Es geht nur exemplarisch

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Hoffnung wider Gewalt und Tod

Hoffnung wider Gewalt und Tod

Karsamstag und Ostern 2023 unterwegs in Jerusalem

Ostern ist der Sieg des Lebens über den Tod, Ostern triumphiert das Licht das Friedens über die finsteren Mächte der Gewalt – so oder ähnlich wird in vielen Kirchen an den österlichen Feiertagen gepredigt, so oder ähnlich predige ich an Ostern gewöhnlich auch. In diesem Jahr hatte ich mich entschlossen, die üblichen und herzlich gern ausgeübten Verpflichtungen von Karfreitag bis Ostermontag einmal abzusagen und nach den ebenso üblichen Frühjahrs-Vorlesungen in Jerusalem einmal auch wieder die folgende Karwoche und die Ostertage in Jerusalem zu verbringen. Wie unmittelbar das alles mit Karsamstag und Ostern zusammenhängen würde, ahnte ich allerdings zuvor nicht.

Ich beginne mit dem Ostersonntag, weil an diesem Tag ein Erlebnis die eingangs erwähnten üblichen Sätze aus den Osterpredigten noch einmal ganz anders kontextualisierte. Zunächst besuchte ich den vormittäglichen Ostergottesdienst in der evangelischen Erlöserkirche in der Jerusalemer Altstadt, in der ich mich schon deswegen so zu Hause fühle, weil in der Kirche exakt das besondere Stuhlmodell steht, das für die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von deren Architekten Egon Eiermann entworfen wurde, und wie auch in Berlin eine Orgel der Firma Karl Schuke gespielt wird. Ich hatte zwar schon im katholischen Osternachtgottesdienst in der Basilika der Benediktiner-Abtei Dormitio auf dem Zionsberg mitgewirkt und am evangelischen Osterfrühgottesdienst auf dem Ölberg teilgenommen, fühlte mich aber nach kurzer Bettruhe durchaus noch für einen dritten Gottesdienst munter, die Osterchoräle sind einfach zu schön, als dass ich sie nicht gern mehrfach singe und auf diese Weise konnte ich drei der vier Ostergeschichten aus den Evangelien hören wie bedenken.

In der Grabeskirche

Nach dem vormittäglichen Gottesdienst in der Erlöserkirche ging ich die paar Schritte zur Grabeskirche hinüber, da noch etwas Zeit bis zum Mittagessen war. Eigentlich versuche ich bei jedem Besuch in Jerusalem mindestens einmal in die Grabeskirche zu kommen, weil sie mir – nach langem Fremdeln mit ihren Besonderheiten – ans Herz gewachsen ist (so dachte ich jedenfalls bis zur letzten Woche). Da doch Manches dafür spricht, dass hier der Hügel Golgatha in Resten erhalten ist, auf dem Jesus von Nazareth gekreuzigt wurde, und hier auch das Grab stark verändert erhalten ist, in das er nach seinem Tod am Marterinstrument gelegt wurde, fühle ich mich den grausamen Ereignissen, die vor fast zweitausend Jahren die Stadt Jerusalem erschütterten, besonders nahe.

So war ich dieses Jahr schon am Karfreitag im Gebäude, stand in der Golgatha-Kapelle auf dem über die Jahrhunderte bewahrten Felsensporn, und sah auf das Grab herunter. Am Ostersonntag war es nicht mehr so leicht wie am Karfreitag, die Kirche überhaupt durch das kreuzfahrerzeitliche Doppelportal, das inzwischen als Haupteingang dient, zu betreten. Der israelische Religionsminister, der zu meinen Jerusalemer Studienzeiten amtierte, hat eine Polizeiwache an der Grabeskirche einrichten lassen, um die dort oft etwas wirren Verhältnisse gegebenenfalls zu ordnen. Inzwischen haben sich die Sicherheitsstandards sehr verschärft und die israelische Polizei kontrolliert sehr streng den Zugang zum Gebäude, das praktisch nur den einen Haupteingang aufweist – nur in der Kirche wurde der anstehende Felssporn weitestgehend abgetragen und über den Durchbruch eines Notausgangs durch den rings um die Kirche weiter anstehenden Felsen konnten sich die verschiedenen christlichen Konfessionen bislang nicht einigen. Heute gibt es – trotz des energischen Protestes der Konfessionen – eine Höchstzahl von Personen, die das Gebäude betreten dürfen; frühere Massenversammlungen von mehreren Tausenden sind (Gott sei Dank) nun nicht mehr möglich.

