In den vergangenen Monaten ist es an der Ruhr-Universität Bochum zu Einbrüchen, rechtsextremen Schmierereien, Einschüchterungsversuchen und Vandalismus gekommen, und dies gezielt gegen Einrichtungen, die sich für Gleichstellung, Antidiskriminierung sowie queer-feministische Belange einsetzen. Als Prorektorin für Diversität, aber auch jenseits meines Amtes hat mich das schockiert und intensiv beschäftigt. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass die Demokratie in meiner lifetime gefährdet sei.
Als rechtsextreme Aktivisten schließlich auch noch Regenbogenflaggen auf dem Campus verbrannten und ihre faschistischen Codes hinterließen, war das Entsetzen groß. Viele hatten das Bedürfnis etwas zu tun. Das Rektorat rief eine Kundgebung ins Leben, die ein klares Zeichen für Vielfalt und Toleranz setzte. Es versammelten sich spontan weit über 1000 Menschen. Es gab ein leuchtendes Meer an Regenbogenfahnen. Menschen aus allen Statusgruppen kamen und zeigten Solidarität – die Verwaltung war fast komplett vertreten, aber auch viele Studierende, Lehrende und Professor*innen. Das war sehr ermutigend.
Wir überlegen derzeit intensiv, wie wir längerfristig und nachhaltig auf die Vorkommnisse reagieren können. Wie sorgen wir für Sicherheit für besonders vulnerable Gruppen? Und was kann die Universität zur Demokratiebildung beitragen? Wie können wir Demokratiefeindlichkeit bekämpfen? Woher rührt der Verdruss und die Ablehnung von Vielfalt und Freiheit? Wie kommt es, dass vor allem junge Männer nach rechts abdriften? Dahinter steckt ein gesellschaftliches Misstrauen, das unsere Werte und Institutionen fundamental bedroht. Es ist elementar, die Komplexität dieser Entwicklung, die sich nicht nur an der Universität, sondern gesamtgesellschaftlich vollzieht, und die damit verbundenen Krisen zu verstehen. Die Universität ist ein hervorragender Ort für ein solches Verstehen. Sie distanziert sich als Ort der Wissenschaft von einfachen Kausalitätszuschreibungen und so genannten alternative facts. Sie setzt Letzteren wissenschaftliche Fakten entgegen und analysiert nüchtern gesellschaftliche Konflikte. Schon allein dadurch trägt sie zur Demokratiebildung bei.
Hochschulen sind keine politisch wertfreien Orte, sie sind der Verfassung verpflichtet und haben die Aufgabe, Demokratiebildung zu betreiben. Sie sollten deshalb eine klare Haltung zeigen und sich zur liberalen Demokratie bekennen. Zugleich muss die Universität Räume bereitstellen, in denen kontrovers diskutiert werden kann – ohne Angst vor Widerspruch. Auch über Diversität, ein Thema, durch das sich immer mehr Menschen getriggert fühlen, ist klug und pragmatisch aufzuklären, damit möglichst viele verstehen, warum Vielfalt zwar anstrengend, aber grundsätzlich keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung ist.
Viele Herausforderungen warten auf uns. Nicht nur an der Universität. Wir alle sind gefordert, im alltäglichen Leben eine klare Haltung zu zeigen und nicht wegzusehen, wenn Menschenrechte verletzt werden, sondern Zivilcourage zu zeigen und sich zu engagieren. Nur so hat unsere Demokratie eine Zukunft.
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Isolde Karle
Isolde Karle ist Professorin für Praktische Theologie an der Universität Bochum.
Wer hätte vor zehn Jahren geahnt, dass die Kirche ein so unendlicher Raum der Möglichkeiten ist? Menschen werden zu Spontan-Taufen eingeladen, Ehrenamtliche schmierenauf öffentlichen Plätzen Hoffnungsbrote für Passanten, Pfarrerinnen touren mit mobilen Kaffeewagen durch die Gegend und kommen neu in Kontakt mit Menschen, Biergärten werden zu liturgischen Orten. Paare lassen sich spontan bei Hochzeitsfestivals trauen. Die goldene Kehrseite des Mitgliederschwunds und des damit einhergehenden Ressourcendrucks ist eine neue Freiheit.
