„Du fehlst“

Ein theologischer (Rück-)Blick auf Herbert Grönemeyers Album „Mensch“
Herbert Grönemeyer
Foto: dpa

Vor 20 Jahren erschien Herbert Grönemeyers Album „Mensch“, auf dem der Künstler auch den Tod seiner Frau und den seines Bruders verarbeitet hat. Die Ballade „Der Weg“ gehört  noch immer zu den meistgespielten Stücken auch auf christlichen Trauerfeiern. Denn Grönemeyer zeigt, wie heutige Menschen religiös ansprechbar sind.

Ob er durch diese einschneidende Erfahrung „spiritueller geworden“ sei, wurde Herbert Grönemeyer im Rahmen eines Interviews gefragt, kurz nachdem seine Frau und sein Bruder innerhalb weniger Tage von ihm gegangen waren. „Ja“, antwortete er dem ebenfalls viel zu früh verstorbenen Roger Willemsen damals, Anfang 1999. Er wisse „aber nicht genau, was das heißt“. „Du entdeckst plötzlich“, erwiderte Willemsen, „dass es sich lohnen kann, mit Pfarrern zu reden.“ Diese Gespräche seien tatsächlich „beeindruckend“ für ihn gewesen, entgegnete Grönemeyer, der in einem protestantisch geprägten Elternhaus aufgewachsen war. Sie hätten ihm zu allererst klar werden lassen, „dass die Verschiedenheit der Menschen sich darin zeigt, wie jemand sein Leben in Beziehung zum Tod sieht.“

Vor genau 20 Jahren, im August 2002, erschien Herbert Grönemeyers Erfolgsalbum „Mensch“. Die darauf versammelten Lieder zeigen sich stark bestimmt durch die erwähnte Verlusterfahrung und durch den Versuch, sie, wie man so sagt, zu verarbeiten. Insbesondere der Tod von Grönemeyers langjähriger Lebensgefährtin und Ehefrau Anna im November 1998 scheint an vielen Stellen direkt thematisiert zu werden. Das Album dreht sich also durchaus darum, wie jemand, ausgelöst durch den Verlust einer geliebten Person, „sein Leben in Beziehung zum Tod sieht“ und es von daher neu anzugehen versucht. Allerdings hätte sich „Mensch“ wohl nie zu einem der meistverkauften Tonträger im deutschsprachigen Raum entwickelt, wenn Grönemeyers Sicht des Lebens nicht auch Belangvolles für das Leben anderer enthalten würde.

Die besondere Stärke der auf dem Album enthaltenen Liedtexte, so schreibt der Schriftsteller Michael Lentz äußerst treffend, liegt darin, dass sie „analog zu einem Gedicht […] mit literarischen Mitteln Autobiographisches […] in ein Allgemeines“ umsetzen. Grönemeyer hat also seine persönliche Geschichte von Verlust und Neuanfang derart poetisiert, dass die dabei entstandenen Songs auf ganz verschiedene Erfahrungskonstellationen passen, ohne deshalb ihren authentischen Klang zu verlieren. Sie vermitteln eine aus eigenem Erleben geschöpfte Lebensdeutung, die offensichtlich viele auf sich beziehen konnten und können. Der Mensch Grönemeyer – „er wärmt, wenn er erzählt“.

Ist Grönemeyers Deutung des Lebens im Angesicht des Todes auch durch seine Gespräche mit Pfarrern inspiriert worden? Das lässt sich kaum beantworten. Wer es zu hören vermag, kann „Mensch“ allerdings so manche religiöse oder wenigstens religionsaffine Note ablauschen. Sich darauf zwanzig Jahre nach Erscheinen des Albums zu besinnen, kann für gegenwärtige kirchlich-theologische Kommunikationsbemühungen nur gewinnbringend sein. Von Grönemeyer lässt sich ein Stück weit lernen, auf welche Weise heutige Menschen religiös ansprechbar sind. Einige ausgewählte Beispiele mögen dies illustrieren.

