Kirchenasyl unter Druck
In den letzten Jahren hat das Kirchenasyl einen tiefgreifenden Wandel erfahren.
In den letzten Jahren hat das Kirchenasyl einen tiefgreifenden Wandel erfahren.
Jeden Donnerstag ab 19.45 Uhr mühe ich mich mit dem Frieden ab. Die Noten werden aufgeschlagen in der Kasseler Martinskirche und wir singen Stücke des Komponisten Arnold Schönberg (1874-1951). Los geht es mit dem Chorwerk „Friede auf Erden“. Alle Nicht-Musiker können sich das etwa so vorstellen: wenn Bach-Singen Dreiradfahren wäre, dann wäre Schönberg-Singen eher Einrad-Fahren auf dem Drahtseil. Ehe man sich versieht, ist man wieder aus dem Sattel gekippt irgendwo in Takt 123. Der Frieden in Schönbergs Werk ist ein gebrochener.
In dem Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer, das Schönberg vertont, wird der Frieden verheißende Gesang der Engel in der Weihnachtsgeschichte konfrontiert mit all den blutigen Taten im Laufe der Zeit. Dann spricht das Gedicht von dem unerschütterlichen Glauben an eine Gerechtigkeit, die sogar in Kriegszeiten wirke und schließt mit der Hoffnung auf eine Zukunft, in der sich der Frieden aus eigener Kraft durchsetzen werde. Manches Mal, wenn ich da donnerstags in der Kirche sitze und mit Anstrengung und Falten auf der Stirn versuche die Alt-Stimme zu singen, denke ich: ja, so fühlt sich das an, wenn die Welt gegenwärtig um den Frieden ringt, immer kurz davor, vom Drahtseil zu rutschen. Wenn ich dieses Werk singe, habe ich das Gefühl, dass kaum etwas ferner ist als dieser Friede, der da am Ende verheißen ist und doch kann ich nicht anders als davon zu singen mit all den Dissonanzen.
Ewiger Frieden?
1928 verfasst Schönberg einen Essay unter dem Titel „Fehlt der Welt eine Friedenshymne?“ Darin wird sein eigenes ambivalentes Verhältnis zu einer Möglichkeit des Friedens deutlich, indem er schreibt: „Wenn es vielleicht richtig ist, dass man religiös sein muß, wenn man Kirchenmusik schreibt, verliebt, wenn man Liebeslieder (…) schreiben will, so muß man doch gewiß nicht verwundet sein, um einen Verwundeten und sterbend, um einen Sterbenden zu schildern. Und so wäre es gewiß möglich, eine Friedenshymne zu komponieren, ohne daß man an einen ewigen Frieden glaubt.“
Wir proben das Stück für eine Aufführung, die anlässlich des 80. Jahres nach Kriegsende stattfinden wird. Noch ein weiteres Werk Schönbergs wird an dem Abend zur Aufführung kommen, nämlich „Ein Überlebender aus Warschau“. In diesem Melodram wird die Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto geschildert mit einer Brutalität und Intensität, die einem den Atem stocken lässt. Nach dem Krieg war Schönberg der erste, der sich traute, mit diesem Werk von der Shoah mit musikalischen Mitteln zu erzählen.
Musizierende Cowboys
Zur Geschichte dieses Werkes gehört eine skurrile Uraufführung. Kurt Frederick, ein Exilant und Musiklehrer aus Albuquerque (New Mexico) war ein großer Verehrer Schönbergs und bat ihn um die Ehre, den „Überlebenden aus Warschau“ uraufzuführen. Da der eigentliche Auftraggeber des Werkes kalte Füße bekam und es nicht zur Aufführung bringen wollte, erlaubte Schönberg Frederick die Uraufführung. Der hatte nicht mehr zur Verfügung als ein Orchester, das aus einem Haufen Cowboys bestand und so übten diese Cowboys in monatelanger Schwerstarbeit dieses viel zu anspruchsvolle Stück und brachten es schließlich in einer Turnhalle zur Aufführung. Als nach dem ersten Musizieren keine Reaktion vom Publikum kam, musizierten sie es erneut. Danach folgte frenetischer Applaus.