Für Aktionen, die früher zu einem ernsten Gespräch mit der Kirchenleitung geführt hätten, gibt es heute tosenden Applaus in den Synoden. Kaum etwas scheint unmöglich im Moment. Das Land ist hell und weit. Neue Gestalten kirchlicher Präsenz entstehen an unzähligen Orten. Manches davon ist innovativ, vieles zumindest frisch und einladend. Ein neuer Pioniergeist belebt die Kirche. Endlich können die loslegen, die sich immer schon anderes vorstellen konnten als das kirchengemeindliche Normalprogramm.
Die Landeskirchen lassen all das nicht nur geschehen, sondern innovative Projekte werden explizit gewollt und gefördert. Erprobungsräume werden eingerichtet oder finanzielle Ressourcen in Form von Innovationsfonds bereitgestellt. Alle Zeichen stehen auf Veränderung, könnte man meinen. Und in der Tat erleben wir einen nie dagewesenen common sense in der Kirche, dass Transformation notwendig ist.
Schöner Wildwuchs
Schaut man aber genauer hin, so wird deutlich, dass all die entstehenden innovativen Dynamiken als schöner Wildwuchs am Rande der Organisation blühen, aber bisher wenig systemverändernd wirken. Es gelingt uns gegenwärtig kaum, all das Neue wirklich zu integrieren und die darin wahrnehmbaren zarten Konturen zukunftsweisender Kirchenbilder zum Kompass umfassender organisationaler Veränderungsprozesse zu machen. Strategische Förderung neuer Formen ist gut und richtig. Aber der Applaus auf Synoden für all das, was mit Innovationsmitteln möglich wurde, hat auch etwas Verführerisches. Es ist eine Form der Selbstberuhigung: um Innovation haben wir uns ja gekümmert, an die etablierten Strukturen, müssen wir ja nicht ran.
Kirchenentwicklung ist nicht bloß Glitzer und Feuerwerk mit innovativen Projekten, es ist vor allem auch Schwarzbrot, kleinteilige Arbeit an organisationalen Strukturen und der Organisationskultur. All die neuen Gestalten von Kirche sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass es weiterhin so etwas wie eine systemimmanente Widerständigkeit unserer Organisation gegen Veränderung gibt. Der Grund dafür liegt nicht im Wesen des Christentums begründet. Das Evangelium Jesu Christi wird ja von jeher gerade in der produktiven Spannung von Tradition und Innovation lebendig und für Menschen erfahrbar und relevant. Der Grund für die Veränderungsallergie wird stattdessen durch eine systemische Sichtweise deutlich.
Allergie gegen Veränderung
Die Allergie gegen Veränderungen betrifft Organisationen in all ihren Spielarten. Der Soziologe Niklas Luhmann (1927-1998) hat beschrieben, dass soziale Systeme gekennzeichnet sind von stabilen Kommunikationsmustern, Abgrenzung nach Außen, gegenseitige Beobachtung der Akteure und Gruppen sowie ein Konglomerat aus formellen und informellen Regeln. Gerät ein System unter Druck, lösen sich diese Konstitutionsprinzipien nicht etwa auf, sondern sie verstärken sich. Vor allem die eingespielten Kommunikationsmuster sind es dann, die immer wieder die Grenze markieren zwischen dem, was als möglich angesehen wird und dem, was als völlig unmöglich verworfen wird, bevor die Idee wirklich durchdacht ist.
Die Kirchen steht unter einem solchen Druck, der auch zu einer Verfestigung eingespielter Strukturen und Muster führt statt zu ihrer Verflüssigung. Ob eine wirkliche Transformation der Kirche möglich ist, wird sich perspektivisch nicht an der Quantität innovativer Projekte entscheiden, sondern daran, ob es gelingt, eine Entwicklungsbewegung in eine noch unbestimmte Zukunft spielerisch zum Alltagsrisiko unserer organisationalen Veränderungsprozesse zu machen. Vielmehr als um innovative Leuchttürme geht es darum, nach und nach kirchliche Muster beweglicher zu machen.
Erschöpft von Glitzer und Gloria
Die Last der Transformation kann nicht auf den Schultern derjenigen liegen, die ein innovatives Projekt nach dem Anderen aus dem Boden stampfen. Schaut man genauer hin, sind das auch häufig immer wieder dieselben Akteurinnen und Akteure und manch einer von ihnen ist auch mittlerweile erschöpft von Feuerwerk, Glitzer und Gloria. Kirchenentwicklung ist nicht die Initiative Einzelner. Sie wird auch nicht top-down von Kirchenleitungen verordnet. Wirkliche Kirchenentwicklung geschieht als ein Wandel, als die Summe kleiner Handlungen und Entscheidungen vieler Beteiligter.
