Das Ende der Märchenstunde

Ansätze zu einem neuen Narrativ jenseits der geraden Linie
Perspektivische Konstruktion verschiedener Körper: Kupferstich von Hendrik Hondius d. Ä. (1573–1650) nach Zeichnung von Hans Vredeman de Vries (1527–1609).
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Perspektivische Konstruktion verschiedener Körper: Kupferstich von Hendrik Hondius d. Ä. (1573–1650) nach Zeichnung von Hans Vredeman de Vries (1527–1609).

Die vielfachen Krisen in der Welt sind eine Folge falscher Narrative des Menschen über sich und seine Stellung in der Natur, meint die promovierte Historikerin Marhild Hoffmann. Statt weiter der geraden Linie der Rationalität zu folgen, sei es an der Zeit, die Spirale als gestaltendes Entwicklungsprinzip zu sehen.

Was nun? Die Corona-Pandemie ist kaum überwunden, da knallt uns die nächste Katastrophe vor die Füße. Was verharmlosend „Klimawandel“ genannt wurde, wird in seinen Auswirkungen auch bei uns als Klimakatastrophe sichtbar. Und doch wird sie derzeit durch den Krieg in der Ukraine medial in den Hintergrund gedrängt. Die Vorschläge für Veränderungen sind zahlreich, doch was allen fehlt, ist die Grundlage dessen, was geändert werden soll. Worauf fußen die Entscheidungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik? Was bildet die Grundlage unserer Werteordnung?

Gemeint ist hier nicht das Grundgesetz, die deutsche Verfassung, oder irgendein anderer Gesetzestext. Es geht vielmehr um Erzählungen, die tief im kollektiven Gedächtnis verankert sind und noch vor den normierten Texten liegen. Sie wollen dem gesellschaftlichen Gefüge in ihrem Sinne Halt geben, wie es Märchen in früheren Zeiten getan haben. So allen voran das Märchen vom unendlichen Fortschritt, verbunden mit dem Märchen vom unendlichen Wachstum. Da ist das Märchen von der Beherrschbarkeit der Natur, das Märchen von der Technik als Retter von allem Übel, ja das Märchen von der Berechenbarkeit allen Lebens. Und da ist auch noch das Wirtschaftsmärchen von der Rationalität des Marktes, neben dem in der Märchensammlung sogleich das Märchen vom sozialen Aufstieg steht.

Aber vielleicht sind das alles ja nur einzelne Kapitel des einen großen Märchens über den Menschen als „Maß aller Dinge“, über die Allmacht des Menschen, über den Menschen, der sich als „Krone der Schöpfung“ die Erde „untertan machen“ kann. Es war also einmal eine Zeit, da schuf nach biblischem Verständnis Gott diese Erde, indem er das Chaos beseitigte und eine Ordnung herstellte, damit dieser Planet für den Menschen bewohnbar sei. Ihn also, den Menschen, schuf Gott nach diesem Text als „Bild“ und „Gleichnis“. Zudem ist diese besondere Stellung des Menschen mit einem Herrschaftsauftrag über die Erde verbunden: Bedienen und hüten soll er sie, wie es Martin Buber übersetzt. Die Aufgabe, über Gottes Schöpfung zu herrschen, zeichnet den Menschen nach dem achten Psalm aus als nur wenig niedriger als Gott und mit Ehre und Herrlichkeit gekrönt.

Falscher Anspruch

Daraus den Anspruch herleiten zu wollen, „Krone der Schöpfung“ zu sein mit dem Recht, diese Erde ausbeuten zu können, unterliegt jedoch einem Trugschluss und ist in diesem übertragenen Sinne durchaus als Märchen anzusehen. Die Erde zu „bedienen“ ist nämlich eigentlich das genaue Gegenteil davon, sich dieselbe dienstbar zu machen, zugespitzt, sie ausbeuten, Macht ausüben zu können. Für den biblischen Menschen sind die einzelnen Elemente der Schöpfung nicht mehr Gottheiten, die gesamte Schöpfung wird als das Werk des einen und einzigen Gottes betrachtet. In der Interpretation folgt daraus allerdings, dass Gott eben nicht mehr Teil der Erde, sondern ab jetzt „außen oben vor“, das heißt im Himmel, verortet wird. Damit kann die Natur nun gewissermaßen dem menschlichen Zugriff zur Verfügung stehen, ob sie will oder nicht.

