"Demokratie und Sozialstaat gehören zusammen"

zeitzeichen: Herr Schuch, die Regierungskoalition hat für diese Legislaturperiode eine große Sozialstaatsreform angekündigt. Was halten Sie davon?

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Mehr Lausanne, weniger Kulturkampf

Mehr Lausanne, weniger Kulturkampf

Erinnerung an ein wichtiges Datum evangelikaler Selbstfindung
Foto: EKS

Evangelikal – kaum ein Begriff ist in der kirchlichen Öffentlichkeit so umstritten und unscharf. Denn er ist ein doppelter Kampfbegriff: Von den einen zur Kennzeichnung der wahren Lehre hochstilisiert, wird er von den meisten als Abgrenzung gegenüber fundamentalistischen Restbeständen des Christentums pejorativ verwendet. Wer als evangelikal bezeichnet wird, steht schnell im Verdacht, biblizistisch, weltabgewandt, autoritär und in gesellschaftsethischen Fragen rückwärtsgewandt zu sein.

Aber wer entscheidet eigentlich, was „evangelikal“ bedeutet – und wer dazugehören darf oder muss? Als Schweizerin denke ich beim Wort „Evangelikale“ nicht zuerst an Kulturkämpfe, sondern an einen Ort: Lausanne. 1974 wurde dort die Lausanner Verpflichtung formuliert – das Gründungsdokument der Lausanner Bewegung. Christliche Leitende aus über 150 Nationen bekannten sich darin zur weltweiten Evangelisation – nicht im Geist der Abgrenzung, sondern der Buße, der Gemeinschaft und der Hoffnung. Basierend auf dem Bekenntnis von Nicäa bekräftigten sie den Glauben im Sinn der altkirchlichen Bekenntnisse. Im Geist der Reformation betont die Erklärung die Autorität der Bibel und ruft dazu auf, das Evangelium ganzheitlich zu verkünden und zu leben – mit einer klaren sozialen und gesellschaftlichen Verantwortung. Das ist anschlussfähig – auch für eine reformierte Volkskirche.

Denn auch wir bekennen Christus als Mitte, vertrauen dem Wort Gottes und wissen uns gesandt – nicht gegen andere, sondern mit anderen in die Welt. In der Hoffnung auf Gottes Gerechtigkeit und in der Verantwortung, Ausgrenzung, Diskriminierung und Unterdrückung entgegenzutreten. Die Frage ist also nicht, ob wir „evangelikal“ sind – sondern welchen Geist wir diesem Begriff einhauchen. Heute wird der Begriff oft vereinnahmt von Stimmen, die lautstark gegen queere Lebensformen, gegen reproduktive Selbstbestimmung und gegen gesellschaftlichen Wandel agitieren. Wo Evangelikale zum Bollwerk gegen alles „Andere“ werden, verlieren
sie das Zentrum aus dem Blick: Christus. Das ist abschreckend. 

Es ist Zeit, sich an Lausanne zu erinnern – nicht nostalgisch, sondern klärend. Die Lausanner Verpflichtung kann Evangelikale und Volkskirchliche in einem guten Sinn zentrieren: nicht als Minimalkonsens, sondern als geistlicher Ausgangspunkt, der den Glauben an Gott, die Hoffnung auf sein Handeln und seine Gerechtigkeit ins Zentrum rückt. Wenn das Evangelium unsere Mitte ist – und nicht eine politisch rechte oder linke Agenda –, dann folgen wir Christus, dem Gekreuzigten und Auferstandenen, gemeinsam nach. Diese Nachfolge richtet sich nicht gegen andere, sondern auf ein Leben hin, das sich mit anderen auf den Weg macht: hoffnungsvoll, demütig und glaubwürdig. Theologische Diversität ist eine Herausforderung für uns „Volkskirchen” im Sinne einer Kirche für das Volk, einer Kirche für Andere. Wir müssen ihr gerecht werden, indem wir auch auf evangelikale Stimmen in unseren Reihen hören. Nicht unkritisch, aber dialogbereit. Denn das Evangelium ist nicht die Verlängerung unserer Weltsicht – es ist Gottes Einladung, ihm in Christus gemeinsam zu vertrauen.

