Soll die Wehrpflicht wieder eingeführt werden?
Soll die Wehrpflicht wieder eingesetzt werden?
Die Bundeswehr wird heute 70 Jahre alt, doch über ihre Zukunft wird gestritten. Soll die ausgesetzte Wehrpflicht angesichts der wachsenden Gefahr eines Kriegs wieder eingesetzt werden? Roger Töpelmann, ehemaliger Mitarbeiter des früheren evangelischen Militärbischofs Sigurd Rink, ist dafür. Ihm widerspricht Birgit Wehner, Co-Vorsitzende der katholischen Friedensbewegung "pax christi"
Können wir Krieg?
Diese unabsehbar schwierigen Zeiten fordern ein „mind change“ - und die Kirche sollte sich klar dazu bekennen
Als die allgemeine Wehrpflicht 2011 auf Vorschlag des damals amtierenden Verteidigungsministers Karl Theodor zu Guttenberg (CSU) durch Bundestagsbeschluss ausgesetzt wurde, hieß es, sie könne ebenso leicht wieder in Kraft gesetzt werden. Heute: Ein Hauen und Stechen um die Wiedereinsetzung. Die aktuellen Debatten zeigen ein verstörendes Bild: Ein neuer Wehrdienst soll vor allem auf Freiwilligkeit bauen. Wer ihn ableisten muss, wird durch Losverfahren ermittelt. Alle ideellen Prinzipien wie Freiheit, Demokratie und nationale Selbstbestimmung spielen – obwohl historisch äußerst bedeutsam – offensichtlich keine große Rolle. Das Verteidigungsministerium sieht eine sechsmonatige Ausbildungszeit für ausreichend an und jeder könne selbst entscheiden, ob er hier noch eine Zeit draufsatteln will. Bis zu 23 Monate oder auch länger.
Der Dienst in der Truppe ist vor allem wegen der aktuellen politischen Bedrohungslage – vornehmlich durch Russland – zwingend und richtig. Ein Erproben anderer Wehrdienstmodelle verbietet sich schon deshalb, weil sie erhebliche Risiken bergen. Was passiert, wenn über die neue Auswahl nicht genügend Wehrdienstleistende gefunden werden? Wird dann weiter experimentiert?
Die „alte“ Bundeswehr garantierte, dass die jungen Männer nach dem Schulbesuch – heute heißt das „Gap-Year“ - auch anders Ausgebildete kennenlernen konnten: Soziale Schichten traten in eine Begegnung ein, wie sie die Gesellschaft nirgends sonst garantieren konnte. Abiturienten und Handwerker, Studierwillige und Berufserfahrene kamen in den Kasernen zusammen. Zu einer gemeinsamen Verpflichtung. Sehr viele ehemalige Wehrpflichtige beschreiben diese Zeit als Reifeprozess, als politische und persönliche Erweiterung ihrer jugendlichen Perspektiven. Rückblickend auf ihre persönliche Biographie stellen viele ehemalige Wehrpflichtige der Bundeswehr ein beachtlich positives Zeugnis aus: Viele sagen, sie hätten im Wehrdienst den Sinn von Zusammenhalt, Kameradschaft und gemeinsamen Handelns erfahren. Von den technischen Ausbildungen gar nicht zu reden.
Auch die Kirchen sprachen bei der ethischen Ausrichtung der Soldatinnen und Soldaten mit ihrer Seelsorge in der Bundeswehr ein klares Wort mit. Mehr noch: Aller Wahrscheinlichkeit nach ist eine deutsche Armee niemals zuvor so klar am Anspruch christlich-abendländischer Ethik orientiert worden. Auch deshalb, weil das Recht auf Kriegsdienstverweigerung mit dem Gewissensvorbehalt nie in Frage stand, ja sogar in der Volksarmee der DDR möglich war.
Wie wichtig die Bundeswehr die Begleitung der Kirchen nahm, ließ sich bei einer Rekrutenvereidigung 2016 in Berlin sehen: Der Berliner Bischof a.D. Wolfgang Huber und ehemalige Ratsvorsitzende der EKD würdigte den Deutschen Widerstand am heutigen Berliner Sitz des Verteidigungsministeriums und sagte vor den jungen Männern und Frauen in Uniform: Die Vereidigung ist ein Gelöbnis für die Zukunft…ein solcher Dienst ist nicht selbstverständlich. Aber es gelte: „Dieser Staat wird euch nicht missbrauchen.“ Und: Es könne kein Handeln ohne Bereitschaft zur Übernahme von Schuld geben. Da berief er sich auf Dietrich Bonhoeffer.