Mich berührt dieses Bild sehr. Ein Haufen Cowboys, die eigentlich völlig überfordert sind mit diesem Notentext und trotzdem alles daransetzen, den schreienden Ungerechtigkeiten der Shoah einen Klang zu geben und am Ende das Schma Jisrael intonieren. Mich begleitet das Bild dieser Uraufführung seit einigen Wochen. Für mich ist es wie ein Sinnbild geworden für das Ringen um Frieden in einer kriegsdurchfurchten Welt. Mit der weißen Taube und dem Zweig im Schnabel kann ich schon länger kaum noch etwas anfangen. Zu oft ist sie verkitscht worden, gerade in letzter Zeit. Die Cowboys aus Albuquerque sind mein Bild vom Frieden in diesen Tagen. Menschen, die völlig überfordert sind und dennoch gemeinsam diese Musik machen, so gut sie eben können. Oft spüre ich Ohnmacht angesichts der politischen Großwetterlage und all dem, was sich da vor unseren Augen im Moment weiter dramatisiert. Nichts kann ich tun, um die politische Weltbühne zu beeinflussen. Aber was ich tun kann, ist jeden Donnerstag um 19.45 Uhr aufs Einrad steigen und Schönberg singen unter größter Anstrengung und Einsatz, wie ein echtes Cowgirl eben.
Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.
Seit acht Jahren gibt es in Deutschland einen Beauftragten für Religionsfreiheit. Ob es dieses Amt auch künftig gibt, ist nicht sicher.
Auf der Suche nach einem inspirierenden Ort für einen Klausurtag mit einem kleinen Team der Diakonie Deutschland fiel unsere Wahl neulich auf die Erinnerungs- und Begegnungsstätte Bonhoeffer-Haus in der Marienburger Allee im Berliner Westend. Ab 1935 lebte Dietrich Bonhoeffer dort bei seinen Eltern Paula und Klaus und seiner Großmutter, wenn er in Berlin war. Betritt man das bürgerliche Wohnhaus, erahnt man, wie sehr das liberale Elternhaus, wie sehr humanistische und naturwissenschaftliche Bildung, wie sehr die Erziehung zu einer verantwortungsbewussten Haltung und der Familienverbund Bonhoeffer geprägt haben. Nicht zuletzt in der Geborgenheit dieser Familie entwickelten sich Zivilcourage und der Widerstand gegen das NS-Regime. Der besonderen Atmosphäre des Studierzimmers Bonhoeffers im Dachgeschoß kann sich kaum jemand entziehen, dem Bonhoeffers Theologie und sein mutiges Zeugnis etwas bedeuten.
Umgeben von einer etwas in die Jahre gekommenen, aber immer noch sehenswerten Fotoausstellung zu Leben und Werk des Theologen konnten wir uns im Tagungsraum der Erinnerungsstätte Themen zuwenden, die uns in der Diakonie beschäftigen: die gesellschaftliche Polarisierung, die Gefährdung von Demokratie und Rechtsstaat, Anerkennung und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt, ungelöste sozial- und gesundheitspolitische Probleme und die Frage, wie die Diakonie ihren Auftrag, für Menschen in Not mit Unterstützungs- und Betreuungsbedarf da zu sein, heute bestmöglich erfüllen kann.
Nein, wir haben nicht erwartet, bei Bonhoeffer konkrete Antworten auf diese Fragen zu finden. Jede Zeit braucht ihre eigenen Antworten. Doch das theologische Nachdenken Bonhoeffers kann uns in unserer Arbeit inspirieren und orientieren – auch für inhaltliche Weichenstellungen in der Diakonie. Es ermutigt, sich couragiert für die Menschenwürde einzusetzen, nicht zu schweigen, wenn Unrecht geschieht und Menschen herabgewürdigt werden. Es ermahnt uns, die Welt aus der Perspektive „der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden“ (Widerstand und Ergebung, DBW, Band 8, Seite 38) zu sehen und im Leiden des Nächsten Christus zu erkennen. Bonhoeffer macht deutlich, dass eine Kirche – und damit auch die Diakonie – nur Kirche ist, wenn sie für andere und mit anderen da ist, wenn sie Menschen in Not und Angst zur Seite steht, wenn sie Partei nimmt für Mitmenschlichkeit, für Recht und Gerechtigkeit.