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Weitere Beiträge zu „Kirche“

Sorry, zu spät gekommen

Sorry, zu spät gekommen

Opfer sexualisierter Gewalt dürfen kein Geld mehr beantragen
Foto: Rolf Zöllner

Manche politischen Entscheidungen sind so unfassbar, dass man gut beraten ist, sie sich zweimal durchzulesen. Aber es stimmt: Das Bundesfamilienministerium hat vor wenigen Wochen entschieden, die Antragstellung für Mittel aus dem Fonds Sexueller Missbrauch (FSM) rückwirkend zu stoppen. Der FSM hatte am 24. Juni bekannt gegeben, dass in den Wochen zuvor so viele Anträge in der Geschäftsstelle eingegangen seien, dass die im Bundeshaushalt vorgesehenen Mittel nicht ausreichten, um alle eingegangenen Anträge zu bewilligen. Aus diesem Grund könnten Erstanträge ab dem 19. März nicht mehr bewilligt werden.

Man muss sich diesen Vorgang noch einmal vor Augen halten: Da wird seit rund 15 Jahren intensiv über sexualisierte Gewalt in der Gesellschaft diskutiert – seit den ersten Enthüllungen über den so lange verdrängten Missbrauch in der hiesigen katholischen Kirche, wenig später über ähnliche Taten in der evangelischen Kirche. Da wird in der Politik gebetsmühlenartig wiederholt, es sei wichtig, die Opfer zu hören, ihnen Glauben zu schenken, sie bei oft nötigen Therapien zu unterstützen und ihnen zumindest eine Anerkennungsleistung zu zahlen, wenn eine Entschädigung denn nicht finanzierbar oder juristisch durchsetzbar ist. Und gern nachgeschoben wird auch: Das alles sei die Pflicht der Kirchen, was selbstverständlich richtig ist – aber der Großteil des Missbrauchs findet ja seit Jahrzehnten nicht im kirchlichen Milieu statt, sondern eben in der Familie, eine Tatsache, die in der Fachwelt unumstritten ist.

Hier für Hilfe oder gar Entschädigung zu sorgen, dafür ist der Staat zuständig. Das ist ebenso unstrittig und genau dafür wurde der FSM gegründet. Der auch noch rückwirkend geltende Stopp der Antragstellung beim FSM ist deshalb schlicht ein Skandal. „Viele Betroffene haben sich auf die Aussagen der letzten Bundesregierung verlassen, dass eine Antragstellung noch bis Ende August möglich sei“, schrieb dazu die Vorsitzende der „Unabhängigen Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“, Julia Gebrande, Anfang Juli. „Die neue Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag erklärt, den Fonds Sexueller Missbrauch fortführen zu wollen. Trotz dieser Signale stehen nun viele Menschen ohne die Hilfe da, mit der sie gerechnet hatten.“ Die zuständige Bundesfamilienministerin Karin Prien (CDU) erklärte lediglich, sie strebe eine Neuaufstellung des Ergänzenden Hilfesystems bis Anfang kommenden Jahres an. Das bedeutet im Politikdeutsch wenig mehr als: Wir wollen für die Opfer sexualisierter Gewalt mal was versuchen, vielleicht klappt da ja noch was. 

Das alles (und übrigens auch das sehr maue mediale Echo auf diesen Skandal) zeigt: Große Teile der Gesellschaft und Politik verschließen noch nach Jahrzehnten furchtsam die Augen vor dem ungeheuren Ausmaß der sexualisierten Gewalt in diesem Land. Die Opfer dieser Verbrechen werden weiterhin in der Regel als nervige Bittsteller an den Rand gedrängt. Die Tatsache, dass der Kampf gegen diese massenhaften Untaten eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, und eben nicht nur eine der Kirchen, wird am liebsten verdrängt. Hier könnte die Politik von den Kirchen lernen: Das Thema sexualisierte Gewalt geht nicht weg, wenn man nicht hinschaut. 

