Eine Schwäche für Calvin
Unser Online-Kolumnist Klaas Huizing tritt in den Dialog mit dem Philosophen Slavoj Žižek, der sich als Fan des Reformators Calvin geoutet hat. Gut so, meint Huizing, aber leider hat Žižek ihn nicht verstanden.
Sehr geehrter Herr Kollege Žižek!
Mit großer Lust habe ich, ein gelernter holländischer Calvinist, der vor über dreißig Jahren zum Luthertum konvertiert ist, Ihr Interview in der Süddeutschen Zeitung vom 12. März 2025 unter der Überschrift „Europa muss eine neue Supermacht werden“ gelesen. Überraschend war der Schlussakkord: „Wir sollten uns auch auf den subversiven Kern des Christentums besinnen.“
Als Leser glaubte ich das Erstaunen in der Stimme des Interviewers zu hören: „Das Christentum?“ Ihre Antwort: „Ich meine damit nicht diese Vorstellung von Gott als einem guten alten Mann oder einer höheren Macht, die einen glücklichen Ausgang garantiert. Nein, diese Idee stirbt am Kreuz.“ Nachfrage des Interviewers: „Mit der Kreuzigung von Christus?“ Ihre Antwort: „Ja, die Botschaft des Christentums lautet: Gott kehrt als Heiliger Geist zurück. Der Heilige Geist ist eine egalitäre Gemeinschaft von Gläubigen, die völlig frei und für ihr eigenes Handeln verantwortlich sind. Deshalb mag ich ja auch Calvin.“ Ich ahnte das ungläubige Gesicht des Fragenden: „Was mögen Sie am Genfer Reformator?“ Ihre finale Antwort: „Er war ein bisschen totalitär. Aber er hat immer auf ein Misstrauen gegenüber den Mächtigen bestanden – und darauf eine Regierung zu stürzen. Ich denke, ein authentisches Christentum als eine Gemeinschaft der Gleichberechtigten braucht einen neuen Calvin. Mehr als einen neuen Luther. Der war zu sehr auf Kompromisse aus. In vielen Weltgegenden herrscht die Vorstellung, dass man sich nicht um einen Beitrag zur Gesellschaft kümmern, sondern sein kleines Leben genießen sollte – und dass man dabei alles um sich herum verrotten lassen darf. Das scheint mir dann auch die wahre Gefahr zu sein: dass die große Mehrheit der Menschen gleichgültig wird, statt die Grundprinzipien der Aufklärung zu verteidigen.“
Flirt mit Theologie
Ihr Finale lockt mit einem Konsensangebot. Ein protestantischer Theologe flirtet stets mit Kant als dem „Philosophen des Protestantismus“. Und auch der Rückgriff auf den Franzosen Calvin hat Charme, denn Calvin war ein ausgebildeter Humanist, seine erste große Veröffentlichung war eine hochgelehrte Kommentierung von Senecas De clementia. (Über die Güte oder besser: Milde.) Allerdings hat Calvin selbst die Haltung der Milde in seiner Zeit in Genf nicht durchgehalten und einen theologischen Gegner, einen Antitrinitarier, Michel Servet, ins Feuer schicken lassen. Calvin inszenierte einen politischen Prozess, fungierte als Gutachter, hätte die Macht gehabt wenigstens das Urteil zu entschärfen, verteidigte sogar im Streit mit dem Humanisten und Theologen Sebastian Castellio das Todesurteil. Er war ein bisschen totalitär? Das verniedlicht die fehlende Milde.
Aber richtig ist: Calvin hat in seinem Hauptwerk Institutio die Möglichkeit des Tyrannenmordes als ultima ratio zugestanden. Richtig ist auch: Calvin hat mit der eingeführten Kirchenzucht bereits Transparenz als einen politischen Marker gefeiert, allerdings verkam die Kirchenzucht oft zum Gewissensterror. Besonders wichtig ist mir: Calvin (wie auch Zwingli) pflegte eine große Liebe zum Alten Testament, er teilte zwar wenige Stereotypen über das Judentum, aber diese Liebe zum Alten Testament bewahrte ihn vor einem hetzerischen Antisemitismus und Antijudaismus, der in Hass umkippte, wie ihn der späte Luther vertrat.
Hoch problematisch bleibt Calvins Lehre von der Doppelten Prädestination, also die Idee, dass Gott nur einige Menschen erwählt und viel andere Menschen ab ovo verworfen hat. Ein „authentisches Christentum als eine Gemeinschaft der Gleichberechtigten braucht einen neuen Calvin“? Ach! Das wäre ein kleiner Klüngel. Erwählungstheorien, die nicht ein Universal ansteuern, grenzen stets aus und verführen zu einem schrägen Selbstbild. Noch Donald Trump bewegt oder inszeniert sich in diesem Deutungsspiel.
Ein perfektes Universal
Zwei Angebote: Einen aufgeklärten Universalismus bieten die zwei Schöpfungserzählungen der Genesis und die Schöpfungserzählung aus Proverbien 8. Oder man fängt von unten an mit der Verwundbarkeit alles Lebendigen. Ein perfektes Universal. Der Theologe und Religionswissenschaftler Rudolf Otto hat das erfahrbare Universal Kreaturgefühl genannt, die französische Philosophin Corine Pelluchon hat die Verwundbarkeit zu einem Existenzial erhoben, die deutsche Philosophin Jule Govrin geht ebenfalls – bei ihr: gut materialistisch von der Verwundbarkeit als „Universalismus von unten“ aus.
Schließlich: Das leichtfüßige Bashing des Kompromisses ist wenig aufgeklärt. Kompromisse leisten oft Friedensdienste. Die Philosophin Véronique Zanetti verweist in ihrem prächtigen Buch: „Spielarten des Kompromisses“ darauf, dass die Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika durch Kompromissfindung in Reshaming-Szenarien zwischen Tätern und Opfern einen Bürgerkrieg verhindert hat.
Lieber Herr Žižek,
wahrscheinlich schreiben Sie bereits an einem adipösen Buch über die Subversionskraft im Christentum. Ich bin extrem gespannt, wie Sie argumentieren. Und prüfen Sie Ihre Schwäche für Calvin, bitteschön. Ob Calvin der richtige Kandidat für die Lösung aktueller Probleme bietet – daran zweifle ich milde.
Mit herzlichen Grüßen
Ihr
Klaas Huizing
Klaas Huizing
Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.