Schon frühere Zeitgenossen kannten das Dilemma von Schuld und Opfer: Wer die Gefallenentafeln in einer Kirche nahe den Schlachtfeldern von 1813/14 gegen Napoleon in den Freiheitskriegen südlich von Berlin liest, weiß: Es waren junge Bürger ihrer Zeit: der eine Landwehrmann, der andere Musketier, der Dritte Füsilier, die mit Anfang 20 ihr junges Leben als Soldaten hingaben: Wissentlich oder unwissentlich. Ihre patriotische Entscheidung zeigt das Dilemma.
Die EKD hat sich trotz des neuen Vorranges des Schutzes vor Gewalt im Konzept des Gerechten Friedens in ihrer neuen Friedensdenkschrift nicht zu einer klaren Unterstützung der Wehrpflicht entschließen können. Grundsätzlich soll die Freiwilligkeit Vorrang haben. Und wenn es wieder eine Verpflichtung geben soll, dann wäre eine allgemeine Dienstpflicht wünschenswert. Ob diese aber auch für Frauen gelten solle, will die EKD der gesellschaftlichen Debatte überlassen. Gerade als Fürsprecherin einer jungen Generation sollte sich die evangelische Kirche aber klarer äußern.
So schwierig wie die Dinge heute liegen, nach über 30 Jahre Frieden holt die deutsche Gesellschaft die Frage in der Bundeswehr ein: Können wir Krieg?
Die Antwort ist überraschender als man gemeinhin denkt: Jeder 3. junge Deutsche sieht sich als wehrbereiter Realist und eine absolute Mehrheit der Männer im wehrfähigen Alter befürwortet einen neuen Wehrdienst und zeigt sich bereit, das Land mit der Waffe zu verteidigen. Militärsoziologen sehen deshalb die junge Generation nicht in Fatalismus oder Pazifismus gefangen.
Was ist das Resümee? Die EKD hätte mit ihrer neuen Friedensdenkschrift auch eigene Fehleinschätzungen bekennen können: Trotz zahlloser politischer und internationaler Krisen über Jahrzehnte hin, hielt sie eine militärisch wehrhafte Gesellschaft für weitgehend entbehrlich. Auch ein klares Ja zu atomaren Abschreckung wäre wünschenswert gewesen. Denn diese unabsehbar schwierigen Zeiten fordern einen „mind change“.
Es spricht viel dagegen
Ein Staat, der junge Menschen zum Dienst an der Waffe verpflichtet, behandelt sie nicht mehr als selbstbestimmte Subjekte, sondern als Ressourcen für den Ernstfall.
Die Forderung nach einer Wiedereinführung der Wehrpflicht passt in die aktuelle Forderung nach Kriegstüchtigkeit. Sie ist auch ein Indiz dafür, dass man sich vom Grundgedanken „Nie wieder Krieg“ und damit der Suche nach gewaltfreien Konfliktlösungen langsam verabschiedet. Und sie gehört in den Bereich der Aufrüstung, die mit der Erhöhung des Wehretats und Einkauf von Kriegswaffen ihren Anfang nahm. Argumentiert wird, dass nur so Sicherheit zu schaffen sei, gesellschaftlichen Zusammenhalt gefördert werde und junge Menschen zu Disziplin und Verantwortungsbewusstsein erzogen würden – getreu dem Spruch aus der Mottenkiste des Kalten Krieges „Als Muttersöhnchen sind sie gekommen, als Männer verlassen nach Ableistung des Wehrdiensts die Kaserne“. Und es zeigt sich, dass eine Rückkehr zur Wehrpflicht noch weiter geht als eine organisatorische Maßnahme der Verteidigungspolitik. Sie berührt Grundfragen des Menschenbildes, der Freiheit und der Verantwortung.
1. Der Mensch als Zweck, nicht als Mittel: Im Zentrum der Ablehnung der Wehrpflicht steht das Prinzip der Menschenwürde. Eine Wehrpflicht aber macht den Einzelnen zum Instrument staatlicher Interessen – ob zur Landesverteidigung, zur Symbolpolitik oder zur moralischen Disziplinierung einer vermeintlich „orientierungslosen Jugend“. Er ist Teil der Aufrüstung genauso wie eine Mittelstreckenrakete. Ein Staat, der junge Menschen zum Dienst an der Waffe verpflichtet, behandelt sie nicht mehr als selbstbestimmte Subjekte, sondern als Ressourcen für den Ernstfall.