„Der Mensch heißt Mensch“, so ist im Titelsong des Albums zu hören, „weil er erinnert, weil er kämpft/Und weil er hofft und liebt/Weil er mitfühlt und vergibt/Und weil er lacht/Und weil er lebt/Du fehlst“. Auch das Verdrängen und Vergessen, das Schwärmen und Glauben, das Sich-Anlehnen und Vertrauen sowie das Irrenkönnen werden im weiteren Text als zutiefst menschliche Eigenheiten besungen. Am Ende aber heißt es immer wieder: „Du fehlst“. Diese Verlustanzeige durchkreuzt offensichtlich die Reihe jener allgemein gehaltenen Zuschreibungen. In ihr spricht sich etwas aus, das nicht verallgemeinerbar ist, sondern nur durch ein individuelles Ich ausgesagt werden kann.

„Dass alle Menschen sterblich sind, habe ich gewusst“, schreibt der Schriftsteller Franz Fühmann, „aber eben das ist ja nicht meine Erfahrung gewesen: Nicht ‚alle‘, sondern dieser eine bestimmte Mensch ist gestorben, und […] in mein Leben [ist] eine knirschende, grinsende Sinnlosigkeit“ getreten. Anders gesagt: Dass der Verlust geliebter Personen eben auch zum Menschsein dazugehört, ist eine unbezweifelbare Tatsache. Wer aber einen solchen Verlust erleidet, dem hilft dieses allgemeine Faktum nicht weiter – leidet er doch darunter, dass eine für ihn unersetzbare Person nicht mehr da ist und das Leben damit sinnlos zu werden droht. Grönemeyers „Du fehlst“ wahrt die Individualität des Leidens, indem es die unvergleichliche Einmaligkeit dessen festhält, der da fehlt. Der Verlust wird nicht wegharmonisiert oder in einen höheren Sinnzusammenhang aufgehoben, sondern als so einzigartig, wie er ist, zum Ausdruck gebracht. Davon kann eine Theologie lernen, die mitunter allzu rasch alles Negative in Gottes Güte überwunden sehen will.

„Das Nichts steckt in jedem Detail“, singt Grönemeyer solchen Deutungsversuchen fern im Song „Unbewohnt“. Man findet darin sprechende Bilder und Klänge für die verdunkelte Selbst- und Weltsicht eines leidenden Menschen. Ebenso „leer“ und „kalt“ erscheint diesem das Haus, in dem er einem alleingelassenen Hund gleich herum „streunt“, wie in ihm „alle Zimmer frei“ sind. „Keine Seele in vier Wänden“, die die innere und äußere Welt mit Leben füllen könnte. Sein Verhältnis zu sich selbst gleicht einem zu Gebrauchsgegenständen: „Bin mein Radio, schalt’ mich aus“. Er bewegt sich „im aussichtslosen Raum“, was einerseits auf die reale Dunkelheit, andererseits auf die Verdunkelung aller Zukunftsperspektiven hinweist. „Hundert Jahre Einsamkeit“ erwarten ihn.

Alle Versuche, die eigene Situation wenigstens „verstehen“ zu können, schlagen fehl, denn „der Grundriss ist weg“. Die tragenden Sinnzusammenhänge sind jäh zerbrochen. Sie gleichen „zwangsgeräumte[n] Gründe[n]/gekündigt vor der Zeit“. Im klagenden, von elegischen Streichern begleiteten Refrain kommt alles noch einmal zusammen: „Oh, es tropft ins Herz/mein Kopf unmöbliert und hohl/oh, keine Blumen im Fenster/der Fernseher ohne Bild und Ton/ich fühl‘ mich unbewohnt.“

Drastische Metaphorik

Grönemeyers drastische Metaphorik, die das Alleinsein, die Aussichtslosigkeit, den Sinnverlust anschaulich macht, wahrt und würdigt auf ihre Weise die unhintergehbare Individualität des Leidens. Der Tod eines anderen Menschen – auch weitere Anlässe sind hier freilich denkbar – kann mit seiner vernichtenden Kraft das ganze Leben der Hinterbliebenen eintrüben, was in diesem Song ohne Abstriche festgehalten und zugleich durch ihn artikulierbar gemacht wird. Die darin liegende Möglichkeit zum Ausdruck der je eigenen Gefühlslage ist aber nicht zu unterschätzen. Denn über den Sinn der Sprache (wie der Musik) lässt sich dem stumm-machenden Widersinn des Leidens schon etwas entgegensetzen, auch weil man dadurch potenziell (wieder) mit anderen verbunden ist.