Es ist die Art und Weise, wie ein Kirchenvorstand neue Formen findet, ins Gespräch zu kommen, so dass nicht immer derselbe alte Hase das letzte Wort hat, sondern die zwei Neuen im Team wirklich gehört werden. Es ist die neue coachende Haltung mit der eine Dekanin den berufseinsteigenden Pfarrer empowert. Es ist die gute Idee der Mitarbeiterin des Kirchenkreisamtes, einen Bürokratievorgang für alle einfacher zu gestalten. Es ist das verlässliche Onboardingkonzept, mit dem wir sicherstellen, dass Menschen, die neu in unsere Organisation kommen, gut anfangen und gern bleiben. Es ist der Synodalvorstand, der daran denkt, für das gelungene Projekt im nächsten Doppelhaushalt Finanzen einzuplanen. Es ist der Kirchenjurist, der am Telefon nicht sagt „Das geht nicht!“, sondern fragt: „Was braucht ihr? Ich schreibe Euch das Gesetz dazu!“
Ins Unbekannte
All diese kleinen und größeren Veränderungen sind Teil der Kirchenentwicklung. Immer wieder im Alltag unserer Organisation neue Durchlässigkeiten zu erzeugen, wird uns perspektivisch in Bewegung versetzen. Kaum eine dieser Mikrobewegungen wird Synodenapplaus ernten. Aber wenn wir alle daran arbeiten, wird der Geist der Veränderung nicht bloß in Leuchtturmprojekten wirksam, sondern im Alltag unserer Kirche. Den großen turn, der plötzlich alles verändert, den wird es nicht geben. Kirchenentwicklung geschieht da, wo es gelingt, dass wir uns von der Sehnsucht nach dem einen leitenden Ziel-Foto verabschieden und stattdessen ins Unbekannte gehen. Wir wissen nicht, wo die Reise hingeht und fangen trotzdem miteinander an.
Wochenaufgabe für Sie: Schauen Sie doch mal, ob sich Ihnen vielleicht ein Raum bietet in den kommenden sieben Tagen, unsere kirchliche Struktur beweglicher zu machen. Denken Sie nicht bloß darüber nach, sondern tun Sie es auch. Wiederholen Sie diese Wochenaufgabe mindestens 51 weitere Male. Es könnte sein, dass die Kirche dann schon deutlich mehr nach Zukunft schmeckt.
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Foto: Christian Lademann
Katharina Scholl
Dr. Katharina Scholl ist Studienleiterin am Evangelischen Studienseminar Hofgeismar. Zuvor war sie Gemeindepfarrerin in Hanau-Großauheim.
Um kurz nach sechs stieg die Spannung im Lichthof des Jüdischen Museums in Berlin. Nicht nur die Sitzreihen vor der Bühne waren bis auf den letzten Platz gefüllt.
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Der assistierte Suizid von Niki Glattauer schlägt hohe Wellen, hatte der 66-Jährige ihn doch zwei Tage zuvor in einem Interview öffentlich angekündigt, das er der österreichischen Wochenzeitung Falter und der I
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Das gestrige Konzert vom RIAS Kammerchor inspiriert unseren Kolumnisten Christoph Markschies zu einem großangelegten Gedankenpfad, wie Altes und Neues, seien es Dinge oder Ideen, zu einer spannungsvollen, gewinnbringenden Einheit werden können, wenn die Qualität stimmt.
Das Besondere dieses Konzerts war aber, das die Sätze von Palestrinas ikonischer, zauberschöner „Missa Papae Marcelli“ verschränkt waren mit Stücken aus rund sechzig Jahren künstlerischen Schaffens des estnischen Komponisten Pärt. Die Messe des sechzehnten Jahrhunderts erklang also nicht in der klassischen Reihenfolge Stück für Stück, sondern im Wechsel mit Kompositionen von Arvo Pärt aus unseren Tagen. Die sphärischen Ton- und Harmoniecluster beispielsweise eines seiner ersten Kompositionen, Solfeggio, auf die variierten italienischen Ton-Namen do, re, mi, fa, sol, la, si, die das Konzert eröffneten, passten vorzüglich zu den großartigen Harmonien im Kyrie von Palaestrina, das folgte. Fast atemlose Stille, kein Applaus unterbrach das geflochtene Band, erst vor der Pause und am Ende applaudierte das Publikum begeistert. Mir – und offenkundig nicht nur mir – schien, dass alle Stücke für sich leuchteten, aber die Zusammenstellung der verschiedenen und doch vergleichbaren Stile das Leuchten verstärkte zur einer wunderbaren Abendsonne über dem Horizont.