So können sich die Märchenheldinnen und -helden die Natur mehr und mehr aneignen, schließlich hat ihr Erfindergeist sie mit immer neuer Technik ausgestattet, die ihnen erlaubt, die anstehenden Aufgaben zu bewältigen. Die schier unbegrenzte Kreativität der Märchenprotagonisten bringt immer neue Techniken hervor, die schließlich auch das Leben erleichtern oder sogar verlängern. So können die Folgen nicht ausbleiben: Mit Hilfe der technischen Errungenschaften verliert die Natur mehr und mehr ihre Bedrohung und scheint für die eigene Nutzung immer leichter verfügbar zu sein. Im Laufe der Zeit erhält die Technik somit einen so hohen Stellenwert, dass sie einen quasi-religiösen Charakter bekommt. Dass Technik in vielen Bereichen unverzichtbar ist, ist gar keine Frage. Warum allerdings Helden und Heldinnen einer künstlichen Intelligenz mehr vertrauen sollten als der eigenen, erschließt sich nicht wirklich.

Die Frage, was oder wer der Mensch ist, berührt zutiefst das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen, zum Transzendenten, zum Göttlichen. In Märchen und Mythen vielfach beschrieben, wie überhaupt Gegenstand von Kunst und Wissenschaft, ist es wohl ein Verhältnis, das nicht statisch erscheint, sondern das in einem dauernden Prozess immer wieder neu gestaltet werden muss. Ein solcher Wandel setzte zum Beispiel am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit ein, als unter Rückgriff auf die griechisch-römische Antike der Mensch „als Maß aller Dinge“ im Rahmen des Märchens über das Selbstverständnis des Menschen wiederbelebt wurde. Die wohlproportionierte Gestalt des Menschen sollte danach Maßstab für alle und alles außerhalb von ihm selbst und auch gegenüber anderen sein. Die Welt, so vermittelte dieses Selbstverständnis, sei gar auf den Menschen hin geschaffen.

Gravierender Wandel

Ein solch gravierender Wandel vollzieht sich häufig über einen längeren Zeitraum und ist begleitet von Veränderungen auf den verschiedensten Gebieten, wobei vielfältige Ursachen eine Rolle spielen. So hatten die Menschen in Europa bereits durch die Kreuzzüge seit dem Ende des 11. Jahrhunderts fremde Länder und andere Religionen kennengelernt. Zugleich vollzog sich ein gesellschaftlicher Wandel, der unter anderem die Städte aufblühen ließ, das Bürgertum stärkte und durch einen regen Handel zur Entfaltung des Wirtschaftslebens beitrug. Die Erfindung der Uhr im 13. Jahrhundert veränderte das Zeitverständnis der Menschen. Dieses war bis dahin durch einen mit dem Wechsel der Jahreszeiten einhergehenden kreisförmigen Verlauf gekennzeichnet. Ziel allen Schaffens stellte die baldige Erwartung des Jüngsten Gerichts dar. Nun verband sich mit der Uhr, trotz des runden Zifferblattes, vielmehr das Verständnis von der Zeit als einer bis ins Unendliche fortlaufenden geraden Linie.