Es liegt nahe, hier an die biblischen Klagepsalmen zu denken, die von jeher als heilsame Ausdrucksmittel für Erfahrungen von Trauer und Not fungierten. Zwar fehlt in Grönemeyers Text nicht nur der Gottesbezug, sondern vor allem jener für die alttestamentlichen Klagepsalmen charakteristische „Stimmungsumschwung“, in dem sich schließlich das Leiden wendet. Aber schon in der Bibel wird damit kein Automatismus beschworen, sondern das potenzielle Ende eines Prozesses vorgezeichnet. Mithin steht „Unbewohnt“ ja nicht für sich allein, sondern ist Teil eines Gesamtwerks. In dessen letztem Lied wird es dann freudig heißen: „Du holst mich aus dem grauen Tal der Tränen/lässt alle Wunder auf einmal geschehen/dass mir Hören und Sehen vergeht“. Dieses „Du“ steht für eine mögliche neue Liebe. Auf deren künftiges Kommen wird ohne letzte Gewissheit, aber mit jetzt schon überschwänglicher Vorfreude vorausgeblickt: „Ich lieb’ dich mehr als mich/Irgendwann find’ ich dich/Ich find’ dich oder nicht“. Das „Tal der Tränen“, dessen Realität man in „Unbewohnt“ ausgemalt finden kann, ist übrigens, genau wie das ebenfalls bei Grönemeyer begegnende „Jammertal“, ein genuin psalmensprachlicher Ausdruck. In der Bibel errettet Gott daraus – hier die Liebe. Ist die Liebe Grönemeyers Gott?

Nun ist das Problem mit der Liebe unter Menschen, dass sie enden kann. Nicht nur, aber auch durch den Tod einer geliebten Person. Bei Lichte betrachtet ist hier kein Beziehungsleben mehr möglich, das von allen Beteiligten gestaltet und geprägt werden könnte. Eine Seite bleibt allein zurück und hat die andere nur noch in der Erinnerung bei sich. Was aber heißt hier eigentlich ‚nur‘? „Erlösung“, so textet Grönemeyer, „liegt in Erinnerung“. Und der Ort, an dem die „Fernen der Erinnerung“ auf erlösende Weise wieder nahe zu kommen vermögen, ist mit dem Romantiker Novalis gesprochen: das Dunkel der Nacht und nicht das unbarmherzig aufklärende Licht des Tages. „Die Nacht schluckt jedes schwere Gewicht/erlässt den Tag aus der Pflicht/der Mond steht steil und tut wieder nichts/schließ’ die Augen und denk’ an dich“, singt Grönemeyer demgemäß mit gedämpfter Stimme in „Dort und hier“, dem kürzesten und leisesten Lied des Albums.

Wie bei Novalis, in dessen Hymnen an die Nacht selbige zum Ort der Wiederbegegnung mit der jung verstorbenen Verlobten wird – „in ihren Augen ruhte die Ewigkeit“ –, lässt auch Grönemeyers Text die nächtliche Ahnung einer Unvergänglichkeit des Lebens (und der Liebe) anklingen. Doch der Versuch, sich „einen Traum vorzuprogrammieren“, in dem die geliebte Person wieder zurückkäme, wird dabei als vergebliches Unterfangen markiert: „Ich sollte aufhören, mein Hirn zu strapazieren/du bist dort, und ich bin hier.“ Zwischen Dort und Hier klafft dem Text zufolge eine unüberwindliche Kluft. Dass das jenseitige Dort vom diesseitigen Hier aus unzugänglich ist, lässt es aber keineswegs zu einer bloßen Illusion werden. Grönemeyer bringt im Refrain des Songs eine tastende, fragende Jenseitshoffnung zum Tragen, die aus dem unaufhörlichen Interesse der Liebe am guten Ergehen des geliebten Anderen erwächst: „Ist jemand da, wenn dein Flügel bricht/der ihn für dich schient/der dich beschützt/der für dich wacht/dich auf Wolken trägt/für dich die Sterne zählt/wenn du schläfst.“ Andeutungsweise wird hier die verbreitete Vorstellung eines Lebens nach dem Tode als Engel („Flügel“) im Himmel („Sterne“, „Wolken“) aufgerufen.