Ostern war die neue Höchstzahl offenbar erreicht, eine lange Schlange wartete vor der Kirche, deren Vorplatz mit Gittern in eine Zuwegung und Abwegung unterteilt war. Wie es im Nahen Osten immer wieder geschieht – ich hatte mich brav am Ende der Schlange eingereiht, als plötzlich vor mir ein Gitter geöffnet wurde und ich zusammen mit einer kleinen Gruppe Menschen sehr energisch zum Eintreten in die Kirche an der langen Schlange vorbei genötigt wurde. In der Kirche standen alle dicht gedrängt, für die meisten Konfessionen war noch – nach dem nicht reformierten julianischen Kalender – Palmsonntag, für die Lateiner mit ihrer großen Orgel einer deutschen Firma allerdings schon Ostern. Um das Grab, frisch renoviert mit einem charakteristischen Tempietto auf dem Dach, herum zog eine armenische Prozession mit charakteristischen Melodien, aber immer wieder auch mit fröhlichem Geschrei, das mich unmittelbar an das erinnerte, was wir als Kinder „Indianergeheul“ nannten. Die armenische Geistlichkeit und die singenden bzw. johlenden Seminaristen des armenischen Priesterseminars waren in grüne liturgische Gewänder gekleidet, zu dem die hoch erhobenen frischen grünen Palmzweige bestens passten. Am Rande hielten israelische Polizisten und Wächter der Grabeskirche die Menschenmassen zurück, um der Prozession das ungehinderte Umschreiten des Grabes in der Rotunde zu ermöglichen.

Eine Schlägerei

Dieses Schauspiel und die Mischung aus Gesang und Gejohle beobachtete ich fasziniert, als plötzlich unmittelbar neben mir eine Schlägerei begann, die sich blitzschnell ausbreitete, so dass ich erschreckt etwas zurückwich. Liturgen und Seminaristen schlugen Menschen am Rande mit der Faust, Frauen, die am Rande standen, schlugen die Liturgen und Seminaristen, Polizisten und Wächter warfen sich dazwischen. Sekunden später stand vor mir ein Mensch, von dessen Stirn ein dickes Rinnsal dunkelroten Blutes herablief und der sich in diesem Zustand wieder in die Prozession einreihte. Da die Gewalt immer mehr ausgriff und wie ein ins Wasser geworfener Stein immer mehr Menschen erfasste, versuchte ich eilends durch die Menschenmassen fortzukommen an einen ruhigeren Ort der Kirche. Ich weiß nicht, warum die Gewalt so plötzlich aufkam und ich weiß auch nicht, wer in diese Auseinandersetzung verwickelt war: Stritten Armenier und Griechen um den Zugang zum Grab? Hatte die Prozession etwas zu energisch die Massen an den Rand gedrängt? Gab es Zwistigkeiten unter den Armeniern? Immerhin hat der armenische Patriarch ein Filetstück des armenischen Viertels der Altstadt, die armenischen Gärten (sie dienen seit Jahrzehnten als der einzige Parkplatz der Altstadt) an einen australischen Investor verkauft, der dort ein Hotel bauen will.