2. Das Gewissen als Grenze staatlicher Macht: Die Entscheidung, Gewalt anzuwenden, ist keine technische oder organisatorische Frage, sondern eine moralische. Sie betrifft den innersten Bereich menschlicher Selbstbestimmung – das Gewissen. Hannah Arendt nannte das Gewissen den Ort, an dem der Mensch „mit sich selbst im Einklang bleiben“ muss. Wer gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln oder Handlungen mitzutragen, die es verletzt, verliert seine innere Freiheit, auch wenn er äußerlich gehorcht. Nicht alle jungen Menschen sind in der Lage, diese Zusammenhänge zu sehen und ihre innere Verfasstheit gut genug zu erkennen, um von ihrem Recht der Wehrdienstverweigerung Gebrauch zu machen. Jugendliche und junge Erwachsenen, die nicht von ihren Eltern unterstützt werden können, sind hier entscheidend benachteiligt. Anders als in den 90-ziger Jahren des letzten Jahrhunderts sind zudem junge Menschen derzeit einem viel höheren gesellschaftlichen Druck ausgesetzt.
3. Die seelische Verwundbarkeit der Jugend - Viele Befürworter übersehen, dass junge Menschen im Alter zwischen 18 und 20 Jahren in einer besonders sensiblen Entwicklungsphase stehen. Sie suchen Orientierung, Identität und moralische Maßstäbe. Eine Pflicht, in der sie lernen sollen, zu gehorchen, bevor sie gelernt haben, zu urteilen, ist gefährlich. Das Erleben von Gewalt, die Erfahrung von Befehl und Unterordnung, oder gar die Beteiligung an Tötungshandlungen hinterlassen Spuren, die das Leben prägen können – oft in Form von Schuldgefühlen, innerer Leere oder Entfremdung. Eine Gesellschaft, die junge Menschen solchen Belastungen aussetzt, um ihre Verteidigungsfähigkeit zu sichern, verkennt den Wert der seelischen Unversehrtheit.
4. Freiheit statt Zwang – Verantwortung statt Gehorsam Die Befürworter der Wehrpflicht behaupten oft, sie stärke den Zusammenhalt und das Verantwortungsgefühl. Doch echter Zusammenhalt entsteht nicht durch Zwang, sondern durch Einsicht. Verantwortung kann man nicht befehlen, man muss sie lehren – durch Bildung, Dialog und Vorbild, nicht durch Befehlsketten. Der Gedanke, Disziplin und Gemeinsinn durch Zwangsdienste zu erzeugen, ist ein pädagogischer Irrtum aus anderen Zeiten.
5. Der Staat als Partner, nicht als Herr - Die Wehrpflicht steht sinnbildlich für ein Verhältnis zwischen Staat und Bürger, das auf Kontrolle und Unterordnung basiert. Doch eine moderne Demokratie beruht auf Vertrauen: Der Staat traut seinen Bürgerinnen und Bürgern zu, freiwillig Verantwortung zu übernehmen. Dieses Vertrauen ist kein Risiko, sondern die Voraussetzung politischer Reife. Wenn der Staat statt Vertrauen wieder auf Zwang setzt, sendet er ein gefährliches Signal: dass Freiheit ein Luxus sei, den man sich in Krisenzeiten nicht leisten könne.
6. Friedliche Wehrhaftigkeit als moderne Antwort - Die Herausforderungen der Gegenwart – Klimakrise, Desinformation, soziale Spaltung – werden nicht durch militärische Stärke gelöst, sondern durch Bildung, Kooperation und Methoden der Gewaltfreien Konfliktbewältigung. Eine „friedliche Wehrhaftigkeit“ bedeutet, die geistigen und sozialen Grundlagen einer stabilen Gesellschaft zu stärken: Empathie, Zivilcourage, Dialogfähigkeit, kritisches Denken. Eine Demokratie, die in die Jugend vertraut und ihr Raum zur freiwilligen Mitgestaltung gibt – in sozialen, ökologischen oder internationalen Diensten –, schafft mehr Sicherheit als eine, die sie zum Kasernengehorsam zwingt.
Roger Töpelmann
Dr. Roger Töpelmann ist Theologe und war von 2015 bis 2020 Mitarbeiter des Evangelischen Militärbischofs, - im Handlungsbereich Evangelische Seelsorge in der Bundeswehr (HESB) in Berlin.
Birgit Wehner
Birgit Wehner ist Co-Vorsitzende der katholischen Friedensbewegung "pax christi".