Offen bleibt, ob jemand da ist, der nun die Aufgaben des Hiergebliebenen übernimmt, also Fürsorge, Schutz und liebevolle Zuwendung spendet. Dass so jemand da ist, darauf aber richtet sich die nächtliche Sehnsucht danach, der verlorenen Anderen weiter nahe sein zu können. Grönemeyer schenkt ihr ein Gedicht, an dem sie sich nähren kann. Es spricht von Gott, indem es von Gott schweigt.

Der Verweis auf Novalis deutete die romantische Dimension von Grönemeyers Dichtkunst bereits an. In der Ballade „Der Weg“, die wiederum im Modus der Erinnerung den Verlust eines Menschen besingt, kommt sie ebenfalls zum Vorschein. An einer Stelle wird dort die vergangene Erfahrung liebevollen Zusammenseins mit den folgenden Worten poetisch verdichtet: „Den Film getanzt/in einem silbernen Raum/vom goldenen Balkon/die Unendlichkeit bestaunt/heillos versunken/trunken/und alles war erlaubt/zusammen im Zeitraffer/Mitsommernachtstraum“. Der „goldene Balkon“ klingt nach einem Requisit aus dem Reich der Märchen und auch William Shakespeares A Midsummer Nights Dream ist von einigen Fantasiewesen bevölkert. Die Liebe, so lässt sich daraus schließen, hat etwas Illusionäres an sich. Sie gleicht einem „Film“. Wer sich ihr hingibt, sich in sie „versenkt“, leistet sich mehr, als dem gesunden Menschenverstand zufolge „erlaubt“ ist. Der verfällt dem Gefühlseindruck, etwas von der „Unendlichkeit“ schmecken zu können, obwohl doch eigentlich alles ein Ende haben muss. „Wir haben die Wahrheit/so gut es ging verlogen“, wird ihm dementsprechend im Rückblick bewusst. Doch hält Grönemeyers Text zugleich daran fest, dass die Liebe den erfahrenen Ewigkeitsbezug aufweist: „Es war ein Stück vom Himmel/dass es dich gibt.“ Wer sich auf sie einlässt, folgt dem durch sie geweckten „Sinn und Geschmack fürs Unendliche“, um mit dem Romantiker Friedrich Schleiermacher zu reden, für den beides „unzertrennlich verknüpft“ war, „Sehnsucht nach Liebe“ und „Religion“.

Zauber der Unendlichkeit

Die entzaubernde Realität des Lebens, das in seinem erbarmungslosen Endenmüssen „nicht fair“ ist, wie es der Refrain wiederkehrend unterstreicht, kann diesen Zauber der Unendlichkeit nicht gänzlich zerstören. „Habe dich sicher/in meiner Seele“, endet das Lied: „Ich trag’ dich bei mir/bis der Vorhang fällt.“ Die Seele steht für die unbedingte Dimension menschlichen Selbstseins, für seine unverlierbare Teilhabe am Göttlichen. Im Inneren der Seele, so sagt es der Text, kann das einst zuteilgewordene „Stück vom Himmel“ gegen allen Augenschein präsent gehalten werden. Dort bleibt etwas von der Entschwundenen, die in ihrer Einmaligkeit noch „jeden Raum mit Sonne geflutet“ und sich so für immer ins Selbst des Zurückgelassenen eingeschrieben hat. Er trägt sie als einen unvergänglichen Teil seiner selbst weiter bei sich, woraus er nicht zuletzt den nötigen Mut zum Weiterleben zu schöpfen vermag: „Ich geh’ hier nicht weg“ – „weil immer was geht.“

Wenn dann „der Vorhang fällt“, wird auch dieser Weg zu Ende sein. Ob er auf der Hinterbühne des Lebens neue Fortsetzung findet oder nicht, lässt Grönemeyer offen. Sein Text aber enthält die heilsame Perspektive, dass es für uns im diesseitigen Leben etwas Unvergängliches, Unendliches, ja Göttliches gibt, an dem wir insbesondere in der Liebe teilhaben können. „Und der Mensch heißt Mensch“: „weil er schwärmt und glaubt/sich anlehnt und vertraut/weil er lacht/und weil er lebt/Du fehlst.“

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Karl Tetzlaff

Karl Tetzlaff ist promovierter Systematischer Theologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.


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