Ich weiß nicht, warum die Gewalt so plötzlich und so radikal aufbrandete, aber ich weiß jetzt noch viel deutlicher, dass der österliche Sieg des Lebens über den Tod und der Triumph des Friedens über die finsteren Mächte der Gewalt gegen die Wirklichkeit geglaubt und bekannt werden muss. Todesmächte überall um uns herum – Terroranschläge auf Israelis in der Karwoche in Tel Aviv und im Jordantal, Gewalt auf dem Haram as-Sharif, dem einstigen Tempelberg, mitten in Jerusalem und eine äußerst brutale Schlägerei unter Christenmenschen direkt vor meiner Nase in der Grabeskirche. Ostern ist im wahrsten Sinne des Wortes der Einbruch von Gottes Welt in die gewalttätige Welt der Menschen. Das wusste ich wohl (wie ich auch von der Gewalt in der Grabeskirche theoretisch wusste), aber nun ist mir diese Dimension des Glaubens an das Leben gegen die Wirklichkeit des Todes noch einmal klarer geworden. Selbst in der Kirche der Auferstehung (so nennen die Griechen das Gebäude, das die Lateiner als Grabeskirche bezeichnen) sind Gewalt und Tod allgegenwärtig. Das dunkelrote Rinnsal Blut mitten auf der Stirn werde ich so schnell nicht vergessen.

Demonstration für Demokratie

Aber neben dem Erlebnis am Ostersonntagmittag gab es auch noch ein Erlebnis am Karsamstagabend. Der christliche Teil der Stadt Jerusalem war stiller als sonst, die Glocken schwiegen, die Liturgien der Kirchen, die schon Karsamstag feierten, waren schlichter. Und mindestens bis Sonnenuntergang feierte auch der jüdische Teil der Stadt Shabbat und es ging in einzelnen Vierteln etwas ruhiger zu. Ich ging mit einer Kollegin von der Hebräischen Universität nach Sonnenuntergang zur wöchentlichen Demonstration für Demokratie und gegen die geplanten Maßnahmen der Regierung Netanjahu, die seit längerem vor dem Amtssitz des Staatspräsidenten in der jüdischen Neustadt abgehalten wird. Sie ist kleiner als die in den Medien stärker präsente riesengroße Demonstration in Tel Aviv, aber bunter. So sprachen eine feministische ultra-orthodoxe Jüdin (ja, diese Kombination gibt es), eine arabische Israeli aus Akko und eine Drusenfrau vom Karmel. Eine solche Kombination von Rednerinnen würde man auf den Demonstrationen in Tel Aviv nicht finden, sie gibt es aber in der multireligiösen Stadt Jerusalem.

Die feministische ultra-orthodoxe Frau bat die sehr große Menge von vielen hundert Demonstranten sehr eindringlich um Geduld: „Setzt uns nicht unter Druck“ sagte sie immer wieder, vom Applaus der Menge unterbrochen. Der Weg der Ultra-Orthodoxen zu Gleichberechtigung und in den Staat hinein (in dem die ultra-orthodoxen Männer beispielsweise keinen Wehrdienst leisten und sich auch sonst entfernt halten) ist weit, aber er kann nur gegangen werden, wenn der Rest der Gesellschaft nicht gewaltsamen Druck ausübt. Der produziert nur weitere Radikalisierung. Und die israelische Araberin aus Akko sagte, dass sie erwarten würde, dass die Forderung nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit nicht nur gegen die von Netanjahu geplante Justizreform erhoben werden dürfe, die die Unabhängigkeit der Judikative in Israel unrettbar beschädigen würde, sondern auch für die Rechte der arabischen Bevölkerung in Israel und Palästina erhoben werden müsse. Wieder donnernder Applaus.

Auf der Demonstration traf ich viele Kolleginnen und Kollegen und auch meine besten Jerusalemer Freundinnen und Freunde. Zwei, die 1968 aus Paris in das Land eingewandert waren, sagten, dass sie ein so machtvolles Bekenntnis zur Demokratie im Lande noch nie erlebt hätten und sich an ihre Pariser Jugend erinnert fühlten. Zwei andere sagten, dass sich erstmals seit 1948 ein breites Bekenntnis aller gesellschaftlichen Schichten zu einem demokratischen Staat im Nahen Osten wieder herstellen würde. Auch die gesellschaftlichen Gruppen jenseits der bürgerlichen Mehrheit seien in Jerusalem präsent – wie Ultra-Orthodoxe – und das sei doch sehr bemerkenswert.