Es ist ein Segen, dass das Bonhoeffer-Haus als Erinnerungsort erhalten, genutzt und weiterentwickelt wird, dass in diesem geschichtsträchtigen Haus an das Versagen unserer Kirche in der NS-Zeit, an den Mut und die Zivilcourage Einzelner und an das Erbe Bonhoeffers erinnert wird. Der Vereinnahmung dieses Erbes durch nationalistische und rechtsextreme Kreise und der ideologischen Instrumentalisierung durch religiöse Fanatiker treten die hier engagierten Menschen entschieden entgegen. Auch das verdient großen Respekt. Über die erinnerungskulturelle Arbeit hinaus ist es ein wunderbarer Ort für ein vertieftes Nachdenken über das, was uns in unserer diakonischen Arbeit leitet. Ein Besuch lohnt, unbedingt.
Pfarrer Rüdiger Schuch ist Präsident der Diakonie Deutschland in Berlin und Herausgeber von zeitzeichen.
Bald öffnet der 39. Deutsche Evangelische Kirchentag in Hannover seine Pforten. Motto: mutig – stark – beherzt.
Kürzlich lernte ich in einer angesehenen Fernsehsendung, es war der Presseclub des WDR, durch einen jungen Kollegen das Wort „Clusterfuck“ kennen. Das ist meines Erachtens nach zwar auch kein deutsches, aber zumindest doch ein noch drastischeres Wort für das, was allerorten mit „Dysfunktionalität“ bezeichnet wird.
Wovon ich rede? Na davon, wie sich alles zurzeit irgendwie anfühlt, nämlich, dass „es“ den Bach runtergeht. You know what I mean … Aber wenn man inmitten dieser mühseligen Wirklichkeit dann auch noch einen elfteiligen Schlüsselbund verliert, an dem neben den Wohnungsöffnern (ersetzbar – nur beim Haustürschlüssel müsste man beim Vermieter antichambrieren, könnte unangenehm werden, aber ist überlebbar), dem Fahrradschlüsselchen (seufz, es war der letzte dieses ABUS-Stammes, und Du Schlunz hast vergessen ihn nachzumachen, als der erste abbrach, insofern muss das Über-100-Euro-Schloss aufgeknackt werden) leider auch noch die hoch und heilig anvertrauten Schlüssel für das Kirchengebäude hängen (Mein Gott, die machst Du doch sonst immer nur separat dran, warum hast Du sie an diesem vermaledeiten Tag gen Berlin mitgeschleppt!!), dann droht es echt peinlich zu werden, sprich ärgerlich, dann tanzen Larmoyanz und Angst einen Pas de deux.
Doch wie heißt es in Hölderlins Hymne Patmos: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ So widerfuhr es auch mir: Ich musste den dicken Bund im ICE verloren haben, hatte das annonciert – Verlustmeldung Onlineformular –, und nach zehn (!) Tagen klingelte das Telefon: „Hier Koslowski, Bahnfundbüro Wuppertal, ich glaub, wir hamm Ihr Teil …“. Herrlich. Danke. Halleluja. Und sollte ich jemals über Erlösung im Alltag sprechen müssen, den Einstieg hätte ich, und der Reißverschluss der Tasche, wo der Schlüssel ruht, der bleibt künftig ewig im ICE verschlossen. Hoffentlich …
Reinhard Mawick ist Chefredakteur und Geschäftsführer der zeitzeichen gGmbh.
Der homo digitalis, der fingernde Mensch, ist inzwischen allgegenwärtig.
Gerade halte ich, wie seit vielen Jahren, Vorlesungen in Jerusalem und wohne daher in einem Studienhaus, das im Garten einer deutschen Benediktinerabtei liegt, genauer der Abtei Dormitio Mariae auf dem Zionsberg, direkt am Abendmahlssaal, vor den Toren der Altstadt, eigentlich im Niemandsland zwischen Israel und Palästina und doch zugleich mittendrin. Da könnte ich natürlich von Friedensdemonstrationen vor der Knesset, Raketenalarm auf dem Handy und Studierenden im Bunkerkeller erzählen, von Ramadan unter Kriegsbedingungen und vielem anderen mehr.