Ein Übriges trug die Kunst mit der „Erfindung“ der Zentralperspektive im 15. Jahrhundert bei. Diese zweidimensionale Darstellung der dreidimensionalen Welt geht kurzgefasst davon aus, dass sich alle parallelen Linien am Horizont in einem sogenannten Fluchtpunkt treffen. Die Linear- oder Zentralperspektive ist eine mathematisch basierte Konstruktion der Sicht auf die Welt, die das Bildmotiv scheinbar genau wiedergibt. Gewiss hat in Europa die griechisch-römische Antike, auf die ja die Renaissance zurückgriff, Einfluss auf das abendländische Denken gehabt, auch wenn es im Mittelalter verschüttet war. In der Renaissance jedoch gewann die Vorstellung von der Beherrschbarkeit und Berechenbarkeit der Welt und des Lebens neue Nahrung. Die mathematisch basierte und damit scheinbar rationale Weltsicht hat sich als eurozentrisches Denken nunmehr weltweit Gültigkeit verschafft.

Die gerade Linie gilt als Linie der Rationalität und der Wissenschaft und ist somit durchaus begründet. Sie kann jedoch der Lebendigkeit des Lebens nicht gerecht werden. Wird sie als linearer Zeitstrahl gesehen, so ist sie nicht kreativ, da sie kausal allein auf Ursache und Wirkung beruht und damit nicht hinterfragt werden kann. Sie bestimmt jedoch von einem angeblichen „Urknall“ ausgehend unser Denken über die Entwicklung der Welt bis heute. Bildete einst das Jüngste Gericht den Endpunkt, so ist mit der perspektivischen Sicht in die Unendlichkeit eben diese Unendlichkeit scheinbar handhabbar geworden. Die Heldinnen und Helden der Märchenerzählung über ihr Selbstverständnis haben sich damit gewissermaßen die Unendlichkeit verfügbar gemacht, die bis dahin allein Gott vorbehalten war.

Das Märchen, das sich diese Heldinnen und Helden von nun an erzählten, handelte von einem allmächtigen Selbstverständnis, zu dem sie sich obendrein selbst ermächtigt hatten. Verstanden sie sich nunmehr als eigenständiges Subjekt, als Individuum, so konnte dementsprechend alles von ihnen Unterschiedene jetzt als Objekt zur eigenen Verfügung angesehen werden. Da liegt in Wahrheit zugleich die Skepsis der Heldinnen und Helden gegenüber dem Christentum begründet, nicht aber in den naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen. Die folgten erst sehr viel später. Entscheidend war vielmehr das neu entdeckte Selbstbild mit seinem Glauben an die eigenen unbegrenzten Möglichkeiten eines unendlichen Fortschritts. Dieser nämlich, das Fortschreiten auf einer geraden Linie, bestimmte von jetzt an das Denken und Handeln und erhielt ebenfalls quasi religiösen Charakter.

Eine mathematisch begründete, scheinbar objektive und weitgehend auf Rationalität basierende Weltsicht hat durchaus etwas Faszinierendes, wird doch damit der Anschein erweckt, etwas so Komplexes wie das Leben handhabbar und damit beherrschbar zu machen. Dass es sich auch dabei um ein Märchen handelt, wird spätestens im Kapitel über den Kapitalismus mit seinen negativen Folgen für die Menschen in dieser Welt und für diese Welt selbst deutlich. Die für den Kapitalismus als Wirtschaftssystem behauptete Rationalität besteht nämlich genau genommen hauptsächlich in der Kalkulation von Gewinn und Verlust, also in der Frage, wie aus viel Geld noch mehr Geld gemacht werden kann.

Begrenzte Erde

Tatsächlich sind es allerdings nur einige Wenige, bei denen sich diese Kalkulation zu ihren Gunsten auszahlt. Zu diesem Märchen gehört auch das gern geglaubte Märchen vom sozialen Aufstieg von Held und Heldin, wenn diese nur fleißig genug seien. Und wer nicht aufsteigt, so die Lehre aus diesem Märchen, war eben nicht fleißig genug. Unterfüttert wird dieses Märchen noch von der Vorstellung eines unendlichen Wachstums der wirtschaftlichen Ergebnisse. Übersehen wird allerdings, dass auf dieser begrenzten Erde nichts ins Unendliche wachsen kann.

