Liberale Theologie at its best

Zur Erinnerung an Ulrich Neuenschwander, der vor einhundert Jahren geboren wurde
Portrait Neuenschwander
Foto: Privat
Ulrich Neuenschwander (1922-1977)

Der Schweizer Liberale Theologe Ulrich Neuenschwander, der 1977 erst 54-jährig verstarb, wurde am heutigen 4. Juli vor genau einhundert Jahren geboren. Aus diesem Anlass erinnert der Theologe Wolfgang Pfüller, der dem Vorstand des Bundes für Freies Christentum angehört, an Neuenschwander und sein Werk, das nichts von seiner Aktualität verloren hat.

Von 1941 bis 1946 studierte Ulrich Neuenschwander, der im Kanton Bern geboren wurde, in Bern und Zürich evangelische Theologie. Dabei wurde es für seine weitere Entwicklung besonders wichtig, dass er in Bern Schüler des reformierten Theologen Martin Werner (1887-1964) wurde, dessen Denken wiederum maßgeblich von Albert Schweitzer (1875-1965) geprägt war. Unter dem Einfluss dieser prägenden Gestalten entwickelte sich Neuenschwanders liberale Theologie in der Nähe zu, aber auch in kritischer Auseinandersetzung mit Fritz Buri (1907-1995), einem weiteren profilierten Schüler Werners.

In seiner bei Werner verfassten Dissertation Protestantische Dogmatik der Gegenwart und das Problem der biblischen Mythologie, mit der er 1948 zum Dr. theol. promoviert wurde, plädiert Neuenschwander für die konsequente Fortsetzung der vor allem von Rudolf Bultmann (1884-1976) propagierten „Entmythologisierung“ des Neuen Testaments, und zwar besonders auf dem Gebiet der Christologie. Das besagt dann im Anschluss an Schweitzers „konsequente Eschatologie“, dass die Entmythologisierung in eine klare Absage an das „mythologische eschatologische Dogma“ münden muss. In dieser Hinsicht ist auch und nicht zuletzt die historische Gestalt Jesu kritisch zu betrachten.

Von 1949 bis 1965 war Neuenschwander im Kanton Bern als Pfarrer tätig. Gleichwohl verfasste und veröffentliche er in dieser Zeit zwei seiner wichtigsten systematisch-theologischen Schriften: Die neue liberale Theologie. Eine Standortbestimmung (Bern 1953) sowie Glaube. Eine Besinnung über Wesen und Begriff des Glaubens (Bern 1957). Bereits 1962 wurde Neuenschwander zum außerordentlichen Professor an die Evangelisch-Theologische Fakultät in Bern berufen; 1967 übernahm er den Lehrstuhl seines verstorbenen Lehrers Martin Werner (1887–1964). Bemerkenswert sind die Lehrfächer, die er dort vertrat, nämlich Systematische Theologie, Religionsgeschichte, Geschichte der Philosophie und Geschichte der neueren protestantischen Theologie. Den beiden letztgenannten Fächern verdanken sich wohl Neuenschwanders bekannteste und zugleich populärste Werke, zumal sie als (Gütersloher) Taschenbücher erschienen sind: Denker des Glaubens (2 Bände, 1974) sowie Gott im neuzeitlichen Denken (2 Bände, 1977).

Gravierender Verlust

Große Verdienste hat sich Neuenschwander nicht zuletzt mit der von ihm initiierten und zum Teil realisierten Herausgabe der Werke aus dem Nachlass von Albert Schweitzer erworben. Dass er kurz vor dem Antritt des Rektorenamtes der Universität Bern im Alter von nicht einmal 55 Jahren am 26. Juni 1977 plötzlich infolge eines akuten Herzleidens verstarb, bedeutete nicht nur für seine Frau und seine Tochter, sondern auch für die Universität Bern und für die liberale Theologie einen ebenso schmerzlichen wie gravierenden Verlust.

Neuenschwander entwickelt sein Programm einer „neuen liberalen Theologie“ in Anknüpfung und Widerspruch zur „alten“ liberalen Theologie des 19. sowie beginnenden 20. Jahrhunderts. Dabei weiß er natürlich, dass die „alte“ liberale Theologie keine homogene Größe war, sieht sie aber durch eine gemeinsame Grundhaltung gekennzeichnet, an die er nahtlos anknüpfen zu können meint. Ich kann hier nur drei ausgewählte Punkte kurz erläutern. Dabei handelt es sich erstens um die Bejahung des wissenschaftlichen Denkens allgemein sowie besonders der historisch-kritischen Erforschung der Bibel, zweitens um die Kritik am altkirchlichen Dogma und drittens um die Autonomie des Erkennens.

