Tragende Säule der Nazis

Ein Fallbeispiel: Die Evangelische Kirche Schleswig-Holsteins im Nationalsozialismus
Johann Heinrich Ludwig Müller, Bischof der Evangelischen Kirche in Deutschland, bei seiner Antrittsrede auf den Stufen des Berliner Doms im September 1934.
Foto: akg
Johann Heinrich Ludwig Müller, Bischof der Evangelischen Kirche in Deutschland, bei seiner Antrittsrede auf den Stufen des Berliner Doms im September 1934.

Erstmals wurde am Beispiel einer Landeskirche, der Schleswig-Holsteins, die NS-Positionierung ausnahmslos aller Geistlichen der Jahre 1933 bis 1945 untersucht. Demnach dominierten aktive Kollaboration und Zustimmung zum NS-Staat eindeutig. Rund 80 Prozent der Pastoren lebten im Konsens
mit dem Hitlerregime. Rund 40 Prozent der Pastoren waren Mitglieder der NSDAP, SA und/oder SS, erklärt der Historiker Helge-Fabien Hertz.

Wie positionierte sich die evangelische Kirche im ,Dritten Reich‘? Bis heute wird diese Frage sehr kontrovers diskutiert. Um für die Beantwortung eine tragfeste empirische Grundlage zu schaffen, wurde nun bundesweit erstmals am Fallbeispiel einer Landeskirche die NS-Positionierung ausnahmslos aller Geistlichen der Jahre 1933 bis 1945 untersucht, die der 729 Pastoren der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schleswig-Holsteins. Die Ergebnisse werden in drei Büchern und einer Online-Datenbank präsentiert.

Ausgehend von der bewusst weit gefassten Frage nach der NS-Positionierung wurden etliche Quellenbestände unterschiedlicher Provenienz ausgewertet: annähernd 1 300 Bände Personalakten, 380 Entnazifizierungsakten, die NSDAP-Mitgliederkarteien sowie weitere kirchliche Bestände wie Nachlässe, Gemeindechroniken und anderes mehr. Nach abgeschlossener Quellenauswertung wurden alle 729 Pastoren klassifiziert.

Grundlage hierfür war eine differenzierte personale Typologie bestehend aus zehn Positionierungsformen, die über traditionelle Täter/Opfer/Widerständler-Einteilungen hinausgeht und auch Grautöne abzubilden vermag: von massivem NS-Aktivismus über kirchliche Selbstbehauptung und ambivalente Haltungen bis hin zu aktivem Widerstand. Des Weiteren wurde das Handeln der Pastoren systematisiert und analysiert. Dies geschah mithilfe einer ebenfalls eigens entwickelten, komplexen Handlungstypologie mit 122 überindividuellen Handlungstypen: „NSDAP-Mitgliedschaft“, „SA-Ämter“, „Antisemitismus“, „Eintreten gegen Judenhass“, „Erfahrene Sanktionen“ und viele weitere Typen decken das NS-bezogene Handeln der Pastoren lückenlos und nahezu enzyklopädisch ab. Zudem erlauben 36 der 122 Handlungstypen als Indikatoren, verarbeitet in einem innovativen sozialstatistischen Messmodell, erstmals Rückschlüsse zu ziehen auf das nicht direkt beobachtbare Konstrukt der inneren Einstellung zum Nationalsozialismus. Auf dieser Basis ließ sich anhand des schleswig-holsteinischen Fallbeispiels eruieren, welche Rolle die evangelische Kirche im „Dritten Reich“ einnahm.

Die Pastorenschaft im „Dritten Reich“ war zwar durch ein sehr breites Spektrum an Positionierungen, durch vielfältige Einstellungs- und Handlungsweisen gekennzeichnet, jedoch dominierten aktive Kollaboration und Zustimmung zum NS-Staat eindeutig. Rund 80 Prozent der Pastoren lebten im Konsens mit dem Hitlerregime. Die Kollaboration mit dem Regime manifestierte sich wesentlich in drei Bereichen.

Mit Blutvergießen

Erstens wurde im politischen Raum ein beträchtliches Ausmaß an Mitgliedschaften und Funktionsübernahmen in und für die NSDAP und NS-Organisationen greifbar. Rund 40 Prozent der Pastoren waren Mitglied in der NSDAP, SA und/oder SS. Zahlreiche Pastoren bekleideten darüber hinaus auch Ämter und Funktionen in diesen und weiteren NS-Vereinigungen, betätigten sich als NSDAP-Blockleiter, Zellenleiter, Ortsgruppenleiter, Kreisleiter, als Geschäftsführer, Referent oder Gauredner, als weltanschaulicher Schulungsleiter der NSDAP oder SA, als SA-Rottenführer, Scharführer, Truppführer und anderes mehr. Einige Theologen traten als regelrechte NS-Kämpfer hervor. Sie leisteten vor 1933 als SA-Männer Saalschutz für die NSDAP, schlugen Saalschlachten und suchten den Straßenkampf gegen den politischen Gegner, wobei es oftmals nicht ohne Blutvergießen ausging.