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Weitere Beiträge zu „Politik“

Im Gärungsprozess

Evangelikale Spiritualität hat ihre Wurzeln im älteren Pietismus des 18. Jahrhunderts und der Erweckungs-, der Heiligungs- und der Gemeinschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts.

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TCHAKA

TCHAKA

Ab durch die (Chor)welt

Mit dem Begriff Knabenchor verbinden die meisten von uns zunächst den Dresdner Kreuzchor und die Leipziger Thomaner, die beide maßgeblich die deutsche Tradition begründet haben und bis heute ein individuelles Klangideal prägen, das neben der berückenden englischen Kathedralmusik durch seine eigene, differenziert kolorierte Strahlkraft zu beeindrucken weiß. Mit ihnen leisten vor allem der Berliner Staats- und Domchor und der Windsbacher Knabenchor fantastisches, weil ihre Leiter, Kai-Uwe Jirka und Ludwig Böhme, unbeirrt den Anschluss an die Chormusik des 21. Jahrhunderts halten und auf höchst innovative Art Tradition und Moderne und damit klassische Bibelkunde und Umgang mit moderner Lyrik, Polyphonie und Pop so miteinander verknüpfen, dass es für alle eine Lust ist – und die Kinder und Jugendlichen bei der Stange hält.

Mit der CD „Tchaka“ singt sich ein Schweizer Knabenchor in den Mittelpunkt, der schon uralt, aber gleichermaßen nah am Puls der Zeit und der Welt ist: die Singknaben der St. Ursenkathedrale Solothurn – klingend seit dessen Gründung 742 und seit 2021 unter den Fittichen des Chor-Weltenbummlers Tobias Stückelberger, der seine Chor(leitungs)-Erfahrungen von Norwegen bis Südafrika sammelte und die sphärische Intensität nordeuropäischer Musik ebenso wie die wirbelnde Lebendigkeit südafrikanischer Klänge mit viel Verve zu verbinden, den Solothurner Singknaben ins Herz zu brennen und in den Mund zu legen weiß. Daraus erwächst ein prismatisches Leuchten, das farbenreich aus profunder, volltönend strömender Tiefe der Männerstimmen bis zu himmlisch weichen, klar gefassten Knabenstimmen reicht und dabei eine beeindruckende intonatorische Präzision aufweist.

Auf der CD präsentieren sich die Solothurner Sängerknaben sowohl mit klassischem Repertoire von Mendelssohn Bartholdy, Bruckner und Brahms als auch mit moderner, hauptsächlich nordischer sowie eigens von Tobias Stückelberger (* 1993) dem Chor auf den Leib geschneiderter Chormusik. Da wird spürbar, wie der Chorleiter seinen Chor kennt und weiß, was er ihm zumuten und wie er seine Spiel- und Klangfreude wecken kann – und wie er ihn einbindet in die heimatliche Tradition („Vögel über Solothurn“ als vokalise Introduktion zu „Dr Heimetvogel“) und den Klang der Welt („The code“), das Siegerstück des Eurovision Song Contest 2024 des Schweizers Nemo, das Pop und Oper, Rap und Romantik in einem Song zu vereinen weiß. So energetisch die CD mit „Tchaka“ von Sydney Gauillaume (* 1982) beginnt, das wie ein Wirbelwind durch die haitianische Volksmusik und ihre Rhythmen rauscht, so schwebend endet sie mit dem ungekrönten König der Männerchorliteratur: Franz Schubert und dem „Gesang der Geister über den Wassern“, neben dem „Vermächtnis“ eines der bekenntnishaftesten Gedichte Goethes, in dem die Solothurner, feinfühlig von einem Streichquintett begleitet, noch einmal ihre konzertanten Qualitäten komplex aufblitzen lassen.

