Nicht ohne das Evangelium

Warum ein alter friedensethischer Text uns noch immer herausfordert
Foto: privat

Zu Zeiten ist es recht praktisch, wenn man in jungen Jahren von Älteren mit der Publizistik ihrer Zeit versorgt wurde. Zwar schleppt man die alten Schinken bei jedem weiteren Umzug unwilliger mit, weil man ja doch nie reinschaut, aber im Bedarfsfall steht dann im Regal doch etwas herum, das praktischen Nutzen verspricht.

So habe ich in diesen Tagen des Ukraine-Krieges Walther Bienerts „Besinnung zum Frieden“ von 1983 aus dem Regal gezogen. Das Büchlein hat nur 46 großzügig bedruckte Seiten. Heute wäre es als Essay wohl online erschienen. Darin entfaltet Bienert 12 Thesen, die auch tatsächlich Thesen sind (nicht wie in heutigen Vorträgen und Traktaten gerne nur vorgetäuscht).Walther Bienert hat, nun ja, eine schillernde Biographie, wie es bei vielen deutschen Zeitgenossen des 20. Jahrhunderts so ist. Dem BRD-Protestantismus ist er als Gründer der Melanchthon-Akademie in Köln vielleicht noch erinnerlich. Oder auch nicht. Ausweislich der „Besinnung zum Friedenstiften“ hat er etwas gegen Kommunisten und ist auch auf die deutsche Friedensbewegung nicht so gut zu sprechen. Das macht ihn in diesen Tagen, da der deutsche Protestantismus über die richtige Friedensethik im Angesicht des russischen Angriffskrieges in der Ukraine streitet, zu einem interessanten Autoren.
 

Nicht mit Besserwissen ausgestattet
 

Seine Ausgangsfrage ist: „Was können Christen und Kirchen Besonderes für den Frieden tun?“ Seine Antwort dürfte gleichwohl weder den Friedensbewegten von damals und heute noch denjenigen passen, die sich in emphatischer Ablehnung derselben für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine einsetzen.

Bereits in der Einleitung schreibt er:

„Gutgemeinte und hintersinnige Friedensappelle, gutbegründete und nichtorientierte Forderungen überfluten die Menschen. Selbstgerechtigkeit und Geltungssucht, oft sogar Auftragsaktionen der Machtpolitik schimmern unverkennbar durch viele Appelle hindurch. Dabei gehen viele Tendenzen in einem disharmonischen Chor durcheinander. […] Deshalb sollte jedermann im Interesse des Friedens sehr vorsichtig sein, ehe er sich hinter Appelle, Proteste, Forderungen, Kundgebungen, Transparente, Plakate, Schlagwörter u.ä. einreiht.“

Funny enough bescheinigt er den beiden großen Kirchen seiner Zeit, „aus der Fülle der Verlautbarungen wohltuend“ herauszuragen. Das sei auch angeraten, denn sie hätten „ihre Grenze nicht nur an der Einfluss- und Machtgrenze der Kirche, sondern an der kirchlichen Inkompetenz in Fragen des Wie bei der Erhaltung des Friedens. Die Kirchen sind in Sachen politischer Entscheidungen, taktischer Maßnahmen und technischer Möglichkeiten von ihrem Herrn nicht mit Besserwissen ausgestattet“.

Da das Büchlein sicher antiquarisch zu erwerben ist und in so mancher (Haus-)Bibliothek aufzufinden sein wird, erspare ich mir hier eine vollständige Wiedergabe seiner Gedankengänge und beschränke mich allein auf das, was sowohl den „Tauben“ als auch den „Falken“ in der gegenwärtigen Friedensethik-Diskussion am wenigsten gefallen dürfte.

Zwei Welten

„Der Christ hat als Bürger einer Demokratie die Pflicht, das Beste für die Mitmenschen zu suchen und zu bewirken, wozu sowohl die Verhinderung von Kriegen als auch die Abwehr von Angriffen gehört“, lautet Bienerts erste These, mit der er einem „absoluten Pazifismus“ widerspricht. Als Bürger zweier Welten aber stehe der Christ (die Christin) im „Spannungsfeld zwischen Bürgersein und Christsein“, das sich „in seiner Pflicht zur Verteidigung der Mitbürger und in seinem göttlichen Auftrag zum Friedensstiften“ konkretisiere.

Weil man als Christ:in zwei „Welten“ angehöre, gerate man „immer wieder in Gewissenskonflikte und Entscheidungszwänge“. „Unchristliche Selbstgerechtigkeit wäre es, nur eine einzige der Entscheidungsmöglichkeiten zum status confessionis zu erheben. […] Auch der beste Wille kann hier das falsche Mittel wählen und falsche Wege gehen“.

Zu den – allesamt legitimen - Mitteln und Wegen zählt Bienert: Die Abwehr des Bösen mit Verteidigungswaffen, einen Kompromissfrieden und „in wieder einem anderen Falle ein Unterwerfungsfriede“. Letzterer dann, wenn die Kräfteverhältnisse auf dem Schlachtfeld keinen anderen Ausweg zulassen.

