Jakob segnet seine Tochter Josef

Warum wir ein Selbstbestimmungsgesetz für Transmenschen brauchen
Kerze
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Nicht nur ein Mord in Münster – Transmenschen erleben vielerorts Diskriminierung. Unter dem Deckmantel des Feminismus oder des Kindeswohls kehren Moralwächter*innen Transmenschen in die Schmuddelecke, meint Klaus-Peter Lüdke, Gemeindepfarrer der württembergischen Landeskirche. Auch in der Kirche laufe nicht alles rund, so der Autor, der Vater eines erwachsenen, transidenten Kindes ist.

Bei der queeren Parade „Christopher Street Day“ in Münster wurde Ende August, vor wenigen Wochen, ein 25 Jahre alter Transmann niedergeschlagen und schwer verletzt. Nach Polizeiangaben hatte er den Angreifer aufgefordert, Beschimpfungen gegen andere CSD-Teilnehmende zu unterlassen, und versucht zu schlichten. Nach der Attacke lag der Transmann im künstlichen Koma und verstarb nach knapp einer Woche im Krankenhaus.

Hasskriminalität gegen queere Menschen hat laut Auskunft des Bundesminis­teriums des Innern zwischen 2018 und 2021 in Deutschland um 247 Prozent zugenommen. Gewaltdelikte wegen deren sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität nahmen im selben Zeitraum um 69 Prozent zu. In einer Erhebung der EU-Grundrechteagentur gaben 58 Prozent der befragten transgeschlechtlichen Personen aus Deutschland an, in den zurückliegenden zwölf Monaten diskriminiert oder belästigt worden zu sein. Die Straßenbahn, der Park, der Friedhof oder die Einkaufsmeile sind keine sicheren Orte für transidente oder gleichgeschlechtlich liebende Personen. Dabei sind Hass und Gewalt nur die Spitze des Eisberges alltäglicher Diskriminierung queerer Menschen.

Viele Transkinder haben sich nie in dem Geschlecht erlebt, das ihnen bei der Geburt zugewiesen worden war. Ihr Gehirn hat eine andere Geschlechtsausprägung als der Rest ihres Körpers. So suchen sie sich wie selbstverständlich einen für ihr Geschlecht passenden Namen aus und füllen ihre empfundene Geschlechtsrolle voll aus. Das beginnt häufig im Kleinkindalter. Kommen sie in die Kita, wird ihr Vorname, der nirgends amtlich festgehalten ist, womöglich nicht akzeptiert. Weil auf der Geburtsurkunde etwas anderes steht, verbietet die Schulleitung den Klo-Gang auf die vom Kind gewählte Toilette.

Falscher Name

Wir Eltern des Trans-Kinder-Netzes e. V. kennen Kinder und Jugendliche, denen es vor jeder Zeugnisausgabe in der Schule graut, weil der Name auf dem Dokument für sie falsch ist und sie sich dadurch bloßgestellt fühlen. Unser Bildungssystem, das sich für die Akzeptanz und Toleranz von Vielfalt einsetzt, wird nicht selten zum Hindernis für queere Kinder und Jugendliche, ihre Persönlichkeit und Identität frei zu entfalten. Manche Transjugendliche lassen sich lieber beim Fahren ohne Fahrschein erwischen, statt ihr Schüler*innenticket mit dem falschen Namen vorzuzeigen; das würde ein erzwungenes Outing bedeuten. Die diesbezüglichen Fragen sind ihnen unangenehmer, als ohne Ticket erwischt zu werden. Wir kennen Kinder, die auch nicht mehr zur Schule und zum Arzt gehen wollen, weil es sich für sie wie ein Spießrutenlauf anfühlt, wenn sie dort mit ihrem „Deadname“ aufgerufen und angesprochen werden. Wir kennen Kinder, die auf Auslandsreisen am Flughafen eine körperliche Untersuchung über sich ergehen lassen mussten, weil Beamt*innen vermuteten, die Eltern wollten ein Kind mit falschen Papieren außer Landes bringen, nur weil das Kind, die oder der Jugendliche, eine andere Geschlechtsidentität lebt, als im Reisepass steht oder der Vorname im Personalausweis vorgibt.

Viele Eltern begleiten ihr queeres Kind in verantwortungsvoller Weise. Was aber, wenn die eigene Familie ihr Kind zwingt, seine bei der Geburt zugewiesene Rolle auszufüllen? Etliche Transkinder geraten in den Rosenkrieg ihrer getrennten Eltern, von denen nicht selten ein Partner die Oppositionsrolle gegen die Transidentität einnimmt. Und manchmal geschieht die Diskriminierung aus der Kirche heraus: Das Transkind wird aus dem Kindergottesdienst ausgeschlossen, damit es die anderen „nicht ansteckt“. Es darf nicht auf die Jugendfreizeit mitkommen, weil die Mitarbeitenden unsicher im Umgang mit queeren Jugendlichen bei der Zimmer- oder Zeltbelegung sind? Es gibt Eltern von Transkindern, die von großer Akzeptanz ihrer Kirchengemeinde berichten. Doch dann gibt es auch den Priester oder den Pfarrer, der das queere Kind vom Abendmahl oder von der Kommunion ausschließt, in der Beichte auf eine Veränderung seiner Geschlechtsidentität drängt oder ganz bewusst den vom Kind unerwünschten Namen benutzt. Solche Kirchenvertreter nehmen dabei bewusst in Kauf, dass das ihnen anvertraute queere Kind zerbricht.

