Ruf der Bedürftigen

Diakonie fordert 100 Euro monatliche Unterstützung

Dass die Belastungen durch die Aus­wirkungen der Inflation, die Turbulenzen auf dem Energiemarkt und durch die Corona-Pandemie in der Bevölkerung ungleich verteilt sind, erschließt sich schnell. Die Schlangen an den lebensmittelspendenden Tafeln sagen alles. Sie werden von Tag zu Tag länger, manche nehmen gar niemanden mehr an wie die Arche in Berlin-Hellersdorf, die ihr Angebot für geflüchtete Mütter mit ihren Kindern einstellen musste. Denn auch die Lieferung mit Lebensmitteln nimmt ab.

Eine von der Diakonie Deutschland in Auftrag gegebene Studie bestätigt nun: Die einkommensschwächeren Haushalte müssen den Großteil ihres Konsums für Waren und Dienstleistungen des Grundbedarfs aufwenden. Genauer: Die ärmsten 20 Prozent der Bevölkerung verbrauchen nahezu zwei Drittel (62,1 Prozent) ihrer Konsumausgaben für Essen, Trinken, Wohnen, Wasser, Strom und Heizung. Damit leiden sie besonders unter der Inflation. Die obersten zehn Prozent zahlen nur
44 Prozent für dieselben Ausgaben.

Hinzu kommt: Wer so viel für Essen, Trinken und Energie ausgeben muss, kann wenig sparen und verfügt kaum über Rücklagen. Gut acht bis neun Millionen Menschen seien davon betroffen, sagte Diakoniechef Ulrich Lilie bei der Vorstellung der Studie, die von einer Tochterfirma des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) erstellt worden ist.

Um die Folgen der Krise sozial abzufedern, legt die Diakonie Deutschland nun einen Vorschlag vor: Haushalte, die Transferleistungen beziehen, wie Wohngeld,  Kinderzuschlag, Hartz-IV-Leistungen, Grundsicherung im Alter oder durch Erwerbsunfähigkeit, sollen ab sofort einen Zuschlag von 100 Euro im Monat erhalten. Und das für ein halbes Jahr. Dazu müsste allerdings der Bundestag eine Notlage von nationaler Tragweite feststellen. Die Gesamtkosten würden sich auf 5,4 Milliarden belaufen, hieß es in Berlin.

Ein Kriseninstrument, das schnell und zielgenau eingesetzt werden kann, wie Lilie unterstrich. Und die Studie belegt, dass dieser Zuschlag die einkommensschwächsten Haushalte deutlich entlasten und die Preissteigerungen teilweise nahezu ausgleichen könne.

So weit, so gut. Doch was ist mit denen, die knapp über dieser Grenze leben, mit Rentnerinnen, die aus Scham keine Grundsicherung beantragen, mit Studierenden, die immer stärker vom Einkommen ihrer Eltern abhängig werden, mit Alleinerziehenden, fast die Hälfte aller Ein-Eltern-Familien gilt als einkommensarm, mit Menschen, die wenig verdienen? Zur Erinnerung: Jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland arbeitet im Niedriglohn­sektor, so viele wie in kaum einem
anderen europäischen Land.

Sicher, wir werden alle an Wohlstand verlieren. Trotzdem müssen Politik, Wirtschaft und andere gesellschaftliche Gruppen in Deutschland alles unternehmen, um der weiter wachsenden Ungleichheit entgegenzusteuern. Es geht jetzt darum, diesen Verlust sozial und ökonomisch auf alle Schultern gerecht zu verteilen. Und dafür ist der Diakonie-Vorschlag ein guter Anfang.

Denn um den sozialen Frieden in Deutschland dauerhaft zu sichern, müssen wir investieren. In den Ausgleich der sozialen Härten am unteren Ende der  Einkommenspyramide. Eine weitere gesellschaftliche Polarisierung können wir uns nicht mehr leisten. In den Fokus müssen jetzt die Bedürftigen rücken, bevor sich Frust und Enttäuschung in radikalem Wählervotum äußern. 

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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