Wahrhaftig auferstanden

Am Abend zuvor, zur Begrüßung des Shabbat, hatten wir in einer Kollegenfamilie diskutiert, ob es jetzt nicht Zeit sei, das Handy in eine Schutzhülle mit der israelischen Flagge zu stecken, um diese schon von der zionistischen Bewegung vor der Staatsgründung verwendete Fahne mit dem blauen Davidsstern zwischen zwei blauen Streifen auf weißem Grund nicht den rechtsnationalen Kreisen zu überlassen. Alle, mit denen ich auf der Demonstration sprach (und es waren überraschend viele, die ich kannte, die halbe Geisteswissenschaft der Universität und mancherlei Journalisten dazu), wussten noch nicht, ob die neue Demokratiebewegung letztendlich gewinnen könne gegen den Versuch der Rechtsnationalen, den Staat zu verändern, aber sie hielten die monatelangen Massenproteste für ein Zeichen einer neu erwachten Mitte, die sich zu den demokratischen Zielen der Staatsgründung neu verpflichtet. Inzwischen hat der Premier Netanjahu übrigens nicht nur die geplante Justizreform – in Wahrheit ein Gesetz zur Zerstörung der unabhängigen Justiz – sistiert, sondern die Entlassung seines kritischen Verteidigungsministers zurückgenommen; „er macht glücklicherweise so fatale Fehler, dass ihm das vielleicht das Amt kosten wird“, sagte ein Kollege von der Hebräischen Universität.

Als ich nach dem Ende der Demonstration aus der Neustadt wieder auf den Zionsberg heraufstieg, dachte ich bei mir: Manchmal beginnt die Osternacht noch vor der Entzündung des Osterfeuers in der Kirche. Hoffnung strahlt in eine Dunkelheit, von der die Zyniker behaupten, dass sie nie vergehen wird. Wieviele Menschen in Deutschland, die schon immer mit dem Judentum fremdelten, zeigen augenblicklich mit dem Finger auf Israel und ignorieren, dass auch bei uns beispielsweise wesentliche Elemente der Wahl der Verfassungsrichter durch den Bundestag auf ungeschriebenen Konsensen beruhen und augenblicklich zusammenbrechen könnten, wenn extreme Parteien bundesweit Mehrheiten erzielen würden wie in einzelnen Bundesländern? Schon drei Stunden vor Entzündung des Osterfeuers in der Basilika der Dormitio auf dem Zionsberg leuchtete das helle Licht der Scheinwerfer vor dem Präsidentenpalast in der Neustadt auf, ein großes Hoffnungszeichen wider Gewalt und Tod. Es hat mich ebenso berührt wie der christliche Gewaltausbruch am Tag drauf in der Altstadt.

Ich glaube nach diesem besonderen Ostern 2023 noch weniger als vorher, dass wir angesichts der Wirklichkeit dieser Welt und unseres Lebens die Radikalität der Auferstehungsbotschaft abschwächen sollten. Jesus von Nazareth ist nicht nur in unserer Erinnerung auferstehen, er lebt nicht nur in den Erzählungen. Er ist wahrhaftig auferstanden. Und wenn wir nur hinsehen, dann sind die Zeichen des Lebens in unserer Wirklichkeit von Tod und Gewalt unübersehbar. Unter Umständen gar nicht in der Kirche. Sondern vor einem Präsidentenpalast. Karsamstag und Ostern 2023 in Jerusalem. Ich werde es nie vergessen.

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Gefahr für die Demokratie

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Darf man Dummheit anprangern?
Foto: privat

In der Hochphase der Corona-Pandemie beklagte ich mich einmal in den sozialen Medien über die „Dummheit” mancher Argumente. Zum Beispiel, wenn Leute nicht verstanden, was exponentielles Wachstum ist, oder wenn sie unlogische Schlussfolgerungen zogen. Diese Dummheit, so schrieb ich, sei für mich schwerer zu ertragen als inhaltliche Meinungsverschiedenheiten.

Ich bekam damals sehr viel Widerspruch. Anderen Menschen Dummheit vorzuwerfen, sei „ableistisch“, also Diskriminierung aufgrund einer Behinderung. Seither lässt mich die Frage nicht mehr los: Ist es wirklich falsch, Dummheit anzuprangern?

