Unaufgeregt

Geschlechterkonzepte

In ihrem Buch Material Girls beschreibt die britische Philosophin Kathleen Stock sachlich und präzise die Entwicklung eines Denkens, das die Begriffe Frau und Mann nicht mehr auf verschiedene Körper bezieht, sondern auf ein inneres, subjektiv erfahrenes Gefühl namens Geschlechtsidentität. Ebenso weist sie klar und dezidiert auf die lebensweltlichen Konsequenzen eines solchen Denkens hin, vor allem für Frauen und Mädchen.

Sie markiert von 1949, als Das andere Geschlecht von Simone de Beauvoir erschien, bis heute sieben Meilensteine in der Entwicklung des Begriffs Geschlechts­identität. Wer wissen will, warum manche Menschen sowie einige politische und gesellschaftliche Institutionen gegenwärtig der Ansicht sind, dass nicht das biologische Geschlecht einen Menschen zu einem Mann oder einer Frau macht, sondern die Tatsache, ob er sich als Mann oder Frau fühlt, bekommt hier genaue Auskünfte.

Stock ist von Haus aus Analytische Philosophin, und das merkt man. Sie untersucht die Entwicklung in stets neuen Anläufen aus verschiedenen Perspektiven. Dabei stellt sie einiges in Frage.

Hat de Beauvoir mit ihrer berühmten Aussage „Man kommt nicht als Frau zur Welt, sondern man wird es“ wirklich gemeint, dass Weiblichkeit rein sozial konstr­uiert sei und keine biologische Grundlage hätte, wie immer öfter behauptet wird? Oder hat sie vielmehr – diese Interpretation vertritt Stock – sagen wollen, dass weibliche Kleinkinder zu Mädchen und Frauen im kulturellen Sinne heranwachsen, indem sie zunehmend stereotypen Erwartungen von Weiblichkeit ausgesetzt sind?

Und weiter: Bilden Geschlechter biologisch gesehen wirklich ein Kontinuum, so dass es alleine schon aus diesem Grund völlig willkürlich wäre, von Männern und Frauen zu reden? Stock begründet mit detaillierten Kenntnissen, warum das Phänomen Intersexualität einem binären Geschlechtersystem keineswegs widerspricht.

Hat wirklich jeder Mensch als inneren Zustand eine Geschlechtsidentität? Stock bezweifelt dies und warnt außerdem vor einer Rückkehr regressiver Bilder von Männlichkeit und Weiblichkeit, die mit der Typisierung solcher Geschlechtsidentitäten einhergeht. Man spürt dem Buch an, dass Stock diese Themen bereits in verschiedenen akademischen und gesellschaftspolitischen Konstellationen kontrovers diskutiert hat. Einwände und Gegenargumente nimmt sie an vielen Stellen auf und geht mit ihnen ausführlich ins Gespräch. Bemerkenswert unaufgeregt wirken diese Auseinandersetzungen angesichts der Tatsache, dass Stock wegen ihren Positionen von Transaktivisten so sehr angefeindet wurde, dass sie im Herbst 2021 ihre Anstellung an der Universität Sussex kündigte.

Sie beschreibt am Ende ihres Buches, warum sie Transfrauen und Transmänner stets als Frauen beziehungsweise Männer und mit ihrem neuen Namen anspricht (was sie von einigen radikalen Feministinnen unterscheidet). Biologische Realitäten dürfen jedoch nicht geleugnet werden und geschlechtsbasierte Rechte gehören anerkannt. Stock benennt beispielweise das Recht lesbischer Frauen und schwuler Männer, sich sexuell ausschließlich vom gleichen Geschlecht angezogen zu fühlen, ohne deswegen transphob genannt zu werden. Sie spricht sich entschieden für geschlechtergetrennte Datenanalyse aus, insbesondere was Gewaltstatistik angeht, um Frauen und Mädchen besser schützen zu können. Auch der Schutz von Transmenschen vor Gewalt und Diskriminierung ist ihr wichtig. Hier plädiert sie für eigene sichere Räume sowie eine bessere Erforschung der Lebenssituationen und spezifischen Bedürfnisse von Transmenschen. Hier fehlt nach Stock wichtiges Datenmaterial.

Allen, die sich in Kirche und Theologie mit Geschlechterthemen beschäftigen und sich einen humanen Umgang mit ihnen wünschen, sei dieses Buch empfohlen.

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