mammutprojekt auf und entwickeln ihn ins Heute weiter. Zweieinhalb Stunden lang werden mehr als 100 Gedichte des Österreichers von 32 Schauspielerinnen und Schauspielern gesprochen und interpretiert, unter ihnen Paula Beer, Maximilian Brückner, Hannah Herzsprung, Tobias Moretti, Clemens Schick und Albrecht Schuch. Und sie werden mit einem gelungenen, dezenten Soundkonzept für die Trackl’schen Sprachwelten unterlegt.
Die oft kurzen Verse begleiten Töne aus Rainer Oleaks Synthesizer, mal hintergründig, zurückgenommen, leise, mal abstrakt, immer gehen sie in den Dialog mit den Gedichten, nie dominieren sie diese. Trakls Sound, seine Düsternis und Weltverdrossenheit, unterstreicht der Komponist damit akustisch und schafft ein Klangerlebnis der besonderen Art. Die unterschiedlichen Menschen und Stimmen, die im Hintergrund bleibenden atmosphärischen, abstrakten Geräusche und Klänge variieren damit die oftmals abgründigen und morbiden Sprachwelten Trakls. Zu Anfang: „Grodek“, sein letztes Gedicht, das er 1914 unter dem Eindruck des Krieges schrieb, gelesen von Albrecht Schuch, der apokalyptische Zerfall der Welt nimmt seinen Lauf.
Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.