Aber zur Wirklichkeit Jerusalems gehört auch, dass neben der Politik immer auch die Religionen den Kalender bestimmen. Und die Christenheit feiert nun einmal mitten in diesen politisch so schwierigen Tagen zwischen Waffenstillstand und Krieg im Nahen Osten das Jubiläum des ersten Reichskonzils – eintausendsiebenhundert Jahre Konzil von Nizäa. Und die Zahl muss man ausschreiben – welche Synode unserer Tage wird es schon hinbringen, dass in nächtlichen Arbeitsgruppen zusammengeschusterte und dann am Tage durch die Vollversammlung der Teilnehmenden approbierte Kompromisspapiere nicht in amtlichen Drucksachen verschwinden und von Gemeinden missmutig abgeheftet werden, sondern tatsächlich so viele hundert Jahre sich bewähren und in Ehren gehalten werden?
Aber schon kommen die Bedenken: Es war ja nicht der in Nachtarbeit erstellte, dem Kaiser vorgelegte und schließlich von der Vollversammlung der Bischöfe approbierte Text des Konzils von Nizäa, der zum gottesdienstlichen Bekenntnis avancierte, sondern eine im Umfeld des großen Reichskonzils von Konstantinopel 381 n.Chr. erstellte, deutlich veränderte Version, die dann im folgenden Jahrhundert noch einmal von einem Konzil approbiert wurde. Und kann man heute tatsächlich noch davon sprechen, dass der Text sich in unseren Kirchen und Gemeinden bewährt? Wird er tatsächlich in Ehren gehalten?
Freiwillige Aufgabe
Kommt, so muss man ehrlich sagen, darauf an. Jüngst wollten Verantwortliche für einen festlichen Gottesdienst in Berlin, wie sich’s nach den liturgischen Regeln gehört, das Nicaeno-Constantinopolitanum, also den noch einmal veränderten Text von Nizäa, ins Programm drucken und dann gemeinsam von allen Gemeindegliedern sprechen lassen. Das geht, wie alle wissen, die Gottesdienste leiten, in den meisten evangelischen Gemeinden eigentlich nur gut, wenn die Pfarrperson über das Mikrofon den Text laut vorspricht und so die Gemeinde anleitet. Der Text ist einfach den meisten zu wenig vertraut, als das die Gemeinde von selbst in einen Rhythmus findet. Eigentlich finde ich das nicht schlimm, Ähnliches kann man für manche Kirchenlieder beobachten, da müssen dann Orgel und die, die sie spielen, diese leitende Rolle übernehmen. Aber in dem Fall, an den ich gerade denke, agierte die liturgisch verantwortliche Person (übrigens ein Superintendent) anders. Er riet vom Nicaeno-Constantinopolitanum ab. Die Gemeinde verstehe es nicht, er verwende es nicht mehr.
Solche freiwillige Aufgabe eines traditionsreichen Textes lässt sich gegenwärtig an vielen Stellen beobachten, nicht nur im evangelischen Raum. Da schreiben römisch-katholische Theologieprofessoren Bücher und behaupten, Theologie müsse heute vom Philosophen Kant ausgehen und könne daher unter ganz anderen philosophischen Voraussetzungen antike Texte nicht mehr wörtlich nehmen. Ihre evangelischen Kollegen fragen sich, ob man den Glauben in Formel pressen dürfe und Bekenntnisse unverändert verwenden dürfe, in denen Abschnitte zur Ethik der Feindesliebe Jesu fehlen. Ich für meinen Teil bin weder der Ansicht, dass ich alles in einem Gottesdienst sofort verstehen muss und darin das zentrale Auswahlkriterium für eine Liturgie liegt, noch ist in meiner Theologie der Philosoph Kant eine der Bibel vergleichbare Autorität, über die nichts Größeres gedacht werden kann. Und schließlich wird in meinen Gottesdiensten die Ethik der Feindesliebe Jesu schon allein dadurch präsent, dass jeden Sonntag eine Erzählung über unseren Herrn und Heiland aus dem Evangelium gelesen wird. Aber natürlich ist mir deutlich, dass ich mit diesen Ansichten nur einen Teil der gemeindlichen Wirklichkeit unseres Landes repräsentiere. Im Jubiläumsjahr kann man in der evangelischen Kirche nicht einfach feiern, sondern muss viel erklären, auf Einwände Rücksicht nehmen und die, die Schwierigkeiten haben, abholen (wie es so schön heißt).