Ich stimme sofort zu, dass man nicht sagen soll, jemand sei „blind“ für etwas oder ein Argument sei „idiotisch“. Diese Metaphern sind tatsächlich ableistisch, weil sie Behinderungen mit mangelnder Erkenntnis- und Zurechnungsfähigkeit gleichsetzen.

Aber Dummheit? Dummheit, so scheint mir, ist keine Metapher und auch keine Behinderung, sondern eine tatsächlich vorhandene, gefährliche Art und Weise, der Welt zu begegnen. Auch sehr gebildete Menschen können dumm sein, wie schon Hannah Arendt betonte: Gerade den klugen Menschen seien nach 1933 ungeheuer intelligente aber gleichwohl eben dumme Dinge zu Hitler eingefallen.

Kürzlich fand ich noch einen anderen Kronzeugen, Dietrich Bonhoeffer. Er schrieb 1942 in seinen Gefängnisnotizen: „Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bösheit. Gegen das Böse lässt sich protestieren, es lässt sich bloßstellen, es lässt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurücklässt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt lässt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen.“

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich erkenne in diesen Worten vieles wieder, was auch heute im öffentlichen Diskurs schiefläuft. Dietrich Bonhoeffer, der den gewaltsamen Widerstand gegen Hitler unterstützt hat und dafür im April 1945 hingerichtet wurde, schrieb diese Zeilen mit einer überwältigenden Zustimmung der nichtjüdischen deutschen Bevölkerung zum Hitler-Regime vor Augen. Auch in der Kirche gab es viel zu viel Applaus für die Nazis und ihre menschenverachtende Ideologie.

Und ja, ich glaube Bonhoeffer hat Recht: Der hauptsächliche Grund für diese verbreite Zustimmung zu den Nazis war nicht Bösheit, nicht Niedertracht, sondern tatsächlich Dummheit. Eine Mischung aus Verantwortungslosigkeit und Nicht-Nachdenken Wollen, der Wunsch, den Versprechungen und der Propaganda zu glauben, der Egoismus, sich ohne schlechtes Gewissen in den eigenen Privilegien zu sonnen und die Augen vor unangenehmen Wahrheiten aktiv zu verschließen.

Hat Bonhoeffer auch eine Idee, was man da tun kann? Argumente und Diskussionen, so war er überzeugt, helfen den Dummen nicht. „Man spürt es geradezu im Gespräch mit ihm“, schreibt er, „dass man es gar nicht mit ihm selbst, mit ihm persönlich, sondern mit über ihn mächtig gewordenen Schlagworten, Parolen und so weiter zu tun hat“.

Stattdessen setzte Bonhoeffer auf die Religion. „Die innere Befreiung des Menschen zum verantwortlichen Leben vor Gott“ sei „die einzige wirkliche Überwindung der Dummheit.“ Übersetzt hieße das: Wir brauchen eine andere innere Haltung und nicht einfach noch mehr Argumente und Debatten und Beweise. Ein erster Schritt dahin wäre meiner Meinung nach, die Dummheit als eigenständiges Problem zu erkennen. Denn mehr noch als die Bösheit hat sie das Potenzial, unsere Demokratie ernsthaft zu untergraben.

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Julian-Christopher Marx

Dr. phil.  Julian-Christopher Marx ist Wissenschaftlicher Referent für Religions- und Migrationspolitik bei Prof. Dr. Lars Castellucci MdB. Seine  Forschungsschwerpunkte sind Soziologie und Theorie der Religion sowie das Verhältnis von Religion und Politik.

Lars Castellucci

Dr. phil Lars Castellucci ist Mitglied des Deutschen Bundestages, stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Inneres und Heimat und Beauftragter für Kirchen und Religionsgemeinschaften der SPD-Bundestagsfraktion.  Seine Professur für Nachhaltiges Management an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim ruht derzeit.

Saskia Eisenhardt

Dr. Saskia Eisenhardt ist Leiterin reli:labor der Kieler Forschungswerkstatt am Lehrstuhl für Praktische Theologie der Universität Kiel.

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