Humor des lieben Gottes

Rückblick auf persönliche Erfahrungen beim Ökumenischen Rat der Kirchen
„So nicht!“ – Margot Käßmann bei ihrem letzten Auftritt im Zentralausschuss des ÖRK am 29. August 2002 in Genf. Aus Protest gegen aus ihrer Sicht zu weit gehende Zugeständnisse an die orthodoxen Mitgliedskirchen verließ sie damals nach fast 20 Jahren Mitgliedschaft das Gremium.
Foto: epd-bild/Peter Williams
„So nicht!“ – Margot Käßmann bei ihrem letzten Auftritt im Zentralausschuss des ÖRK am 29. August 2002 in Genf. Aus Protest gegen aus ihrer Sicht zu weit gehende Zugeständnisse an die orthodoxen Mitgliedskirchen verließ sie damals nach fast 20 Jahren Mitgliedschaft das Gremium.

Margot Käßmann war 25, als sie 1983 in Vancouver gegen den ausdrücklichen Willen der EKD Mitglied im Zentralausschuss des ÖRK wurde. Die ehemalige hannoversche Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende schreibt über ihre fast zwanzig Jahre Arbeit in diesem Führungsgremium. Für die Vollversammlung in Karlsruhe hofft Käßmann, dass „alle Dissense“ ehrlich auf den Tisch kommen.

Im Spätsommer 1981 erreichte mich ein Brief der EKD, in dem mir mitgeteilt wurde, ich sei als Delegierte für die 6. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Vancouver 1983 benannt. Es war ein zusätzlicher Platz frei geworden für eine Frau unter dreißig Jahren, nicht ordiniert. Gesucht wurde sie in einer kleineren Landeskirche, und ich kam dem Ausbildungsdezernenten von Kurhessen-Waldeck in den Sinn, weil ich zu der Zeit gemeinsam mit Jochen Cornelius Sprecherin der Theologiestudierenden dort war. Ein Zufall mit vielen Folgen für meine Biografie. Wolfgang Huber, damals Professor in Marburg, gab mir den guten Rat, die Vorbereitungszeit für die Vollversammlung mit der Vorbereitung auf das erste theologische Examen zu kombinieren, das war hilfreich.

Eine Woche nach dem ersten theologischen Examen brachen mein Mann, unsere kleine Tochter und ich nach Vancouver auf. Für mich war die Teilnahme eine ungeheure Horizonterweiterung, die schon bei der Jugendvorkonferenz begann. Was für eine Chance, junge Christinnen und Christen aus aller Welt kennenzulernen, sich auszutauschen! Aber auch was für eine Konfrontation mit dem Elend der Welt! Die Kritik an den Kirchen war deutlich. In der Abschlusserklärung hieß es: „Wir kommen aus vielen kaputten Kirchen und kaputten Gesellschaften in einer kaputten Welt. Unsere Welt scheint weit entfernt zu sein von dem Einen Leib Jesu Christi.“

Es folgte die erstmalige Vorkonferenz der Frauen, organisiert von der Leiterin des Frauenreferates, Bärbel Wartenberg. Das war eine großartige Idee. Denn es wurden vorab Beziehungen geknüpft. Und wir konnten geradezu einüben, wie Frauen sich im Plenum zu Wort melden, sich aufeinander beziehen können, statt sich durch die Kulisse oder Leitende Geistliche einschüchtern zu lassen. Viele Frauen erfüllten wie ich mehrfache Quotenvorgaben und waren nicht gewohnt, im großen Rahmen zu reden. Etliche von uns sind über Jahrzehnte in Verbindung geblieben.