Die Bejahung des wissenschaftlichen Denkens drückt sich für Neuenschwander zunächst darin aus, dass Glaubensaussagen bewährten wissenschaftlichen Ergebnissen beziehungsweise Erkenntnissen nicht widersprechen dürfen. Freilich geht es dabei selbstredend nicht um voraussetzungslose, sondern um vorurteilslose Wissenschaft, die ihre Voraussetzungen und Ergebnisse ständig kritisch überprüft. Diese Art kritischen Denkens steht im Gegensatz zur „dogmatischen Methode“, „die von festen Lehrsätzen ausgeht“. Theologisches Denken muss demgegenüber kritisches Denken sein, das wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht ausweicht. Neuenschwander markiert das an folgendem einschneidendem Beispiel: „Sogar wenn die Geschichtsforschung feststellen sollte, dass Jesus überhaupt nicht gelebt hätte, dann müsste man das zugeben und nicht um des religiösen Verlustes willen die Tatsache leugnen.“ So ist auch die weitere historisch-kritische Erforschung der Bibel rückhaltlos zu bejahen, auch wenn schärfer als im „alten“ Liberalismus gesehen werden muss, „dass mit der bloß geschichtlichen Analyse die Frage nach dem eigentlichen Verstehen noch nicht ganz gelöst ist.“ Gleichwohl muss das historische Verstehen Grundlage des Verstehens überhaupt sein, sofern dieses nicht willkürlich sein will.

Unvereinbarkeit mit „geschichtswissenschaftlichen Argumenten“

Die Kritik des alten Liberalismus am altkirchlichen Dogma ist fundamental. Sie betrifft sowohl die Trinitäts- wie die Zweinaturenlehre, die Lehre vom stellvertretenden Sühnopfer Jesu Christi und die Lehre vom Sündenfall sowie der Erbsünde. Fundamental ist diese Kritik, weil sie diese Lehren nicht nur in einzelnen Aspekten, sondern in ihren Grundanliegen als unhaltbar beurteilt. Dabei beruht sie ihrerseits erstens auf der Erkenntnis von der Unvereinbarkeit des Dogmas „mit dem neutestamentlichen Christentum“ (Trinitäts- und Zweinaturenlehre), zweitens auf der Unvereinbarkeit mit dem „christlichen Prinzip“ der bedingungslosen göttlichen Gnade beziehungsweise vergebenden Liebe (Lehre vom stellvertretenden Sühnopfer Jesu Christi) und drittens auf der Unvereinbarkeit mit „geschichtswissenschaftlichen Argumenten“ (Lehre vom Sündenfall sowie der Erbsünde).

Autonomie des Erkennens bedeutet im Gegensatz zur autoritativen Heteronomie, dass die Wahrheit einer Behauptung nur aufgrund eigener Einsicht in diese Wahrheit anerkannt wird. Nicht also, weil eine Autorität den Inhalt einer Aussage als wahr anzunehmen gebietet, sondern weil ich diese Aussage als wahr einsehe, folge ich ihr. Das besagt unter anderem, dass sich der Heteronome im Konfliktfall auf die Autorität verlassen wird, der Autonome hingegen auf sein Gewissen. Dieser „nimmt dabei das Wagnis des Irrens auf sich. Er will lieber mit seinem Gewissen irren, als gegen sein Gewissen recht haben.“ Im Zusammenhang mit diesem „Wagnis der Autonomie“ verweist Neuenschwander zum einen auf Luther in Worms, zum anderen auf die Aufklärung, die dieses „grundprotestantische Prinzip“ konsequent durchführte, nachdem es in der Reformationszeit noch nicht durchgängig verwirklicht war.

Neuenschwanders Widerspruch gegen die „alte“ liberale Theologie lässt sich auf zwei Begriffe bringen: Abgründigkeit und docta ignorantia. Kurz gesagt: Neuenschwander hält den Optimismus des alten Liberalismus sowohl im Blick auf die Welt und die Geschichte wie auch im Blick auf den Menschen und seine Erkenntnismöglichkeiten für gescheitert und mithin überholt. Was Welt und Geschichte betrifft, so vermag der neue dem alten Liberalismus darin nicht mehr zu folgen, dass er die Fragmente der wunderbaren Zweckmäßigkeit in der Natur zur Zweckmäßigkeit der Natur qua Schöpfung überhaupt erweitert. Wie im Blick auf die Natur so ist auch im Blick auf die Geschichte unser Wissen Stückwerk, „ein Fragment aufblitzender Sinneinheiten in einem Meer von Rätseln“. Daher lässt sich der Sinn menschlichen Lebens nicht aus dem Sinn der Geschichte begründen. „Wir wissen nicht, was für einen Sinn es für die Gesamtheit des Kosmos und der Geschichte hat, wenn wir Christus nachfolgen.“ Freilich leuchtet mitten „im abgrundtiefen Rätsel der zerspaltenen Welt“ der Sinn unseres Lebens auf: „In der Nachfolge Jesu die Liebe zu verwirklichen.“