Zauberhafte Bibelstelle
Bis vor wenigen Tagen dachte ich, im Jubiläumsjahr des Konzils von Nizäa bestünde meine Aufgabe vor allem darin, Vorträge zu halten. Vorträge auf wissenschaftlichen Kongressen, Vorträge in verschiedensten Gemeinden, immer wieder mal neu zugespitzt, mit einem neuen wissenschaftlichen Fündlein, aber eben vor allem in Vortragsform. Das habe ich nun auch schon fleißig getan, Kongresse zum Thema gibt es seit mindestens drei Jahren – Oxford und Berlin, aber auch online, nächste Woche in Rom, Ende April in Istanbul und Nizäa selbst. Gemeindevorträge halte ich auch schon länger und das alles mit großem Vergnügen. Man kann ja nur von Herzen dankbar sein, wenn das eigene universitäre Fach, die Geschichte des antiken Christentums, mal so gut gefragt ist, auch außerhalb der Universität.
Hier in Jerusalem geschah nun Unerwartetes. Da das Studienhaus, in dem ich gerade wohne und arbeite, im Garten einer Benediktinerabtei liegt, nutze ich die Gelegenheit, durch den Garten zur Abteikirche zu gehen und dort das Stundengebet und die Liturgien mitzufeiern. Am Dienstag war Mariae Verkündigung, neun Monate vor Weihnachten das Fest, was daran erinnert, dass Gott Mensch werden wollte mit Hilfe einer einfachen Frau aus Nazareth. Auch im vorzüglichen Kalender „Kirchenjahr evangelisch“, den verschiedene evangelisch-lutherische Kirchen Deutschlands online anbieten und der biblische Lesungen, Liedvorschläge und allgemeine Informationen zum Tag bietet, findet sich dieses Fest unter der Rubrik „weitere Fest- & Gedenktage“, wird aber, wenn ich recht sehe, im evangelischen Raum eher selten gefeiert. Dabei ist „Ankündigung der Geburt Jesu“ durch den Engel Gabriel und die Antwort von Maria eigentlich eine zauberhafte Bibelstelle, die man ruhig einmal gottesdienstlich feiern kann.
Loch im Schuh
In der Jerusalemer Abteikirche, deren lateinischer Name daran erinnert, dass Maria der Überlieferung nach in dem, auf dem Zion befindlichen urgemeindlichen Zentrum friedlich im Kreise der Jüngerinnen und Jünger eingeschlafen ist, wird das Marienfest Mariae Verkündigung natürlich gefeiert. Und wie es sich für ein katholisches Hochfest gehört, mit lateinischen Teilen im deutschen Gottesdienst, schließlich kommen, wenn nicht gerade Krieg herrscht, viele Touristen aus aller Herren Länder. Und so fügte es sich, dass in der ersten Messe am Vorabend, also am Montag, das große, für Feste vorgesehene Nicaeno-Constantinopolitanum, lateinisch gesprochen wurde. Text und Melodie stehen im katholischen Gesangbuch, dem Gotteslob, natürlich mit deutscher Übersetzung. Und sie werden im Wechsel zwischen Kantor, Mönchen der Abtei und Gemeinde gesungen. Nach einer, wie ich jedenfalls finde, sehr schwungvollen mittelalterlichen Melodie, die man schnell gelernt hat. Was ich aber zum ersten Mal erlebte (wenn ich mich recht erinnere), war, dass in das Gottesdienstprogramm eingedruckt war bei der Zeile et incarnatus est de spiritu sancto ex Maria virgine, et homo factus est (Er „hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist von der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden“) „alle knien“. Haben alle gekniet bei der Zeile, wie es im Programm stand?
Mit dem Knien ist das so eine Sache. Als ich konfirmiert wurde, war niemandem aufgefallen und leider auch nicht mir, dass ich in der Sohle des rechten Schuhs ein größeres Loch hatte. So wurde mir ein neuer Anzug gekauft, den ich stolz trug, aber beim Knien am gotischen Altar unserer Berlin-Dahlemer Dorfkirche sah, so dachte ich jedenfalls, jeder mein Loch an der Sohle. Und so war ich ganze Teile des Gottesdienstes damit beschäftigt, mir zu überlegen, wie ich das peinliche Manko wohl würde verdecken können und kniete mich deswegen falsch im Alphabet nieder, was der Pfarrer glücklicherweise rechtzeitig bemerkte und mich nicht unter falschem Namen mit falschen Bibelspruch konfirmierte. Bei Helmut Gollwitzer in der Jesus-Christus-Kirche nebenan kniete man noch während des Abendmahlsempfangs an einer inzwischen entfernten halbhohen Schranke vor dem Altar. Der schon etwas in die Jahre gekommene Professor hatte dann und wann seine redliche Mühe mit dem Kippen des Kelches an die Münder seiner kommunizierenden Gemeinde.