Ein sehr instruktives Programmheft informierte das Auditorium über die Stücke, der in Berlin im Rundfunk mit großartigen Musiksendungen präsente Bernhard Schrammek verfasste den einleitenden Essay „Palestrina und Pärt. Die ferne Nähe zweier Jubilare“. Darin bezeichnet er beide Komponisten als „spirituell tiefgründig“ und referiert neben den Lebensläufen der Komponisten Details ihres Kompositionsstils. Für Palestrina, den an den großen römischen Kirchen Santa Maria Maggiore, San Givanni in Laterano und San Pietro in Vaticano wirkenden Reformer der Kirchenmusik, informiert er über die Beziehungen seiner „Missa“ zu den Reformdiskussionen auf dem Konzil von Trient (Palestrina schrieb sie 1562). Bei Arvo Pärt behandelt er vor allem dessen Wende im eigenen Kompositionsstil nach seiner Konversion zur russisch-orthodoxen Kirche.
Spezifische Einfachheit
Man kommt beim Lesen dieses Essays unwillkürlich zum Schluss, dass nach Schrammek die Tiefgründigkeit von Palestrina und Pärt in einer jeweils spezifischen Einfachheit besteht: Palestrina deckt nicht mit Polyphonie den liturgischen Text der Messe zu, sondern bringt ihn zum Strahlen, Pärt verwendet regelhaft gebundene Dreiklangstöne bei sparsamen Melodiebewegungen, baut daraus Klangflächen, auf denen die Texte stehen und glänzen.
Wenn man einmal so auf geflochtene Bänder von Altem und Neuem achtet, in denen Unterschiedlichkeit wie Gemeinsamkeit eine besondere Einheit in Verschiedenheit formen, dann fallen einem schon in der Berliner Philharmonie solche Beziehungen auf. Da steht seit neuestem ein hölzerner Stuhl aus der 1945 zerstörten alten Philharmonie in der Bernburger Straße, dem Ort, an dem Nikisch und Furtwängler dirigierten. Da der Mehrzwecksaal, ursprünglich als Rollschuhbahn, auch für Festessen und Bälle, benutzt wurde und nicht nur für das Philharmonische Orchester, gab es keine fest montierten Sessel, sondern überaus schlichte Holzstühle ohne Polster. Einer davon hat das Inferno des Bombenkriegs überlebt und würde heute vermutlich von vielen Besuchenden als unzumutbar empfunden.
Foto: Wikipedia
Direkt neben dem Stuhl aus der alten Philharmonie stehen Stühle, mit denen Hans Scharon seine 1963 eröffnete neue Philharmonie ausstattete: Ganz einfache Stahlrohrstühle mit sehr einfachen, knappen, dünnen Polstern in den Farben altgelb und dunkellila. Manche haben nicht einmal eine Rückenlehne. Einzelne Rohre sind schon etwas verbogen, das dünne Polster wurde sicher einmal irgendwann aufgepolstert. Bequemer als in der alten Philharmonie ist es sicher auf den Sitzen im großartigen, terrassenförmig gegliederten Konzertsaal der neuen, aber auch nicht luxuriös. Eine durch feine Eleganz aufgewertete Einfachheit prägt den Saal. Und die Stühle.
Einmal so auf die besondere Einheit in Verschiedenheit gewiesen durch das Konzert und die Stühle der Philharmonie, fällt auf dem Nachhauseweg gleich das nächste Paar auf. Die alte, nach weitgehender Kriegszerstörung abgerissene Philharmonie baute der Architekt Franz Schwechten aus einer Rollschuhbahn in einen Konzertsaal um. Von ihm stammte auch der große neoromanische Bau der alten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Charlottenburg auf dem heutigen Breitscheid-Platz. 1943 wurde auch diese Kirche durch Bomben schwer getroffen und nach längeren Auseinandersetzungen um einen Wiederaufbau die Reste des Kirchenschiffs vollständig abgerissen. Den Wettbewerb für den Neubau gewann der in Karlsruhe lebende Architekt Egon Eiermann. Eiermann musste – zunächst durchaus widerwillig – akzeptieren, dass eine überwältigende Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner wollte, dass die Turmruine der alten Kirche stehen blieb. Die steht nun in der Mitte zwischen einem neuen Glockenturm und dem oktogonalen Kirchengebäude. Wieder so eine spannungsreiche Einheit von alt und neu. 1963 wurde die neue Kirche eingeweiht, im selben Jahr wie die neue Philharmonie.
Ich leite eine Akademie der Wissenschaften, die dieses Jahr ihren dreihundertfünfundzwanzigsten Geburtstag feiert und vorletztes Jahr ihren dreißigsten gefeiert hat. Das ist natürlich mathematisch unmöglich, aber wir sind gleichzeitig vormals Preußische Akademie und die 1993 neu konstituierte Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Wir haben bis auf den heutigen Tag die sogenannten preußischen Traditionsvorhaben, wunderbare Editionen von antiken Inschriften und kanonischen Texten wie griechischen Medizinern oder christlich-antiken griechischen Autoren. Die stammen im Kern noch aus der Preußischen Akademie. Aber wir haben auch seit 1993 interdisziplinäre Arbeitsgruppen zur Gesellschafts- und Politikberatung, beispielsweise zur Zukunft der Arbeit oder gesunder Ernährung. Eine Neuerfindung, die rund dreißig Jahre alt ist. Gab es vorher nicht. Beides, die alten und die neuen Elemente, bilden ein mitunter spannungsreiches, aber immer bereicherndes Miteinander von Verschiedenheit in der Einheit einer Organisation.
Abgedroschene Programmformel?
Früher hielt ich die Formel „Einheit in Verschiedenheit“ für eine ziemlich abgedroschene Programmformel, mit der Politiker gern die Spannungen in Europa zudecken und Theologen die Probleme in der Ökumene. Sind Deutschland und Frankreich denn etwa wie Pärt und Palestrina? Sind die römisch-katholische und die evangelische Kirche denn wie der uralte einfache Stuhl der alten und der elegante, aber einfache Stuhl aus der neuen Philharmonie? Hilft die Idee, dass verschiedene, aber einander doch an bestimmten Punkten vergleichbare Dinge eine spannungsvolle, aber auch in sich reiche Einheit bilden, für das Verhältnis von Ost und West, arm und reich, Männern und Frauen und so weiter und so fort?
Hier stock´ ich schon. Man kann es mit der „Einheit in Verschiedenheit“ übertreiben und daraus eine recht triviale Formel machen. Eine Formel, die viel spannungsloser ist als die spannungsreiche Einheit von altem und neuem Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Warum passen die unterschiedlichen Türme am Breitscheidplatz so gut zusammen? Nun, Franz Schwechten war ein Meister seines Fachs, gerade so wie es Egon Eiermann auch war. Und beiden gelang jeweils noch ein Meisterwerk in der langen Reihe ihrer vorzüglichen Bauwerke.
Ein geflochtenes einheitliches Band aus Verschiedenheit setzt voraus, dass die verflochtenen Elemente von Alt und Neu von herausragender Qualität sind. Anders formuliert: Paul Gerhardt und irgendeine abgedroschene Schnulze passen nicht zusammen. Hohe textliche Kunst eines Gebetes oder biblischen Textes und ein künstlicher Gebetstext aus dem frisch auf den Markt gekommenen KI-Programm Chat GPT5 bilden keine Einheit in Verschiedenheit. Sinn und Geschmack für solche qualitätvollen Kombinationen von Alt und Neu muss man trainieren.
Aber eine gute Nachricht bei allem ist: Man kann es lernen. Und sollte es beispielsweise in der Ausbildung zum Pfarrberuf auch lernen können. Ob es aber gelingt, im Theologiestudium und in der zweiten Ausbildungsphase (auch so eine spannungsvolle Einheit) Altes, was wir schon lange haben, und Neues, was wir dringend brauchen, in Zukunft gut zu verbinden? Kommt darauf an. Worauf? Na, auf die Qualität.
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Christoph Markschies
Christoph Markschies ist Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er lebt in Berlin.
Ich muss gestehen: Ich habe ihn bislang übersehen. Schade. Mir zum Schaden. Von wem rede ich? Vom Systematiker Michael Trowitzsch. Jahrgang 1945. Vikar. Ordination.
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Habe nur ich den Eindruck? Seit einigen Jahren gibt es in der evangelischen Kirche einen regelrechten Boom an queerfreundlichen Initiativen. Und zwar nicht nur „von unten“ - an der Basis sind queere Aktionen und Akteur*innen schon lange präsent - sondern „von oben“.
Nachdem die Synode der Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) 2023 ein „Schuldbekenntnis gegenüber queeren Menschen“ verabschiedet hat, organisierte sie diesen Sommer ein „queersensibles Netzwerk-Treffen“ und will nun das Thema strukturiert in die eigenen Abläufe integrieren - etwa mit einem Curriculum, um Haupt- und Ehrenamtliche für queere Themen zu sensibilisieren, oder mit einer Konferenz zum Thema „Queere Theologie“. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) hat ebenfalls vor zwei Jahren eine Erklärung zur Schuld an queeren Menschen formuliert, und im Kirchenkreis Berlin Süd-Ost gibt es seit kurzem eine Projektstelle für Queere Arbeit. Die Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat seit 2023 eine Orientierungshilfe für die Trauung queerer Menschen. Der Dachverband der Evangelischen Frauen in Deutschland (EFiD) verpflichtet sich laut neuem Selbstverständnis ausdrücklich zu Queerfreundlichkeit. Die Nordkirche hat im Juni 2024 einen „Regenbogenmonat“ ausgerufen und Anfang 2025 eine nicht binäre Pfarrperson für queersensible Bildungsarbeit eingestellt. Um nur einige Beispiele zu nennen.
Mit Verspätung
Es wird zuweilen darüber gewitzelt, dass die evangelische Kirche gesellschaftliche Entwicklungen gerne mit zehn Jahren Verspätung nachvollzieht, und da ist was dran: Von der Gleichberechtigung von Frauen über die Abschaffung des Zölibats für Pfarrerinnen bis zur Anerkennung homosexueller Beziehungen zeigt sich ein ähnliches Muster. Und auch jetzt kommt das ungefähr hin. Viele Unternehmen und säkulare Organisationen haben in den 2010er Jahren das Thema Queerness entdeckt und zum Beispiel CSD-Paraden als gute Gelegenheiten für liberale Selbstdarstellung genutzt. Offizielle Kirchenwagen hingegen sind beim Christopher Street Day erst seit wenigen Jahren am Start. Dafür nun aber umso enthusiastischer: Dieses Jahr waren meine Social Media Accounts ein endloser Strom von Pfarrer*innen und anderen kirchenleitenden Personen in Glitzerklamotten, die vielfältige Geschlechtsidentitäten feierten und die entsprechenden Fotos stolz bei Instagram posteten.
Man kann sich über die notorische Zeitgeist-Nachzügelei der evangelischen Kirche natürlich lustig machen. Doch gerade heute könnte sich herausstellen, wie gut das ist. Oder was für ein Glück. Denn durch ihre notorische habituelle Verzögerung kommt die Kirche gerade jetzt auf dem Zenit queerfreundlichen Bewusstseins an, also zu einer Zeit, in der so viele andere ihre Fähnlein schon wieder in eine andere Richtung drehen.
"Vibe shift"
Nachdem autoritäre Machthaber wie Putin und Erdogan schon lange das Queere und Bunte als Feindbild entdeckt haben, stehen nun - inspiriert von Donald Trumps zweiter Amtszeit - auch in westlichen Demokratien die Zeichen konservativ-bürgerlicher Milieus auf „anti woke“. Und dazu gehört auch die Ablehnung von allem, was nach trans, queer, nicht binär und so weiter aussieht. Von einem „vibe shift“, einem Stimmungsumschwung ist die Rede. Tatsächlich hatten die CSDs in vielen Städten, darunter Berlin, Köln und Hamburg dieses Jahr mit deutlich gesunkenen Sponsoren-Einnahmen zu kämpfen. Viele Firmen scheinen erstmal abzuwarten, ob Queersein in Zukunft überhaupt noch „cool“ ist, oder ob man nicht lieber zu Werbezwecken einen Tradwife-Kanal gründen sollte.
Womöglich ist es tatsächlich ein Segen, dass wesentliche inhaltliche Pfadentscheidungen - wie die, ob man pro oder contra geschlechtliche Vielfalt ist - bei Kirchens etwas länger dauern als anderswo. Positionen werden hier nicht von oben dekretiert oder im Angesicht von Hypes und kurzfristigen Moden übers Bein gebrochen, sondern erstmal in Ruhe diskutiert, abgewogen und durchgekaut.
Aber dafür haben sie dann auch länger Bestand. Hoffentlich.
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Foto: privat
Antje Schrupp
Dr. Antje Schrupp ist Journalistin und Politologin. Sie lebt in Frankfurt/Main.
Besonders sichtbar wird die grundlegende Transformation der evangelischen Kirchen in Deutschland an der Frage nach dem Umgang mit kirchlichen Gebäuden: Kirchen, Gemeindehäuser und kirchlich genutzte Liegensc
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