Das sakramentale Wesen
Als sowjetischer Parteiaktivist zog Lew Kopelew vom ukrainischen Land Lebensmittel ab, obwohl da schon längst die Hungersnot begonnen hatte, die „Holodomor“ genannt wird. Ihr fielen schätzungsweise drei bis sieben Millionen Menschen zum Opfer. Eine Erinnerung an den Autoren, der vor 25 Jahren starb, vom Religionsphilosophen Thomas Brose.
Ohne Zar, aber noch mit Gott“ – so betitelt Lew Kopelew das Eingangskapitel seiner Autobiografie Und schuf mir einen Götzen. Darin schildert der 1912 in der Ukraine Geborene, wie langsam die Nachricht vom Untergang der Romanow-Monarchie durchsickerte und der Siebenjährige davon erfuhr, dass Zar Nikolaus II. gestürzt worden sei. Dies versetzte den Sohn aus bürgerlich-jüdischem Elternhaus in große Erregung, so dass er die Namen der neuen Führer, „Lenin und Trotzkij“, ausrief, worauf ihn sein Vater ohrfeigte.
Von großer Bedeutung für den jungen Lew, der in Kiew aufwuchs, waren von Anfang an die deutsche Sprache und Kultur. Er berichtet davon, wie 1917 ein neues „deutsches [Kinder-]Fräulein, Jelena Franzewna“, in der Familie zu arbeiten begann. „Sie war hochgewachsen und blond, hatte ein schmales Gesicht, lächelte selten, war aber gerecht. Ikonen hatte sie keine, sie las in einer kleinen Bibel. Manchmal las sie daraus auch mit gedämpfter Stimme vor. Von Christus sprach sie auch, aber ihr Christus verlangte nicht, daß ich mich bekreuzigte. Mehr noch, es stellte sich heraus, daß er selbst und auch seine Jünger Juden waren – gute wie wir; gekreuzigt hatten ihn andere, böse, solche wie Trotzkij und die Bolschewiki, die ebenfalls gegen Christus waren. Er aber hatte gelehrt, allen zu vergeben, Mitleid zu haben und nicht nur seine Freunde, sondern auch seine Feinde zu lieben. Das war ganz ungewöhnlich und schön.“
Als die „Roten“ die Ukraine von den „Weißen“ endgültig zurückeroberten, arbeitete der Fünfzehnjährige bereits als Bauarbeiter und Metalldreher, später wurde er Werkjournalist und Lehrer im Charkiver Lokomotiven-Werk. Der junge Komsomolze fühlte sich vom Enthusiasmus der „neuen Zeit“ mitgerissen. „Von der Sowjetmacht“, schreibt Kopelew, „hatte ich keinerlei Vorstellung oder vielmehr die allerverdrehteste. Aber die weißen Schufte, die haßte ich. Die Sozialrevolutionäre begeisterten mich. Direkte Aktionen, Revolver, Dynamit.“
Mittlerweile zum überzeugten Atheisten geworden, wollte er seine jüdischen Wurzeln hinter sich lassen und seine Treue gegenüber Partei und Sowjetmacht unter Beweis stellen: durch besonderen Eifer bei der „Getreidebeschaffung“ in der Ukraine. Die Mitschuld, die er als zwanzigjähriger Aktivist während der ungeheuren Hungerkatastrophe 1932/33 auf sich lud, beurteilte Kopelew rückblickend als die düstersten Jahre seines Lebens. „Der Weg in die Hungerkatastrophe“ bildet deshalb in Und schuf mir einen Götzen ein zentrales Kapitel, in dem der Autor – wie das vorangestellte Motto aus Jeremia 31,19 unterstreicht – hart mit sich ins Gericht geht: „Ich bin zu Schanden geworden und stehe schamrot da; denn ich muß büßen die Schande meiner Jugend.“
Schwieriger Lernprozess
„Den Winter der großen Getreidebeschaffungskampagne, die Wochen des großen Hungers habe ich nie vergessen. Oft habe ich davon erzählt, aber erst Jahrzehnte später begann ich, all das niederzuschreiben“, kommentiert der Autor einen schmerzhaften Lernprozess. Erhellend erläutert sein Biograf Reinhard Meier (Lew Kopelew. Humanist und Weltbürger, Darmstadt 2017) dazu: „Kopelew erinnert daran, dass bei der Niederschrift seiner Erinnerungen in den 1960er- und 1970er-Jahren das Thema ukrainische Hungerkatastrophe in der sowjetischen Öffentlichkeit immer noch verboten war. Um sein Gedächtnis zu überprüfen und zu ergänzen, vertiefte er sich im Lesesaal der Moskauer Lenin-Bibliothek in die Lektüre vergilbter sow-jetischer Zeitungen und anderer Publikationen aus jener Zeit. Der Zugang zu solchen Materialien aus den Tiefen der Bibliotheksarchive war damals wohl nur möglich dank Kopelews Mitgliedschaft im Schriftstellerverband. Bei der Lektüre dieser Zeitungen mit endlosen offiziellen Resolutionen, Reden von Parteifunktionären, Berichten von Dorfkorrespondenten stieß er auch auf unzählige Artikel‚ ,wie ich sie früher schrieb oder hätte schreiben können.’