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Schnittstellen

Schnittstellen

Ben LaMar Gay: Yowzers

Auf leo.org ist Yowzers noch nicht zu finden. Ben LaMar Gay überfiel es „als Wort wie als Klang“, sagt er, „während ich über das Überschneiden von Humor und Horror in unserer Gegenwart nachdachte. Yowzers ist tiefer Seufzer, der den Körper leise verlässt, wenn man das Absurde realisiert, aber auch Aufschrei des Staunens, wie viele Geheimnisse geblieben sind, die dabei helfen, auszuhalten und das Absurde zu überschreiten.“ Also ‚Gute Güte!‘ und ‚Krasser Scheiß!‘ in einem. Was Gay mit Geheimnis meint, bleibt seines, doch die zwölf Songs und Stücke lassen es ahnen: Tradition, Wurzeln, spirituelle Offenheit und Neugierde. Kein Schelm, wer an Rudolf Ottos mysterium tremendum et fascinosum denkt. 

Das Album öffnet diese Räume intim und gewandt, ist mit simplen Melodien und Rhythmus-Patterns aber im Ansatz eher einfach. Pfiff und Tiefe erwachsen aus den  Kombinationen und famos präzisen Verschiebungen. Shout & response steht dann neben Free-Eskapaden, Latin-Komplexität und HipHop-Straightness. Die Songs kommen als Ballade oder wildes Ritual daher. Yowzers steckt mitreißend voller Überraschungen. Gay (Komposition, Kornett, Gesang) lebt spürbar seine Einflüsse und kennt ihre Genealogien genau (Folk und Blues des Südens, HipHop und die Freeund Spiritual-Jazz-Traditionen Chicagos. Der Titeltrack ist auch Opener: ein Untergangs- Gospel, während die Apokalypse gerade läuft, mit Gays sonorem, leicht krustigem Bass, Frauenchor, Klavier, seelenvollen Bibellyrics. Geballte Wucht. „For Breezy“ ist ein Funeral für die 2022 verstorbene Jaimie Branch, sehr traurig und ergreifend, „leave some for you“ mit spoken words am Ende ein bittersüßes Liebeslied, das rhythmisch tricky den verhaltenen Beginn wieder
aufnimmt. 

Da ist die Repeat-Taste unvermeidlich, denn dazwischen ist packend eine Menge los. „Damn you cute“ etwa swingt als Sternschnuppenschauer, rollt, purzelt federleicht und hat rhythmisch starke Spannung, auf der das Kornett mit gestopfter Jaimie-Branch-Anmutung sanft-selig surft. Höhepunkt ist „I am (bells)“ – ein Mann allein in sakralem shout & response mit den anderen vom Quartett. Es geht um Identität, ernst, unprätentiös. Verhallt setzt „Spiel mir das Lied vom Tod“-Glockenton ein, wird heuschreckengleich zum Handglockenschwarm, als tickten kirchhofmäßig Uhren, bis die Glocken geloopt werden, Boom-Bap-Drums hämmern, das shout & response erst tribal wird, dann erregt und groovy. Denn die Tuba spielt mitten im kosmischen Erweckungszelt eine Basslinie drauf, die alle Gürtel sprengt.

Ein fantastisches Album mit hohem Suchtfaktor. Ballerlaut im Auto an der Ampel sorgt es mindestens für Erstaunen. Yowzers!

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Webmuster

Webmuster

Eine Grille über Kettfäden und Fransen
Foto: Privat

Fransen. Ausfransen?

Zwei Bilderfolgen steigen bei der Nennung des Wortes Fransen spontan in mir auf. 

Meine zwei älteren Schwestern waren die scharfzüngigen Heroinnen, die den Streit am Abendbrottisch um ein sehr haltbares Kleidungsstück geführt und nach zähen Verhandlungen gewonnen hatten: Die Jeans durfte nicht an Sonntagen, nicht an christlichen Feiertagen, und nur an Donnerstagen und Freitagen in der Schule getragen werden, bitteschön. Kompromisse sind im Nachgang oft nicht zu rekonstruieren: Warum nicht am Montag, Dienstag und Mittwoch? Gute Frage. 