Mensch im Zwiespalt

Was des Weiteren den Menschen und seine Möglichkeiten betrifft, so erweist er sich grundsätzlich als zwiespältig, das heißt, er steht ethisch betrachtet zwischen Gut und Böse und religiös betrachtet zwischen Glaube und Sünde. Dabei kann der Mensch sich aus diesem Zwiespalt nicht selbst erlösen, da er sich ja selbst innerhalb des Zwiespalts befindet. Was aber heißt Erlösung hier und jetzt, wenn doch die Erlösung in der Fülle des Reiches Gottes bestenfalls in unabsehbarer Zukunft geschieht? Nun, Erlösung kann nicht länger gesellschaftlich oder gar kosmisch gedacht, sondern muss auf die individuelle Dimension reduziert werden, und auch hier reicht sie „nicht weiter als der potentielle Umfang der Freiheit. Aus einem Geschöpf, das von der Zwiespältigkeit der Welt, die sich aktiv im Kampf ums Dasein verwirklicht, gezeichnet ist, wird ein Geschöpf, das durch die Agape des Gottesreiches bestimmt ist.“

Wie das Verständnis von Natur und Geschichte sowie des Menschen, so wird für Neuenschwander schließlich auch das Gottesverständnis zutiefst abgründig. Traditionell gesprochen: Die Verborgenheit Gottes wächst. Und daran ändert auch die Rede von der Offenbarung Gottes nichts. Denn je „mehr uns Gott offenbar wird, umso mehr wird er gerade als Geheimnis offenbar.“ Freilich, die Rede von der in Christus offenbaren Liebe Gottes bleibt auch für die neue liberale Theologie gültig. Doch im Gegensatz zur alten liberalen Theologie „sehen wir dieses Licht der Christusoffenbarung aus dem unergründlichen Dunkel eines unerforschlichen Abgrundes in Gott hervorleuchten.“ Neuenschwander nennt diese Sicht „fast dualistisch“, hält sie jedoch gleichwohl im Blick auf den neuen Liberalismus für charakteristisch.

Ulrich Neuenschwanders programmatische Überlegungen zu einer neuen liberalen Theologie sind nach wie vor überaus aktuell, und zwar sowohl was die genannten Punkte seiner Anknüpfung an die wie die seines Widerspruchs gegen die „alte“ liberale Theologie betrifft. Natürlich müsste manches kritisch diskutiert werden, was jedoch den Rahmen dieses Erinnerungsartikels sprengen würde.

Kritisch-rational im selbstkritischen Sinn

Wie auch immer: Der Vorstoß Neuenschwanders aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts ist im besten Sinn liberal. Er ist undogmatisch im Sinne der Ungebundenheit an vorgegebene Dogmen und verfestigte Traditionen sowie ihrer rückhaltlosen Kritik. Er ist kritisch-rational nicht zuletzt im selbstkritischen Sinn, also im Sinn der Relativierung eigener Erkenntnisse sowie der Bejahung wissenschaftlicher Forschung und bewährter wissenschaftlicher Erkenntnisse. Er ist subjektiv im Sinne der Autonomie des Erkennens, des Beharrens auf eigener Einsicht und Überzeugung. Und er ist dialogisch im Sinne der Offenheit und Lernbereitschaft gegenüber anderen Positionen.

Was Neuenschwander dabei noch nicht oder zumindest unzureichend berücksichtigt, ist die eminente Bedeutung des interreligiösen Dialogs, der freilich seinerzeit noch nicht die Bedeutung hatte, die er mittlerweile gewonnen hat. Dass schließlich liberale Theologie im Besonderen sowie liberales Denken im Allgemeinen angesichts des wachsenden Fundamentalismus und Konservatismus auf der einen sowie des grassierendem Relativismus auf der anderen Seite gerade heutzutage eine überragende Bedeutung haben, kann man natürlich nicht nur, aber eben auch bei Ulrich Neuenschwander lernen, dessen 100. Geburtstag daher allemal der Erinnerung wert ist!

Literatur

- Ulrich Neuenschwander, Die neue liberale Theologie. Eine Standortbestimmung, Bern 1953 (Nachdruck mit einem Geleitwort von Werner Zager: Kamen 2011)

- Ders., Zwischen Gott und dem Nichts. Beiträge zum christlichen Existenzverständnis in unserer Zeit, herausgegeben von Johannes Zürcher und anderen, Bern/Stuttgart 1981

- Ders., Christologie – verantwortet vor den Fragen der Moderne. Mit Beiträgen zu Person und Werk Albert Schweitzers, herausgegeben und eingeleitet von Werner Zager, Bern/Stuttgart/Wien 1997.

- Auf dem Weg zu einer neuen liberalen Theologie. Ulrich Neuenschwander zum 100. Geburtstag, Forum Freies Christentum, Heft 59, 2022

  

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Wolfgang Pfüller

Wolfgang Pfüller, Jahrgang 1951, Dr. theol. habil., ist Dozent und Pfarrer in Ruhe. Er ist seit 2007 Mitglied im Vorstand des Bundes für Freies Christentum. Zuletzt erschienen  von ihm: "Ein Gott - eine Religion - eine Menschheit." Visionen und Illusionen einer modernen Weltreligion, Nordhausen 2017 und  "Gott weiter denken" -  Stationen interreligiöser Theologie, Nordhausen 2019.


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