Scharfe, politische Reden

Und schließlich die Versammlung als Ganzes, 4 000 Menschen täglich im großen Zelt. Begegnungen mit der Orthodoxie, mit asiatischer und afrikanischer Theologie, mit ungewohnter Spiritualität in den täglichen Gottesdiensten und Andachten. Trotz all der Papiere, der manchmal mühseligen Abstimmungsprozesse und der auf uns Jüngere sehr ermüdend wirkenden Verfahren, war ich begeistert. Es gab scharfe, politische Reden. Philip Potter als Generalsekretär entwarf die Vision der weltweiten Kirche gut biblisch als Haus der lebendigen Steine. Heino Falcke brachte für die Delegation des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR den Impuls ein, unter Berufung auf Dietrich Bonhoeffer ein Konzil des Friedens einzuberufen. Der südafrikanische Theologe Alan Boesak erklärte im Anschluss, die Europäer dürften die Friedensfrage nicht „benutzen, um den Problemen der Ungerechtigkeit, der Armut, des Hungers und des Rassismus aus dem Wege zu gehen“. Darlene Keju Johnson hielt daraufhin eine bewegende Rede, in der sie beschrieb, welche verheerenden Auswirkungen die französischen Atomwaffentests im Pazifik hatten: Fehlgeburten, schwere Missbildungen bei Kindern. So wurde klar: Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung sind inhaltlich verbundene Themen. Und dafür einzustehen hat etwas mit der Glaubwürdigkeit der Kirche zu tun. Ekklesiologie und Ethik, Glauben und Kirchenverfassung sowie Praktisches Christentum sind verbunden. Der konziliare Prozess kam in die Programmrichtlinien. Ich ahnte damals noch nicht, dass er mich jahrelang beschäftigen würde.

Die Jugenddelegierten wollten durchsetzen, dass 15 Prozent der Plätze in allen Gremien von Menschen unter dreißig Jahren besetzt werden. Da die EKD als neben der russisch-orthodoxen Kirche größte Delegation sechs Plätze im Zentralausschuss haben würde, beschlossen sie, mich für einen Platz vorzuschlagen. Das allerdings widersprach dem Vorschlag, den der Rat der EKD mitgegeben hatte. Der hannoversche Landesbischof und Ratsvorsitzende Eduard Lohse macht das in der Delegation klar. Ein Jugendlicher aus der anglikanischen Kirche aber nominierte mich mit einer Rede dennoch „from the floor“ – und ich wurde gewählt. Ich war hin- und hergerissen zwischen Freude und Verunsicherung. Der zuständige Oberlandeskirchenrat erklärte mir, er könne zu der Wahl nicht gratulieren. Das sei ein verlorener Platz für die EKD, denn ich hätte „keine Erfahrung, keine Beziehungen, ja noch nicht einmal ein Faxgerät“. Heute sehe ich ein wenig Humor des lieben Gottes darin, dass sich damals niemand hätte vorstellen können, dass ich Landesbischof Lohse in beiden Positionen nachfolgen würde.

Zurück in Deutschland stand ein Netzwerk bereit, um mich zu unterstützen: das „Plädoyer für eine ökumenische Zukunft“. Erfahrene Ökumeniker wie Werner Simpfendörfer und Geiko Müller-Fahrenholz vernetzten mich, gaben mir Chancen zur Teilnahme und Teilhabe. Vielfach wurde ich eingeladen, um von der Vollversammlung zu berichten. Im Nachhinein muss ich sagen, dass diese Vollversammlung für mich biografisch weichenstellend war. Sie war eine Horizonterweiterung in entwicklungspolitischer und theologischer Hinsicht, und sie hat mich in Gremien geführt, in denen ich lernen und Erfahrung sammeln konnte.

Vielleicht war der Ökumenische Rat der Kirchen 1983 auf dem Höhepunkt seiner Bedeutung. Er wurde gehört, hatte Gewicht. Und er führte zu heftigen Auseinandersetzungen. Was ist „richtige“ Theologie, wurde gefragt. Beim Rat der EKD mussten wir als Delegierte Rede und Antwort stehen. Es wurde gefragt, ob wir „einen Totempfahl umtanzt“ hätten, weil wir Gäste bei einem Ritual der Ureinwohner waren. Mit einem Bezug auf die „Theologie der Kokosnuss“ wurde ein Beitrag aus dem Pazifik lächerlich gemacht. Als zu politisch wurde der ÖRK von vielen wahrgenommen, vor allem wegen des Programms zur Bekämpfung der Apartheid. Aber es ging dabei immer auch um Theologie. In jeder theologischen Fakultät auf der Welt, die ich seit 1983 in aller Welt besuchen konnte, fand ich Bonhoeffer, Bultmann und Barth in Originalsprache oder Übersetzung. Aber wo sind theologische Konzepte aus Afrika, Asien, Lateinamerika in unseren deutschen Bibliotheken oder auch in der Lehre hier überhaupt präsent? Da promovieren Theologinnen und Theologen aus Korea, Brasilien oder Ruanda in Deutschland und auf Deutsch an deutschen Fakultäten, weil das hohes Renommee hat. Doch respektieren wir in Deutschland Theologie aus dem globalen Süden? Pfarrer aus Deutschland sind in vielen Ländern dort selbstverständlich tätig. Aber wenn ein Pfarrer aus Malawi aus familiären Gründen nach Deutschland kommt, kann es – ich habe ein konkretes Beispiel vor Augen – Jahrzehnte dauern, bis er hier tätig sein darf.