Meine Großmutter hatte schon die Verhandlungen über meine Cordhose, die sie konsequent als Manchester-Hose, also als Arbeiterhose denunzierte, verloren. Sie stimmte als einzige gegen den Kompromiss. Ich gewann schließlich zwei Jahre später beinahe ohne Gegenwehr den Wunsch, die Hosenbeine der Jeans auszufransen. An der harten Webkante der Hosenbeine drohte ich bereits zu scheitern, aber meine Schwestern Wilma und Karla halfen mir, schnitten die Kante ab und wir fransten gemeinsam die Hosenbeine drei Zentimeter aus. Ich war glücklich, wurde im Schulbus mit anerkennenden Pfiffen begrüßt, meine Großmutter, die sich den Titel Oma verboten hatte, liebte mich nur noch bis zu den Knien.

An anderer Stelle im Haus gab es eine Verstehenshilfe, die den Streit versachlichte: Die Fransen an den voluminösen Perserteppichen. Fransen sind die überstehenden Kettfäden, die nicht umgenäht werden, sondern wunderbar verspielt zeigen, dass gewebte Teppiche einen offenen Anfang und ein offenes Ende haben und gleichsam zu neuen Mustern und Webabenteuern einladen. Zu meinen Aufgaben zählte es, die Fransen vor dem Wochenende mithilfe des Teppichfransenkamms in eine hübsche Ordnung zu bringen. Unausgesprochen erwarteten meine Eltern, dass alle im Haus sich eine Schrittfolge einprägten, die eine Berührung des Fransenfeldes definitiv ausschloss. Im Wohnzimmer mutierten wir zu einer Family of Silly Walks

Akt der Schonung

Und selbstredend kann auch der beste Perser-Teppich Abnutzungserscheinungen aufweisen, die Farben verblassen langsam und der Perserteppich franst final an einigen Stellen aus. Auch hier gibt es Rat. Kleine Perserteppiche dienen als sogenannte Brücken dazu, die Abnutzung zu überdecken und zugleich Verbindungen zwischen zwei größeren Perserteppichen herzustellen, ein Akt der Schonung, um das Eichenparket vor Abnutzung zu schützen.

Fransen, so würde ich heute versuchen meiner Großmutter deutlich zu machen, sind beides: Zeichen für den Verschleiß und zugleich Zeichen und verspielte Aufforderung, sich kreativ neue Webmuster vorzustellen. (Von Revolte würde ich nicht reden.) Und der oktroyierte Fransenkammeinsatz ist der etwas zwanghafte Versuch, die Kettfäden so zu präsentieren, als wären sie noch in einem Webstuhl eingespannt und das Schiffchen noch nicht im Hafen.

Das aufgespannte Metaphernfeld des Webens, zu dem die Fransen gehören, ist hochspannend, wird auch biblisch (etwa Psalm 139,13 und öfter) und in der Christentumsgeschichte (Clemens von Alexandria: Teppiche, Stromateis) wiederholt zum Einsatz gebracht, kann aber hier nur angedeutet werden: Textilien, Teppiche, Texturen (lateinisch textura: Gewebe). Die Welt als Text. Auch Texte, ganz fein gewebte Narrative kollektiver Selbstverständigungen und Lebenslehren, können verschleißen. Ethische Überzeugungsmuster mit politischem impact, die lange gepflegt wurden, fransen langsam aus und bleiben doch länger (oft zu lange) in Kraft. Etwa die Idee der Gerechtigkeit als Fairness. 

