Lasst es fließen!

Warum ein Brunnen vor der Kirche ein Stück Theologie ist
Foto: Harald Oppitz

Sauberes Wasser für alle – für mich eine der besten Verordnungen des EU-Parlaments. Überall in den Städten soll frisches Wasser frei zugänglich sein. Soweit die Theorie einer Verordnung, die immerhin seit Ende 2020 in Kraft ist. In der Praxis ist sie jedenfalls in Deutschland noch nicht wirklich angekommen. In meiner Heimatstadt Mainz, die dank Biontec inzwischen finanziell sauber dasteht, ist klares Wasser aus öffentlichen Zapfstellen nicht verfügbar. Begründung: Technische Probleme. Die einzige (!) Säule ist kaputt. Statt auf Zapfsäulen wird auf eine „clevere Idee“ verwiesen, nach der Trinkflaschen in Geschäften aufgefüllt werden dürfen. Toll! Vor allem, wenn einen der Durst nach Geschäftsschluss ereilt oder in den frühen Morgenstunden. In jeder italienischen Kleinstadt bekommen die Italiener diese „technischen Herausforderungen“ in den Griff, in der Schweiz sprudelt Trinkwasser sogar aus den öffentlichen Brunnen, in Wien stehen Säulen an jeder zweiten Ecke, kombiniert mit Nebelduschen, Paris ist stolz auf sein klares Wasser, das man an größeren Plätzen abfüllen kann. Aber das Technik-Wunder-Land Deutschland kriegt es nicht gebacken. Oder gesprudelt. Von der sinnvollen Vision von Schwammstädten, die dem Klimawandel trotzen können, sind wir offenbar noch meilenweit entfernt.

Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Denn die Verordnung sorgt sich um Menschen, die überall in den EU-Ländern ausgegrenzt sind und keine Lobby haben. Über eine Million Menschen haben in Europa kein frisches Wasser, acht Millionen keine sanitären Anlagen. Die Dürre und der Klimawandel dürften die Situation verschärfen.

"Lebenswasser" vor der Kirche

Wir Menschen leben vom Wasser. Wir brauchen öffentlich fließende Wasserstellen sogar für unser psychisches Wohlbefinden. Brunnen waren nämlich einmal die gesellschaftlichen Zentren des öffentlichen Lebens. Hier wartete Isaaks Knecht darauf, dass Rebekka seine Kamele tränkte, hier traf Jesus eine samaritanische Frau, hier wurden in Deutschland Lindenbäume gepflanzt und mit den Brunnen besungen. Diese Bedeutung hat sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Als das (vor dem Biontec-Wunder) völlig verschuldete Mainz einmal seine Brunnen abschaltete, um Wasserkosten einzusparen, gab es einen kollektiven Aufschrei der Empörung. Sponsoren finanzierten dann das Weitersprudeln.

Wäre es nicht eine faszinierende Idee, wenn jede Kirchengemeinde auf dem Platz vor der Kirche oder dem Gemeindehaus einen öffentlich zugänglichen Wasserspender aufstellen würde, meinetwegen mit der schönen Überschrift „Lebenswasser“, gerne mit einem Lindenbaum und umsäumt von Bänken, auf denen sich Menschen niederlassen und miteinander ins Gespräch kommen können? Die Gemeinden könnten auch gut und gerne mit den Stadtwerken ins Gespräch über vergünstigte Wasserpreise kommen, schließlich leisten sie einen Beitrag zur Umsetzung der EU-Verordnung. In jedem Fall wären solche Trinkbrunnen ein kreativ gelebtes Stück öffentlicher Theologie und ein wichtiger Beitrag für eine menschenwürdige Stadtgestaltung.

Frisches Wasser für alle, die durstig sind, gleichgültig ob Christ, Muslim oder Atheist! Für mich hätte das etwas Himmlisches. 

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Foto: Harald Oppitz

Angela Rinn

Angela Rinn ist Pfarrerin und seit 2019 Professorin für Seelsorge am Theologischen Seminar der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Herborn. Sie gehört der Synode der EKD an.


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