Etwas ungeschickt und nur mündlich

Die folgenden sieben Jahre habe ich mich hineingearbeitet in die Verfahren des Zentralausschusses, habe gelernt, wie Anträge formuliert werden und wie Koalitionen entstehen können, um die Abstimmung zu entscheiden. Es fing gleich bei der ersten Zentralausschusssitzung 1984 in Genf an. Mit dem „Plädoyer“ hatte ich vorbereitet, den „konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung“ aus den Programmrichtlinien in Vancouver in ein reales Programmkonzept umzuwandeln. Etwas ungeschickt und nur mündlich habe ich das im Plenum vorgebracht. Hans-Joachim Held, der Vorsitzende, erklärte, so sei der Antrag nichtig. Generalsekretär Philip Potter kam zu mir, bat mich nach draußen und fragte mich vor dem Plenarsaal, was ich denn erreichen wolle. Ich habe es ihm erklärt. Er hat mir geholfen, einen richtigen Antrag zu formulieren, der dem Vorsitz auch vorlag. Und siehe: Es hat funktioniert. Mich hat das nachhaltig beeindruckt, bei Philip Potter, aber auch Desmond Tutu und anderen: Die Jüngeren wurden nicht als minderwertig angesehen nach dem Motto: still sein und dazulernen. Sondern sie wurden ernst genommen. Das habe ich später als Landesbischöfin versucht, weiterzuführen.

Ich habe aber auch begriffen, was es heißt, machtlos zu sein. Etwa, als wir Jüngeren in Moskau 1988 versuchten, eine Resolution des Zentralausschusses zur Verurteilung des Ceaușescu-Regimes zu erreichen. Auf einmal traten Vertreter der orthodoxen Kirche auf und erklärten, sie würden wunderbar gestützt in Rumänien. Vater Ceaușescu halte eine segnende Hand über die Kirche. Es war eine richtige Inszenierung, die mich fassungslos machte. Als ich nach der verlorenen Abstimmung mit Tränen aus dem Raum ging, kam die armenische Delegation auf mich zu. Sie luden mich zum Essen ein, um mir zu erklären, wie Kirche funktioniert.

Der inhaltliche Schwerpunkt meiner Arbeit wurde ab 1984 der konziliare Prozess. Mich hat begeistert, wie der ÖRK so unmittelbar in den Mitgliedskirchen in der Bundesrepublik und der DDR wirkte. Für mich erschien, wie in Vancouver angedacht, auf eindrückliche Weise die ekklesiologische Frage mit sozialethischen Herausforderungen verknüpft. Das Kirche-Sein der Kirche erweist sich an den Herausforderungen von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung. In der DDR gab es drei bewegende Versammlungen, zwei in Dresden, eine in Magdeburg, bei der ich für den ÖRK ein Grußwort sprechen durfte. In Westdeutschland haben wir Versammlungen in Königstein und Stuttgart abgehalten. Der Kirchentag richtete eine Stelle zur Begleitung ein. Gruppierungen von der Gemeindebasis kamen mit Kirchenleitungen zusammen. Ich erinnere mich an ein Frühstück in Königstein, bei dem ein Friedensaktivist und ein Offizier staunten, sich als Christen kennenzulernen. Aufbruchstimmung, Mut zur Veränderung waren spürbar.

Zur siebten Vollversammlung in Canberra 1991 flog ich als inzwischen ordinierte Pfarrerin und nach dem Abschluss einer Promotion über den ÖRK bei Konrad Raiser im dritten Monat schwanger mit meiner vierten Tochter. Ich wurde gefragt, ob ich bereit wäre, die Leitung der Einheit „Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung“ zu übernehmen. Ein Ehrenamt, gewiss. Aber ein forderndes. Es hat mich die folgenden sieben Jahre viel Kraft und Engagement gekostet, aber es war eine großartige Erfahrung.