Viel diskutierte Theorie

Die immer wieder auf leisen Socken an mich herantretende Frage, warum in Amerika auch hoch prekäre Milieus in großer Zahl Donald Trump wählten, könnte neben anderen Gründen einen Grund in einem weit verbreiteten Verständnis von Gerechtigkeit als Fairness haben. Hoch kreativ gewebt hat dieses Narrativ der Philosoph John Rawls. Der für mich zentrale Satz in John Rawls großer und viel diskutierter Theorie der Gerechtigkeit als Fairness lautet: Es besteht „nichts Ungerechtes an den größeren Vorteilen weniger, falls es dadurch auch den nicht so Begünstigten bessergeht.“ 

Dieser zitierten, im Alltagsgebrauch fraglos in einfacherer Sprache tradierten und eingesickerten Maxime folgend haben offenbar viele Personen aus unterschiedlichen prekären Milieus auf den Clan der Erfolgreichen gesetzt mit Trump als charismatischem Player (Prayer), in der Hoffnung, dass etwas unten bei ihnen ankommt, sprich: die Lebenshaltungskosten zurückgehen und Stabilität und Zuversicht und Hoffnung Einzug halten. Unterschwellig mitgespielt hat vielleicht zusätzlich noch die vulgär-calvinistische Deutung, Reichtum sei ein deutliches Zeichen, von Gott erwählt worden zu sein. 

Selbstredend: Die Idee der Fairness wurde inzwischen absurd einseitig überdehnt, denn die zehn Prozent der einkommensstärksten Amerikaner bestreiten aktuell 50% des Konsums. Das spricht der Fairness Hohn. Und trotzdem hat diese Fairnessdeutung nochmals gegriffen. Das stellt freilich auch Rückfragen an Rawls ethisches Modell eines egalitären Liberalismus. Sehr einseitig hat der Liberalismus schleichend die Oberhand gewonnen. Die Solidaritätsaspekte sind in Rawls Theorie offenbar nicht hinreichend oder zu einseitig im kollektiven Gedächtnis abgespeichert worden und die Idee der Brüderlichkeit bleibt im Großnarrativ seltsam unterbestimmt und farblich kraftlos.

Neues, klareres Muster

Nicht ohne Grund hat es mit und zugleich auch gegen Rawls Versuche gegeben, das Muster des Theorieteppichs Theorie der Gerechtigkeit als Verteilungsgerechtigkeit zu überarbeiten und die Ausfransungen zu verketteln, etwa durch den (starken) Befähigungsansatz (Capability Approach) von Martha Nussbaum und Armatya Sen, die der Idee der Solidarität entschieden mehr Nachdruck verleihen. Aber: Breitenwirksam und damit für größere Milieus handlungsleitend sind diese Ideen bisher nicht im kollektiven Narrativ der Selbstverständigung verankert. Freilich: Sollte es den „nicht so Begünstigten“ bis zur nächsten Wahl (oder zu den midterm elections) nicht signifikant bessergehen, sollte das bereits abenteuerlich ausgefranste Fairness-Versprechen scheitern, wird eine neue Erzählung nötig, die die Idee der Solidarität stark macht. Ein neues, oder klareres Muster muss gewebt und von Fransenkammfachkräften in eine schöne Ordnung gebracht werden. 

Die Zeit für kreative, individuelle Webabenteuer, die die Solidarität als zentrales Muster abbilden, ist angebrochen. Und die ausgefranste Jeans hat ein Revival verdient.

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Klaas Huizing

Klaas Huizing ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Würzburg und Autor zahlreicher Romane und theologischer Bücher. Zudem ist er beratender Mitarbeiter der zeitzeichen-Redaktion.

Weitere Beiträge zu „Kultur“

Ein Hort der Liberalität

Es gibt unschöne Geschichten: Der Pater, der meinem Mitschüler Börries im Unterricht mit einem Feuerzeug am Nacken ein paar Haare ansenkte, weil er einen Witz machen wollte, und nicht realisierte, dass das echt we

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Herrschen heißt warten lassen

Autoritäre Herrschaft wird gemeinhin als Beschleunigung verstanden, als überfallartiges Handeln gefürchtet.

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