Innovativ

Eine Religionspsychologie

Während kulturelle Phänomene wie Arbeit, Sport, Musik oder Werbung psychologisch recht gut erforscht sind, fristet die Religionspsychologie im säkularisierten Europa ein Schattendasein. Das ist erstaunlich, denn durch psychologische Studien würde man sowohl dysfunktionalen Glauben (zum Beispiel Fremdenhass, religiösen Missbrauch, Verschwörungstheorien) als auch hilfreiche Formen wie spirituelle Krisenbewältigung oder religiöse Angst- und Trauerbewältigung besser verstehen und gezielter nutzen können. Zwar liegen einige theologische Entwürfe vor, etwa in der Kohlhammer-Reihe „Kompendien Praktische Theologie“ von dem Hamburger Pastor Marks. Der Psychologe Allolio-Näcke hat einen anderen Weg gewählt und geht streng sozialwissenschaftlich vor. Fachlich war die Religionspsychologie bisher der Theologie oder der Religionswissenschaft zugeordnet. Im ersten Teil seines Buches skizziert der Autor den historischen Werdegang einer oft vereinnahmten Disziplin. Deutlich grenzt er sich von den missionarischen Absichten früherer Religionspsychologen ab – viele von ihnen waren protestantische Pfarrer. Wenn man mit dem Autor religiösen Glauben als eine seelische Fähigkeit und ein universales Phänomen, eine „anthropologische Konstante“ quer durch alle Kulturen ansieht, liegt die psychologische Perspektive auf der Hand. Dabei konzentriert Allolio-Näcke seine Religionspsychologie auf die Wachstums- und Entwicklungsdynamik des Menschen.

Als Kernstück des Buches werden die geläufigen Modelle religiöser Entwicklung von Oser/Gmünder, Fowler, Sundén und Vergote analysiert und gewürdigt. Aus kulturpsychologischer Sicht wird vor allem ein unreflektierter Ethnozentrismus der Modelle und der damit verbundenen Grundannahme des Universalismus kritisiert, welche der Autor in Schleiermachers Idee des homo religiosus verwurzelt sieht. Dieses Apriori wird von Allolio-Näcke aus kulturpsychologischer Perspektive als falsch betrachtet, weil damit nicht nur die Sozialisation mit ihren kulturellen Praktiken und sprachlichen Besonderheiten vernachlässigt würde. Gleichzeitig bestehe die Gefahr, nicht-religiös sozialisierte Heranwachsende als defizitär anzusehen.

Als Alternative stellt der Autor eine Kulturpsychologie religiöser Entwicklung vor, die ein besseres Verständnis der Religiosität vor dem Hintergrund der jeweils individuellen kulturellen Geschichte ermögliche. Ausgangspunkt ist die Her­ausbildung des Urvertrauens im Säuglingsalter, welches das Fundament allen Sozialen und somit auch des Religiösen sei. Dieses Urvertrauen müsse sich auf Gott hin abstrahieren und erfahrungsrelevant werden. Eine solche religiöse Sinnstruktur ist für den Autor folglich nicht vor der Adoleszenz möglich. Einen hohen Stellenwert nimmt die religiöse Sozialisation ein, die jedoch nachgeholt werden kann, Stichwort Konversion. Da jede Kultur andere religiöse Symbole ausbilde und sich das Individuum diese mittels kulturspezifischer Handlungen und Sprache aneigne, müsse jeglicher Anspruch auf eine kulturelle Universalität religiöser Entwicklung fallengelassen werden.

Das Buch ist erfreulich verständlich geschrieben und kommt fast ohne Fachbegriffe aus. Der hier entfaltete kulturpsychologische Blick auf die Religiosität des Menschen bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte, Glauben und Hoffen in seiner kulturellen Vielfalt zu schätzen und ihre unterschiedlichen Ausprägungsformen miteinander ins Gespräch zu bringen. In einer durch Feindbilder bedrohten Gesellschaft liefert eine kultursensible Religionspsychologie wertvolle Verständigungshilfen, das Gemeinwohl zu stärken und zu fördern.

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