Ein Prinzessinnenkleid

Der 17-jährige Josef im ersten Buch Mose trägt ein Prinzessinnenkleid. Alttestamentler wie Claus Westermann oder Jürgen Ebach übersetzten den Urtext in Genesis 37 so in ihren Kommentaren, erfassten die Besonderheit des Prinzessinnenkleides für Josef, waren aber noch nicht in der Lage, den queeren Menschen in ihrer Auslegung zu sehen oder im Blick zu behalten. Es geht in diesem Alter nicht mehr um die Rollenspiel-Klamottenkiste im Kindergarten. Josefs Vater hatte das Kleid eigens für seine Transtochter angefertigt. Josefs Brüder aber teilen die Toleranz ihres Vaters nicht. Sie unterwerfen Josef, demütigen sie sexuell, ziehen sie aus, leugnen ihr Mädchensein, werfen sie in eine Zisterne. Sie zerfetzen ihr Prinzessinnenkleid und besudelen die Überreste mit Ziegenblut, um einen Angriff eines wilden Tieres vorzutäuschen, und verkaufen Josef in die Sklaverei.

Ihr Verhalten erinnert mich an die mediale Bekämpfung des geschlechtlichen Selbstbestimmungsgesetzes. Unter dem Deckmantel des Feminismus oder des Kindeswohls kehren Moralwächter*innen Transmenschen in die Schmuddelecke und wittern die Gefahren von betrügerischen und sexuellen Trieben unter dem Deckmantel eines vermeintlichen anderen Geschlechts. Vermeintliche Transfrauen gäben nur vor, Frau zu sein, um an für Frauen vorbehaltene Orte zu kommen, an denen sie ihre sexuellen Gewaltphantasien gegen Frauen ausleben könnten. Stattdessen nimmt die Gewalt gegen Transkinder und Jugendliche zu, während ihnen ihr Recht auf die eigene geschlechtliche Selbstbestimmung abgesprochen wird. Es ist im Grunde auch das heute noch gültige Verfahren nach dem Transsexuellengesetz (TSG), bei dem dieses Recht an Gutachter*innen delegiert wird. Trans-Gegner*innen unterstellen, dass die Änderung des Vornamens und Geschlechtseintrags Jugendlichen irreversible geschlechtsangleichende Maßnahmen ermögliche.

Manche Transjugendliche brauchen in der Tat medizinische Unterstützung, um die geschlechtliche Entwicklung ihres Körpers zu stoppen oder in eine andere Richtung zu lenken, weil sie sonst nicht weiterleben können. Doch darüber befindet nicht der Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde, sondern ausschließlich fachärztliche Expertise, durch sorgfältige, jahrelange gewissenhafte Prüfung nach medizinischen Leitlinien, intensiv psychotherapeutisch begleitet, und das alles auch nur dann, wenn es für die Betroffenen keinen anderen Ausweg gibt, mit Würde und Selbstannahme weiterzuleben. Das erfordert das Einverständnis der Betroffenen und von deren Sorgeberechtigten.

Sünde und Gräuel

Josefs Geschwister erinnern mich aber auch an diskriminierendes Verhalten kirchlicher Brüder und Schwestern gegen Transpersonen. Ihre Identität wird dann in der Sprache des ersttestamentlichen Heiligkeitsgesetzes als Sünde und Gräuel bezeichnet. Queerfeindliche Bibelauslegung kennt keine Nächstenliebe. Ihre Hermeneutik weigert sich, innerbiblische Kritik am Heiligkeitsgesetz wahrzunehmen. Sie hält an Bibelworten fest, die sich scheinbar gegen gleichgeschlechtliche Liebe stellen, ohne sie in ihrem Kontext zu fassen, in dem es um die Ablehnung von heidnischer Tempelprostitution und den Schutz ihrer Opfer geht.

Jesus bejaht die Ehe von Frau und Mann. Darüber hinaus spricht er aber in Matthäus 19,12 davon, dass die herkömmliche Zuordnung von weiblich bis männlich auch Menschen einschließe, die von Geburt an ein außergewöhnliches Geschlecht hätten. Jesus benützt hier die griechische Wendung der „Eunuchen von Geburt an“. Das sind Menschen, deren angeborene Eigenschaften eine eindeutige Zuordnung als Mann oder Frau nicht zulassen oder für die herkömmliche Ehe zwischen Frau und Mann hinderlich sind. Dazu zählen intergeschlechtliche Menschen, die mit männlichen und weiblichen Körpermerkmalen auf die Welt kommen, transidente Menschen, die mit einem Körper auf die Welt gekommen sind, der nicht zu ihrer Geschlechtsidentität passt. Auch andere queere Menschen begreifen ihr Queersein als Teil ihrer Geschlechts­identität. Jesus sagt dazu, es gelte, das zu fassen und damit diese Menschen anzunehmen. Sie sind keine Bedrohung für das gesegnete Miteinander von Frau und Mann; sie sind eine seltene, aber in den Augen von Jesus auch kostbare Variante der Schöpfung Gottes.

Schöpfungsvielfalt Gottes

Ob es die in der Sprache der Liebe und des Ehebundes gefasste Beziehung zwischen David und Jonathan ist oder die erste geschilderte christliche Taufe des queeren „Kämmerers“ aus Äthiopien, die Transformation der Eva aus dem beide Geschlechter enthaltenden Ur-Adam oder die ausdrückliche Wertschätzung queerer Menschen durch JHWH selbst in Jesaja 56,4f: Die biblische Annahme der bunten Schöpfungsvielfalt Gottes ist keine Erfindung der LGBTQIA+Bewegung. Ihre Wiederentdeckung sollte vielmehr den kirchlichen und freikirchlichen Wertekatalog hinterfragen, der bislang Sicherheit und Orientierung gab, aber nicht mit einem weiten Herz gepaart ist. Wenn Besorgnis oder die Konfrontation mit bislang Unbekanntem in christlichen Kreisen in Ablehnung, Hass oder Gewalt umschlägt, stimmt etwas nicht. Der alte Stammvater Israels, Jakob, hält an seiner Akzeptanz Josefs fest. Am Ende seines Lebens segnet er Josef im hebräischen Urtext ausdrücklich als eine seiner Töchter.

Wollten Transmenschen bislang ihren Namen oder Geschlechtseintrag in den amtlichen Papieren ändern lassen, forderte das Amtsgericht zwei, manchmal auch mehrere psychiatrische Gutachten an. Häufig sind die bestellten Gutachterinnen und Gutachter nicht für Transkinder und Jugendliche geschult. Der Fragekatalog ist selbst für erwachsene Transpersonen eine Tortur. Es wird nach dem Kinderspielzeug und den Masturbationsgewohnheiten gefragt. Die Verfahrens- und Gutachtenkosten von mehreren Tausend Euro werden bei Kindern und Jugendlichen auf die unterstützenden Familien abgewälzt. Wer kann das stemmen? Und dabei geht es in den Gutachten nur darum, festzustellen, welche Geschlechtsidentität die betreffende Person nach ihrer eigenen Auskunft dauerhaft erlebt. Das Bundesverfassungsgericht hat darum das entwürdigende Transsexuellengesetz (TSG) aus dem Jahr 1980 in fast allen Punkten für willkürlich, verfassungswidrig und menschenunwürdig erklärt.

Die Bundesregierung hat im Sommer 2022 ein Eckpunktepapier für ein neues Selbstbestimmungsgesetz auf den Weg gebracht. Es soll das diskriminierende TSG ersetzen. Es sieht vor, dass volljährige Menschen durch eine schlichte Erklärung beim Standesamt die Änderung ihres Geschlechtseintrages sowie ihrer Vornamen vornehmen lassen können. Für Minderjährige bis 14 Jahre geben die Sorgeberechtigten die Änderungserklärung ab. Ab 14 müssen die Sorgeberechtigten zustimmen. Im Konfliktfall mit einem oder mehreren Elternteilen kann das Familiengericht für das Kindeswohl einstehen. Damit die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen vor Augenblicksentscheidungen geschützt werden, kann diese nach einem Jahr wieder rückgängig gemacht werden. Aus europäischen Ländern, die ein solches geschlechtliches Selbstbestimmungsrecht bereits eingeführt haben, wird von keinem Missbrauch dieses Rechts berichtet. Der Schritt in ein anderes Geschlecht aus einer Laune oder Phase heraus wäre zu einschneidend.

Für Menschen, die damit ihrer Geschlechtsidentität Ausdruck verleihen können, ist das Gesetzesvorhaben die Erfüllung eines Traums. Transpersonen werden mit dem Selbstbestimmungsgesetz ernst genommen und besser gegen Alltagsdiskriminierung geschützt. Die Frage nach geschlechtsangleichenden Hormonen und Operationen bleibt eine nach der medizinischen Notwendigkeit und wird nicht dem Spiel der politischen oder gesellschaftlichen Kräfte überlassen. Bleibt zu hoffen, dass auch alle Kirchen und christlichen Gemeinden das volle Ja zu ihren queeren Geschwistern finden, wie es von Adam bis Christus in der Bibel Niederschlag gefunden hat. 

 

Information

Klaus-Peter Lüdke begleitet ehrenamtlich Eltern transidenter Kinder in der Elternberatung des Trans-Kinder-Netzes e. V. Dort ist er auch Vorstandsmitglied. Er schrieb 2018 „Jesus liebt Trans. Transidentität in Familie und Kirchgemeinde“ und 2021 „Queer mit Gott. Bibel und Glaube unter dem Regenbogen“. Beide Bücher sind im Manuela-Kinzel-Verlag erschienen.

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