Es folgte das Programm „Ökumenische Dekade der Kirchen zur Überwindung von Gewalt“. Mehreren Zentralausschussmitgliedern erschien das die logische Konsequenz aus der Dekade „Kirche in Solidarität mit Frauen“ und ihren Erkenntnissen über die reale Gewalt gegen Frauen in den Kirchen. Auch hier habe ich mich engagiert, ein Büchlein mit einer Programmkonzeption geschrieben, um die Vollversammlung in Harare (Simbabwe) 1998 zu überzeugen.

Aber mein Engagement wurde zunehmend überschattet von der „Sonderkommission zur Beteiligung der orthodoxen Kirchen“. Von Seiten der Orthodoxie, vor allem der russisch-orthodoxen Kirche, wurde moniert, all die Diskussionen und Abstimmungsprozesse seien der Kirche unwürdig. All der Feminismus, die politisch geprägten Programme seien Anpassung an den westlichen Zeitgeist. Schon bei der Vollversammlung in Harare hatte mich all das befremdet. Als bei der Zentralausschusssitzung 2002 der „Abschlussbericht der Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im ÖRK“ verabschiedet wurde, war bei mir das Maß voll. Kompromisse ja. Aber keine Abstimmungen mehr, nur noch Konsens? Das war das Ende der Streitkultur, die ich im ÖRK so geschätzt hatte. Auf ökumenische Gottesdienste sollte verzichtet werden. Lediglich konfessionelle oder interkonfessionelle Gebete konnten noch abgehalten werden. Mir schien, alles, was mich begeistert hatte, wurde abgeschafft. Also trat ich von meinem Sitz im Zentralausschuss zurück.

Damals erklärte der Rat der EKD sein Bedauern. Mein Rücktritt sei „ein Signal, über die Konzeption und die Wirkungsweise des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) und über das Verhältnis zu den orthodoxen Kirchen nachzudenken“. Nachgedacht wurde wahrscheinlich, aber geändert wurde nichts. Es fanden weiter freundliche Begegnungen und theologische Gespräche statt. Als ich 2009 Ratsvorsitzende der EKD wurde, brach die russisch-orthodoxe Kirche ihre Beziehungen zur EKD ab. Meine Wahl zeige die „Anpassung an westlichen Zeitgeist“. Damals hat das Kirchenamt der EKD überlegt, ob ich überhaupt auf den Brief von Patriarch Kyrill antworten könne, wenn er eine Frau im Amt ja nicht akzeptiere. Ich habe erklärt, ich sei nun mal die Ratsvorsitzende, also wolle ich antworten, ob der Patriarch das nun liest oder nicht. Der Kompromiss war, dass der damalige Auslandsbischof Martin Schindehütte gemeinsam mit mir die Antwort unterzeichnete.

Aus lauter Ehrfurcht geschwiegen

Meine Frage ist, ob nicht viel zu lange aus lauter Ehrfurcht vor den orthodoxen „Brüdern“ stillgeschwiegen wurde angesichts der oft nationalistischen, abgrenzenden Haltung. Man zeigt sich gern zusammen, aber offene Konflikte wurden unter den Tisch gekehrt. Ja, es wurde alles getan, um die orthodoxen Kirchen im Ökumenischen Rat der Kirchen zu halten. Meines Erachtens manches Mal um den zu hohen Preis der protestantischen Streitkultur.

Im Vorfeld der diesjährigen Vollversammlung wurde überlegt, die russisch-orthodoxe Kirche von der Vollversammlung in Karlsruhe auszuladen. Schon rein rechtlich kann ihr als Mitgliedskirche seit 1961 die Teilnahme nicht untersagt werden, abgesehen von der Frage, ob überhaupt Delegierte anreisen wollen. Wenn sie aber kommen, dann sollten sie zu klaren Gesprächen eingeladen werden! Denn miteinander zu ringen und zu reden ist immer besser, als den Gesprächsfaden abreißen zu lassen. Auch nach meinem Rücktritt aus dem Zentralausschuss hatte ich viele Kontakte zu orthodoxen Christen. Ökumenischen Dialog befürworte ich. Nur sich strukturell zum Konsens zwingen zu lassen, das kann ich nicht akzeptieren. Realistisch ist doch, den Dissens auf den Tisch zu legen und dann zu schauen, wie wir als Kirchen glaubwürdig Zeugnis in der Welt ablegen. 

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Margot Käßmann

ist Landesbischöfin a.D. und ehemalige Ratsvorsitzende der EKD. Bis 2018 war sie Herausgeberin von "zeitzeichen". Sie lebt in Hannover.


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