“ Nachdem er sein Gedächtnis durch diese Lektüre erneut mit den Verbrechen jener Zeit konfrontiert hatte, stiegen aus dem Unbewussten plötzlich verdrängte Erinnerungen und schmerzhafte Bilder auf: „Als ich das rasch Hingeschriebene durchging und es Freunden vorlas, meldeten sich Fragen in mir, uralte, scheinbar längst genau und endgültig beantwortete. Sie tauchten auf wie Minen eines vergangenen Krieges, rostig, aber immer noch gefährlich. Aber ganz neue Fragen stellten sich mir, unerwartet und lästig. Bestürzende Fragen an die Geschichte, an die Zeitgenossen, an mich selbst. Wie konnte all das geschehen?“ – so fragte der vor 25 Jahren verstorbene jüdisch-ukrainisch-russische Schriftsteller stellvertretend für eine ganze Generation gläubig-enthusiastischer junger Intellektueller. In seinen Memoiren macht der Autor auf das gewaltige Mobilisierungs-Potenzial des politischen Messianismus aufmerksam: Noch im Jahr 1932 requirierte er als Parteiaktivist nämlich Lebensmittel an der ukrainischen „Getreidefront“, obwohl da schon längst jene apokalyptische Hungersnot begonnen hatte, die sich bis heute tief ins kollektive Gedächtnis der Ukraine eingeprägt hat: der „Große Hunger“ – Holodomor – dem in der damaligen Sowjetrepublik schätzungsweise drei bis sieben Millionen Menschen zum Opfer fielen.
Tatsächlich handelte es sich dabei nicht um eine Umweltkatastrophe, sondern um eine künstlich von der Moskauer Zentrale herbeigeführte Hungersnot. Das in der „Kornkammer der Sowjetunion“ requirierte Getreide wurde mit Profit ins Ausland verkauft. Die privaten Bauern, Brotproduzenten zu normalen Zeiten, mussten aufgrund der von Stalin angeordneten Kollektivierung der Landwirtschaft ihre ganze Ernte hergeben, hatten jedoch, anders als Arbeiter in den Städten, selbst kein Anrecht, Nahrungsmittel zu erwerben; viele starben deshalb in Charkiv, der „Hauptstadt der Verzweiflung“. Bereits 1921 hatte Lenin geschrieben: „Der Bauer muss ein wenig Hunger leiden, um dadurch die Fabriken und die Städte vor dem Verhungern zu bewahren.“ Später – so Kopelew – erklärte dann Stalin: „Der Kampf ums Getreide ist ein Kampf um den Sozialismus.“
Der Autor verweist bei der Frage nach seiner Mitschuld am „Holodomor“ nicht auf die Fernsteuerung durch die sowjetischen Führer im Kreml; er bekennt sein eigenes verblendetes Handeln. Der spätere Dissident, der den Großen Terror des Jahres 1937, bei dem weit über eine Million „Volksfeinde, Verräter und Spione“ verhaftet wurden, als Student der deutschen Literatur am Moskauer Fremdspracheninstitut überlebte, beschreibt, wie ihn ein Welterlösungs-Glaube antrieb, seinen unmenschlichen Auftrag kalt und gefühllos zu exekutieren: „Damals glaubte ich unverbrüchlich an die Notwendigkeit der ‚sozialistischen Umwandlung des Dorfes’ ... glaubte, wir würden ein in der Geschichte der Menschheit noch nicht dagewesenes gerechtes System schaffen, das allen Menschen ohne Ausnahme Frieden, Freiheit und alles Glück der Erde brächte.“
In dieser eschatologischen Hoffnung auf den „Neuen Menschen“ manifestiert sich ein wesentliches Merkmal von Kopelews säkularisierten Messianismus: Erlösung wird nicht mehr – wie in der jüdisch-christlichen Heilgeschichte – als Geschenk und paradiesische Gabe am Ende der Tage ersehnt, sondern von einer quasigöttlichen Autorität – später sprach der Schriftsteller ganz bewusst von einem „Götzen“ – erwartet. Gewalt erscheint daher notwendig; sie ist geheiligt, um endlich ins Gelobte Land der kommunistischen Gesellschaft einziehen zu können. Persönliche Schuld wird suspendiert, denn es geht schließlich um das Ende aller Geschichte: um den großen innerweltlich-endzeitlichen Schalom.
Kopelew, der 1997 starb, sah in seinen späten Jahren einem alttestamentlichen Propheten immer ähnlicher. Dieser Umstand beruhte keineswegs bloß auf Äußerlichkeiten. Vielmehr vollzog er eine tiefgreifende Wandlung vom kommunistischen Aktivisten zum jüdisch-christlich inspirierten Humanisten. Mit anderen Worten: Er entdeckte damit – um es mit Emmanuel Lévinas zu sagen – das Antlitz des Anderen auf neue Weise. Nachzulesen ist das zum Beispiel in dem Band Aufbewahren für alle Zeit! Der Titel bezieht sich auf den Stempelaufdruck „chranitj wetschno“ („ewig aufbewahren“), mit dem in der UDSSR jene Gerichtsakten versehen wurden, in denen es um Staatsverbrechen erster Klasse ging.
Mitleid mit dem Feind
Zu einem solchen Kriminellen, der Gesetze auf schlimmste Weise gebrochen hatte, wurde Kopelew nach dem Krieg abgestempelt. Er hatte sich nämlich als Major der Roten Armee und Träger zahlreicher Tapferkeitsauszeichnungen 1945 Plünderungen und Vergewaltigungen in Ostpreußen widersetzt, was ihm den Vorwurf des „Mitleids mit dem Feind“ einbrachte und zur Androhung des „Erschießens“ führte. „Und nun habe ich Sie zu informieren“, schreibt Kopelew über die gegen ihn vorgebrachte Anklage, „daß Sie beschuldigt werden, im Augenblick entscheidender Kämpfe – als unsere Truppen das deutsche Territorium betraten – sich mit der Propagierung des bürgerlichen Humanismus befaßt und Mitleid mit dem Feind gehabt zu haben; daß sie ferner, statt ihren Auftrag durchzuführen – nämlich den moralisch-politischen Zustand der Bevölkerung in Ostpreußen zu erkunden, die mögliche Tätigkeit des faschistischen Untergrunds zu untersuchen –, sich um die Rettung Deutscher bemühten, das moralische Niveau der Truppe schwächten, gegen Rache und Haß agitierten – gegen den heiligen Haß auf den Feind.“ Ein Militär-Tribunal verurteilte ihn deshalb zu zehn Jahren Straflager und GULAG.
Im Gegensatz zu Alexander Solschenizyn richtete sich der Regimekritiker jedoch nie in einer antiwestlich-slawophilen Haltung ein. Gemeinsam mit seiner Frau, der Amerikanistin Raissa Orlowa, wurde er nach seiner Ausbürgerung 1981 vielmehr zu einer zentralen Gestalt im geistigen Leben der Bundesrepublik. Dass Lew Kopelew zur Versöhnung zwischen Ost und West einen Beitrag leisten und mit einem Wuppertaler Forschungsprojekt der „West-östlichen Spiegelungen“ zur Differenzierung des deutschen Russlandbildes beitragen konnte, ist vor allem der Fürsprache seines engen Freundes Heinrich Böll zu verdanken.
Religiöse Dimensionen
Böll macht im Nachwort zu Aufbewahren für alle Zeit mit großer Behutsamkeit auf religiöse Dimensionen im Werk seines Weggefährten aufmerksam. „Nimmt man das Wort Religion beim Schopf, so bedeutet es immer noch Bindung; und in diesem Bekenntnis Kopelews wird eine Bindung an den Menschen, ans Menschliche und auch Allzumenschliche sichtbar.“ Es gebe, so Böll, Situationen „sakramentaler Art, die Verteilung von Brot und Wasser im Gefängnis von Brest etwa, die unter Kopelews Leitung und Aufsicht stattfindet: er wird zum Priester, fast Hohenpriester des Brotes und des Wassers … Kopelew wird zum Joseph des Alten Testaments“.
Die Herausgeberin der Zeit, Marion Gräfin Dönhoff, brachte es in ihrer Laudatio auf Lew Kopelew zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1981 so auf den Punkt: „In seinem großen Herzen hatten sie alle Platz: Christen und Juden, Polen und Deutsche, Kommunisten und Oppositionelle.“
Thomas Brose
Dr. Thomas Brose ist Philosoph und Theologe. Er lebt in Berlin.