Sprechende Geste
Ob ich im Zuge meiner kirchlichen Trauung, bei meiner Ordination zum evangelischen Pfarrer, bei meiner Einsetzung als Ordensdekan des Johanniterordens gekniet habe, weiß ich nicht einmal mehr. Jedenfalls setzt bei jedem Knien bei mir seit Konfirmandentagen eine Sturzflut von Gedanken ein: Kann ich die Schuhsohlen vorzeigen? Komme ich auch einigermaßen elegant wieder auf die Füße? Und bei römisch-katholischen Gottesdiensten überlege ich auch immer noch einmal: Kann ich das als evangelischer Christenmensch theologisch verantworten? Werden die katholischen Freundinnen und Freunde meine Geste auch richtig verstehen? Wenn alle bei der Wandlung der eucharistischen Elemente knien, bleibe ich meist sitzen. Auch wenn ich von der Gegenwart Jesu Christi in, mit und unter den Elementen des Abendmahls überzeugt bin, möchte ich eigentlich nicht zu Ehren einer Wandlung, der Transsubstantiation, knien. Und trotzdem: Manchmal knie ich doch. Weil ich denke, dass ich sonst als Protestant alle Vorurteile bestätige darüber, dass wir die Elemente im Abendmahl nicht ernst nehmen.
Jetzt, beim et incarnatus im Nicaeno-Constantinopolitanum, war das anders. Da habe ich gern gekniet. Und ganz unbesorgt über Sohlen und das Wieder-auf-die-Füße-kommen. Weil ich dachte: Was für eine schöne, sprechende Geste. Gott wird Mensch und wir danken ihm, dass er in unsere arge Welt gekommen ist, indem wir auf die Knie fallen. Er thront nicht in der Höhe, unerreichbar für uns, sondern begegnet uns in dem Mann aus Nazareth. Wenn die Seele so erhoben wird, darf man ruhig mal dankbar auf die Knie fallen. Es fielen übrigens auch alle auf die Knie, Volontäre, evangelische wie katholische Studierende, die Mönche natürlich sowieso.
Mit Leib und Seele
Unmittelbar nach diesem Erlebnis habe ich im Gemeindesaal der Evangelischen Erlöserkirche in Jerusalem übrigens einen Vortrag über das Konzil von Nizäa gehalten. Aber ich habe ihn anders gehalten. Weil mir nun deutlich ist: Wir müssen das Konzil nicht nur durch Vorträge und Kongresse feiern. Wir können es auch in Gottesdiensten feiern. Wir können vor allem davon lernen, wie andere christliche Konfessionen mit dem Bekenntnis des Konzils umgehen und wie sie ihre Ehrfurcht vor dem Text bezeugen. Natürlich müssen bei uns nicht alle knien und werden vermutlich auch nicht knien. Aber einladen, es einmal auszuprobieren – das kann man ja schon. Sich von den römisch-katholischen Schwestern dazu einladen lassen, es zu tun. Das kann man auch.
Ich fühle mich herausgefordert, noch einmal in ganz anderer Weise dafür zu sorgen, dass das alte Bekenntnis, der eintausendsiebenhundert Jahre alte Kompromisstext unter uns lebendig wird und lebendig bleibt. Angeregt, dass wir ihn mit dem Verstand zu verstehen suchen, aber uns ihm auch mit Leib und Seele nähern in diesem Jubiläumsjahr. Und durchaus auch mal mit Knien. Und was unsere Schwesterkirchen sonst so anstellen mit dem alten Text. In unseren schwierigen Zeiten von Krieg und Krise, gerade im Nahen Osten, kann man eigentlich nur von Herzen dankbar sein, wenn man einmal regelrecht körperlich abgelenkt wird und auf andere Gedanken kommt. Auch dazu sind Jubiläen schließlich da.
Christoph Markschies ist Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er lebt in Berlin.
Für einen Neuanfang ist dieser Raum bestens geeignet. In fast unberührtem Weiß strahlt die radikal neugestaltete St.
Kirsten Fehrs ist Ratsvorsitzende der EKD und Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck.