Mut zur Macht
Mut zur Macht
Auf der Tagung der EKD-Synode in Dresden, die von heute an wie seit 2009 gewohnt in Eintracht mit der Generalsynode der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) und der Versammlung der Union der Evangelischen Kirchen in der EKD (UEK) durchgeführt wird, soll das Thema „Kirche und Macht“ im Zentrum stehen. Einige Gedanken dazu von zeitzeichen-Kolumnist Philipp Greifenstein.
„Kirche und Macht“ in Zeiten sinkender Kirchenmitgliedschaft zu diskutieren, ist schon allein deshalb angeraten, weil die vielfältigen Schrumpfungs- und Abschiedsprozesse in den evangelischen Kirchen keineswegs der evangelischen Pluralität Raum verschaffen, sondern vielmehr Zentralisierungs- und Rationalisierungsbestrebungen Vorschub leisten, die das synodale Prinzip und die Demokratie in der Kirche als Kollateralschäden gleich mit zu beerdigen drohen.
Sein Unbehagen darüber, dass auf dem – meine Worte! – unausweichlichen Weg von der „Volkskirche“ zur Partikularorganisation, zentrale reformatorische Errungenschaften in der evangelischen Kirche aufgegeben werden, hat unlängst Hans-Peter Großhans mehr oder weniger en passant in seinem Beitrag zum „Jahrbuch Sozialer Protestantismus 2025“ geäußert. In dem lesenswerten Band zum Thema „Sexualisierte Gewalt – Konstellationen, Problemanzeigen, Perspektiven“ schreibt der Professor für Systematische Theologie aus Münster über den Zusammenhang von sexualisierter Gewalt und protestantischer Ekklesiologie.
„Wo Menschen sich begegnen und sie gemeinsam elementare religiöse Lebensvollzüge praktizieren, da ist neben dem darin innewohnenden Guten immer auch das Böse gegenwärtig. Davon ist nach evangelischer Glaubensüberzeugung auch eine Kirche, die sich als ein sozialer Raum versöhnten Lebens versteht, nicht ausgenommen“, erläutert Großhans. Eine knappere Begründung dafür, dass menschlicher Macht in eben einer solchen Kirche klare Grenzen gesetzt werden müssen, kann man wohl kaum formulieren.
„Nach Martin Luther ist die Kirche als Ganze nicht von der Sünde ausgenommen. Sie ist selbst eine Sünderin“, erklärt Großhans weiter. Die evangelische Kirche sei im reformatorischen Verständnis eine „zum Gottesdienst versammelte Gemeinschaft von Menschen“. Von der „congregatio sanctorum“ aus müsse man „definitorisch“ verstehen, was Kirche sei.
Nachdenklichkeiten über die Teilnahme am Gottesdienstbetrieb oder gar über das lutherische Gottesdienstverständnis außen vor: Großhans warnt ausdrücklich vor einer Kirche, die sich als ein „Dienstleistungsbetrieb“ versteht, „der von Leitungspersonal und überhaupt dem Personal – traditionell gesprochen: dem Klerus – betrieben wird“. Eine solche Agentur-Kirche lehnt er aus guten reformatorischen Gründen ab.
Großhans gelangt zu dieser Warnung insbesondere auch durch eine Lektüre der Ergebnisse der „ForuM-Studie“ zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie von 2024. Was die Betroffenen über ihre Erfahrungen mit einer Kirche als übermächtiges Gegenüber zu Protokoll geben, diagnostiziert Großhans als bestimmendes Problem der Institution.
Hat der Professor recht? Es versteht sich von selbst, dass ich im Rahmen dieser z(w)eitzeichen-Kolumne weder die gesamte Argumentation von Großhans noch die Breite ihrer Implikationen darstellen kann. Das Studium seines Aufsatzes und des gesamten Jahrbuchs lege ich aber allen interessierten Leser:innen sehr ans Herz! Aber ich stimme Großhans, basierend auf meinen Beobachtungen der evangelischen Kirchenlandschaft, keineswegs in allen Punkten zu:
So zieht Großhans aus den bisherigen Aufarbeitungsbemühungen der Kirchen den Schluss, die evangelische Kirche müsse möglichst vollständig auf alle Ebenen oberhalb der Gemeinde vor Ort verzichten. Das scheint mir aus zwei Gründen unangemessen zu sein:
Erstens verdanken sich die sicher defizitären, aber doch maßgeblichen Impulse für eine Bearbeitung des Skandals des evangelischen Missbrauchs meinem Eindruck nach neben dem Druck von Betroffenen auf die jeweils höchsten Kirchenebenen vor allem dem Umstand, dass die EKD als Gemeinschaft der evangelischen Kirchen – wenn auch langsam und nicht ohne Widerstände – handlungsfähig geworden ist.
Mit dem Beteiligungsforum sexualisierte Gewalt in der EKD und Diakonie (BeFo) hat sie inzwischen (und übrigens quer zur Grundordnung der EKD) eine Institution etabliert, die eine Mitbestimmung von Betroffenen bei den vielfältigen Prozessen von Prävention, Aufarbeitung und Anerkennung einigermaßen ermöglicht und diese im Zusammenspiel mit der Fachstelle sexualisierte Gewalt im EKD-Kirchenamt, wenn schon nicht vollständig steuern, so doch in entscheidenden Fragen koordinieren kann.
Zweitens erscheint mir der Begriff der Ortsgemeinde, der Großhans offenbar vorschwebt, doch sehr analog und an einem Idealbild einer evangelischen Kirchgemeinde orientiert zu sein. Sicher stehen wir im Jahr 2025 den Möglichkeiten digitaler Gemeinschaftsbildung skeptischer gegenüber als noch zu Beginn des Jahrzehnts, aber dennoch erscheint es mir – nicht nur im Blick auf den Ritus – zielführender zu sein, von Kontaktflächen oder Begegnungsorten zu sprechen, an denen sich digital und/oder analog Gemeinschaft der Glaubenden entfaltet. Auch wenn es schwerfällt, diese nicht von einer Institution her zu denken, in der Profis für die Gestaltung ebensolcher Orte und Gelegenheiten zunächst zuständig sind.
Eine frei sich entfaltende Gemeinschaft der Glaubenden, die sich selbst eine Ordnung gibt und diese stets nach den aktuellen Bedürfnissen und theologischen Erkenntnissen neu orientiert, scheint mir ein unerreichbares Traumbild zu sein, das im besten Fall als Utopie handlungsleitend ist, sobald sich eine kirchliche Gemeinschaft – so Gott will! – nicht mehr allein als lokal gebundene oder personal verbundene Kleinstgemeinschaft aufstellt. Und in solchen Gemeinschaften sind die Gefahren des (Macht-)Missbrauchs ja keinesfalls kleiner…
Vielleicht ist Großhans mit seiner Kritik an der evangelischen Amtskirche auch viele Jahrzehnte zu spät dran. Jedenfalls verfolgen nicht erst die jüngsten evangelischen Reformvorhaben einen eigentümlich evangelischen Klerikalismus.
Back to the roots …
Doch zurück zu jenen Impulsen, die man aus Großhans‘ Warnung vor einer Kirche als „Dienstleisterin“ für Spiritualität und gemeinschaftliche Aktivitäten dringend mitnehmen sollte.
Erstens muss die Selbst- und Mitbestimmung von Betroffenen gewährleistet werden. Dabei meint „Betroffene“ hier nicht allein jene Menschen, die sexualisierte Gewalt erleiden mussten, sondern alle Menschen, die kirchliche Entscheidungen mitzutragen zu haben. Kurz gesagt: Macht sollte in einer evangelischen Kirche bei denjenigen Menschen liegen, die die Konsequenzen zu tragen haben. Also bei jenen, die konkret an den (analogen und digitalen) Orten des Glaubenslebens als Gemeinde versammelt sind. Und sie sollte nur dann durch Ordnungen und übergeordnete Gremien beschnitten werden, wenn es sachgemäß und -dienlich ist.
Es müssen sicher nicht immer alle zu jeder Zeit alles mitbestimmen, aber die Partizipation der Glaubenden kann sich nicht darin erschöpfen, Weisungen „von oben“ einfach durchleiten zu müssen. Nicht zuletzt ist damit auch der Qualität der Umsetzung sicher nicht gedient, die ja von Herzen kommen soll, also mindestens einmal nach beharrlicher Überzeugungsarbeit, wenn nicht sogar freiwillig erfolgen sollte. Solche Verschleißerscheinungen lassen sich in den evangelischen Kirchen reichlich beobachten. An die gegenwärtigen Reformprozesse in den evangelischen Kirchen, da stimme ich Großhans zu, ist darum mindestens ein Fragezeichen anzubringen.
Zweitens verwirklicht sich kirchliches Handeln in Institutionen und nicht allein in Mindsets. Wer sich als Amts- oder Verantwortungsträger allein auf Bewusstseinsbildung zurückzieht, hat kirchenleitendes Handeln womöglich schon defätistisch aufgegeben. Es genügt eben nicht, von „Empowerment“ zu reden, wenn Mitarbeitende und „der Klerus“ die Fülle der ihnen mit ihren Ämtern übertragenen Macht nur nach eigenem Gefallen oder extra weisungsabhängig oder gar nicht gebrauchen.
Nicht nur die Synode der EKD soll schrumpfen. Überall machen sich kirchliche Ämter und Verantwortungsträger klein. Ja, es muss gespart und darum angemessen verkleinert werden. Aber dass damit ein Kleinreden eigener Gestaltungsmacht einhergeht, gilt es zu problematisieren. Wer hat in einer Kirche, in der sich so viele Menschen auf allen Ebenen ohnmächtig fühlen und/oder die eigene Macht negieren, eigentlich das Sagen? Ist nicht genau das auch ein Aspekt der in der „ForuM-Studie“ dargestellten evangelischen „Verantwortungsdiffusion“? Auch im Machtvakuum kann man sich gemütlich einrichten.
Braucht es nicht vielmehr eine Kirche, deren ehren- und hauptamtliche Mitarbeiter:innen Mut zur Macht haben? Mut dazu, „Ja“ und gegebenenfalls auch „Nein“ zu sagen zu den Aufgaben, Verpflichtungen und Nötigungen, die ihnen im kirchlichen Dienst angetragen und, ja, zugemutet werden. Es wäre schade, würde die Dresdner Synodentagung allein damit zu Ende gehen, dass sich die Teilnehmer:innen gegenseitig der Notwendigkeit von Machtsensibilität versichern. Es ist genug, dass wir in einer Kirche in einer erlösungsbedürftigen Welt nicht umhin kommen, Macht übereinander auszuüben. Daraus Konsequenzen zu ziehen, bedeutet nicht allein, Macht gut einzuhegen, sondern auch, sie gut zu gebrauchen.
Philipp Greifenstein
Philipp Greifenstein ist freier Journalist sowie Gründer und Redakteur des Magazins für Kirche, Politik und Kultur „Die Eule“: https://eulemagazin.de