Der einzige Auftrag der Kirche: Das Evangelium verkünden in Wort und Tat

Neuer Mensch

Für Bienert, und da wird es nun für uns alle sehr ungemütlich, ist das Friedensstiften ein „Überströmen des von Gott geschenkten Friedens auf Mitmenschen“. Nur der „neue Mensch“, der an den Friedensschluss Gottes mit den Menschen durch Jesus Christus glaubt, könne Frieden stiften. Der Anti-Kommunist Bienert ist sich sicher: Nicht veränderte Umstände schaffen den friedenswilligen Menschen, nur der friedenswillige Mensch, der von seiner kriegerischen Natur durch das Evangelium freigemacht wurde, ist in der Lage – wenigstens vorläufig – bessere Umstände zu schaffen.

Die Kirchen verfehlten ihren einzigen (!) Auftrag, ist er sich sicher, wenn sie vergessen zu verkünden, dass „das frohmachende und stärkende Evangelium den Inhalt hat: Ändert eure Gesinnung!“ Spannender Weise übersetzt er so die auch vom kommenden Kirchentag („Jetzt ist die Zeit“) in Anspruch genommene Kurzformel der Botschaft Jesus bei Markus 1,15. Ich bin mir nicht sicher, ob sich die Protestanten heutzutage eine solche Pointierung zutrauen. Bienert jedenfalls meint: „Ohne die Verkündigung des Evangeliums nur das Wort von den Friedensstiftern zu propagieren, ist Verfälschung des Evangeliums zum Gesetz, damit unevangelisch und unlutherisch“.

Man mag den Bienertschen Duktus ein wenig streng und aus der Zeit gefallen finden, aber dass nicht wir Menschen aus uns heraus Frieden schaffen können und das daher auch die zahlreichen Appelle unserer Zeit, die von der Kirche emphatisch als Friedensstifterin reden, unter einen Vorbehalt gehören, nämlich einen eschatologischen, kommt mir jedenfalls derzeit zu kurz.

Prophetisches Tun statt diplomatischer Rede

Nun leitet Bienert aber daraus gerade nicht ab, die Kirche solle sich auf Friedensgebete beschränken oder eben der welten-bürgerlichen Verantwortung zum Schutz einseitig das Vorrecht vor der himmels-bürgerlichen Friedenspflicht inklusive Feindesliebe geben, sondern landet bei einem erstaunlichen Radikalismus, der wohl den der Friedensbewegung sogar noch übersteigt.

Denn als die beiden einzigen Beispiele dafür „was Christen und Kirchen Besonderes (!) für den Frieden tun können“, nennt er erstens das prophetische Wort Nathans an König David, der „es wagte, diesem Ehebrecher und Mörder in Direktansprache zu sagen: »Du bist der Mann!«“. Das prophetische Wort könne die Kirche ebenso wie Nathan ohne Rücksicht auf diplomatische Gepflogenheiten ausrichten, auch wenn Bienert die Möglichkeit zur Kenntnis nimmt, dass damit eventuell Christ:innen in Bedrängnis geraten könnten, die unter dem kritisierten Regime zu leben haben.

Und zweitens das „Dazwischentreten zwischen die Sich-Streitenden“, indem sich „die Kirche direkt durch ihre Repräsentanten in die Höhlen der Löwen“ wagt, was „gewiss nicht durch besserwisserisches Verurteilen oder Schuldzumessen erfolgen“ kann, denn „die Kirche hat hier kein richterliches Amt“. Die Kirche solle beiden Krieg führenden Parteien das „Wohl der betroffenen Menschen“ vorhalten, solange „bis sie beide die Hände nicht gegeneinander erheben, sondern ineinander legen, das wäre ein Stiften von Frieden durch Versöhnung“.

Wer von „Tauben“ und „Falken“ ist bereit, diesen Weg der Selbstverleugnung zu gehen?

In vielen Fällen, gesteht Bienert ein, mag das scheitern: „Das ist in dieser unvollkommenen Welt sogar zu erwarten.“ Umso wichtiger sei es, „dass der Versuch zur Versöhnung immer wieder gemacht wird als ein Leuchtfeuer der Kirche in dunkler Welt“. Solches „persönliches Direktansprechen“ [nicht mit Briefen, auch keinen Offenen] und „versöhnendes Dazwischentreten“ sind - und wer wollte Bienert da widersprechen? – „eben etwas anderes als ein diplomatischer Empfang mit höflichen, allgemein gehaltenen und unverbindlichen Friedensbeteuerungen, bei denen man sich nicht die Wahrheit sagt“.

Und weiter: „Zumindest darf man 1983 feststellen: Der kirchlichen Verlautbarungen sind genug erfolgt; wenn die Kirche auch politisch wirksam werden will, kommt es auf mutiges Tun a

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