Wie aber sollte das Märchen heißen, das dem Helden und seiner Heldin mit allen, die dazu gehören, das Überleben auf dieser Erde sichert, auch noch für folgende Generationen? Eine mögliche Antwort findet sich, und das kann eigentlich nicht überraschen, in der Kunst. Friedensreich Hundertwasser (1928–2000) war ein Künstler, der mit seinen „dunkelbunten“, leuchtenden Bildern nicht nur andere perspektivische Sichtweisen möglich machte. Mit dem Gedanken der Stadtbegrünung und seinen fröhlich-bunten Häusern zeigte er bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren andere Wege auf. Hundertwasser richtete sich nämlich mit seinen Appellen vehement gegen die gerade Linie und war davon überzeugt, dass der Lauf der Dinge der Form einer Spirale gleicht.

Die Spirale ist grundsätzlich offen. Dynamisch zielt ihre Drehbewegung nach außen, in das Weltall, in welchem die Spiralform bei den Drehbewegungen der Gestirne erstaunlicherweise vielfach anzutreffen ist. Die Spirale erreicht zwar vorherige Punkte wieder, aber auf einer höheren Ebene, womit sie diese nicht wirklich berührt. Es war die Starrheit und Kälte der Konstruktion, welche Künstler zu allen Zeiten immer wieder abgeschreckt hat, und schon lange sehen sie unser westliches Leben auch durch eine Ansammlung kalter, gerader Linien und rechter Winkel in seiner Lebendigkeit bedroht.

Für manche Bereiche mag die konstruierte gerade Linie notwendig sein. Der bunten Fülle des Lebens kann sie nicht gerecht werden. So verwundert es nicht, dass die neuere Forschung den Verlauf der Erde ganz anders sieht. Für die Quantentheorie nämlich besteht der lebendige Lebensprozess aus geistigen Möglichkeiten, aus Potenzialität, woraus sich dynamisch und kreativ stets wieder neu Realität entwickelt. Dies führt zu einem ständigen Schöpfungsprozess, an dem alle beteiligt sind, denn quantentheoretisch gibt es keine Trennung des Menschen von der Natur. Er ist vielmehr Teil derselben, weil sich alles miteinander berührt. Dieser Prozess gleicht eben nicht einem ständigen, linear fortschreitenden Wettbewerb gegeneinander, sondern er schraubt sich spiralförmig immer weiter hoch, indem er sich einerseits auf der nächsthöheren Ebene kreativ zurückbindet und andererseits fortwährend differenziert und diversifiziert. Dabei entsteht jeweils etwas ganz Neues, noch nie Dagewesenes.

Wenn also die tatsächliche Entwicklung der Welt nicht in einem kausalen, linearen Zeitstrahl verläuft, sondern gerundet als Spirale, dann müsste diese Welt, dann müsste das Leben ganz anders gesehen werden. Nicht um ein Zurück in vorindustrielle Zeiten geht es, aber vielleicht um etwas mehr Menschlichkeit, wie sie sich bei der Bewältigung der Corona-Pandemie, bei der Hochwasserkatastrophe und auch jetzt beim Ukrainekrieg so vielfältig gezeigt hat und zeigt. Die unterschiedlichen Bereiche, sei es im menschlichen Zusammenleben und auch in der Natur, müssten in ihrer Beziehung zueinander gesehen werden.

Ziel sollte nicht eine Utopie sein und auch nicht ein neuer Mensch, denn das wären schon wieder Festschreibungen, die auch bislang eher ins Unheil geführt haben. Es scheint allerdings nötig, das Leben mehr als einen lebendigen Prozess zu sehen, wie ihn schließlich die Natur im Werden und Vergehen und wieder Neuwerden vorgibt. Die Natur lässt sich nicht beherrschen, im Gegenteil, der Mensch ist in vielfältiger Weise von ihr abhängig. Zudem ist das Ende der Weltgeschichte weitgehend offen, auch aus Sicht der Quantentheorie. Die Zukunft formt sich in vielem von dem, was heute entschieden wird, und es gibt genug, was heute entschieden werden müsste. 

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