Zweitens manifestierte sich dieser Konsens im kirchenpolitischen Sektor, etwa in Form von Mitgliederschaften oder Betätigungen für die ,Deutschen Christen‘ (DC) oder das Eisenacher „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“.

Beispielsweise forderten die DC als innerkirchliche Parallelbewegung zur NSDAP in ihren „Zehn Richtlinien“ bereits 1932, der „Rassenmischung entgegenzutreten“. Die Judenmission sei „das Eingangstor fremden Blutes in unseren Volkskörper. […] Wir lehnen die Judenmission ab, solange die Juden das Staatsbürgerrecht besitzen und damit die Gefahr der Rassenverschleierung und Bastardierung besteht. […] Insbesondere ist die Eheschließung zwischen Deutschen und Juden zu verbieten“ – eine Forderung, die drei Jahre später in den „Nürnberger Rassegesetzen“ gesetzlich kodifiziert werden sollte. Wenigstens 240 schleswig-holsteinische Pastoren schlossen sich den DC an und hatten somit Anteil an der forcierten Selbstgleichschaltung der Kirche.

Und drittens wurde insbesondere im Rahmen der Ausübung des Pfarramtes ein bemerkenswertes Ausmaß an NS-Konformität greifbar. Pastoren setzten Gottesdienste zu NS-Feiertagen und -Gedenktagen wie dem 9. November als Tag des Hitlerputsches von 1923 oder dem 30. Januar als Tag der sogenannten Machtergreifung an, hielten Feldgottesdienste für die Partei und ihre Verbände, weihten Hakenkreuzfahnen und hissten sie am Kirchturm. Insbesondere im Rahmen der Verkündigung, in Predigt und Konfirmandenunterricht, verbanden etliche Theologen Kreuz und Hakenkreuz aufs Engste miteinander.

Etwa tausend systematisch ausgewertete Predigten und Konfirmandenstunden zeigen, wie weitreichend direkte Einschwörungen auf Adolf Hitler und den Nationalsozialismus sowie die Propagierung von NS-Ideologie im Rahmen der christlichen Verkündigung ausfiel, vielfach mit der christlichen Lehre verknüpft. Adolf Hitler und der Nationalsozialismus wurden gepriesen und heilsgeschichtlich legitimiert. Hitler wurde zum Retter Deutschlands stilisiert, zum von Gott gesandten Propheten. Das NS-Rassenkonzept stieß auf ebenso breite Akzeptanz wie die Idee der NS-„Volksgemeinschaft“. Pastoren predigten Judenhass: althergebrachte Motive wie den Vorwurf des Jesusmordes ebenso wie moderne antisemitische Formen bis hin zur Legitimierung der staatlichen Rassengesetzgebung.

In Bezug auf die oftmals mit Dietrich Bonhoeffer assoziierte „Bekennende Kirche“ (BK) halten sich sowohl im öffentlichen Meinungsbild als auch im fachwissenschaftlichen Diskurs – trotz vorhandener Gegenstimmen – bis heute hartnäckig Widerstandsverortungen. Insbesondere aufgrund der BK war die evangelische Kirche in Überblickswerken zum „Dritten Reich“ bislang bevorzugt im Kapitel zum Widerstand zu finden.

Wie stellten sich BK-Pastoren zum Hitlerregime? Die Frage ist essenziell: In Schleswig-Holstein gehörten der BK über 300 der Pastoren an – rund die Hälfte der Geistlichen. Die erstmalig ganzheitliche Untersuchung ausnahmslos aller BK-Pastoren einer Landeskirche zeigt: Die Gruppierung wies ein breites Spektrum an NS-Positionierungen auf. Zwar waren die ausgesprochen wenigen widerständigen Geistlichen durchweg BK-Mitglied, blieben jedoch auch innerhalb der BK die unliebsame Ausnahme. Auch unter BK-Pastoren dominierten Zustimmung zum Regime und aktive NS-Kollaboration viel stärker als bisher bekannt – verbunden mit innerkirchlichem Autonomiestreben. Das stellte keinen Widerspruch dar: Viele BK-Pastoren engagierten sich für die Wahrung der kirchlichen Autonomie und für Adolf Hitler. Verhindern wollte man die NS-Selbsttransformation der Kirche, wie sie von den DC vorangetrieben wurde.

Führerprinzip befürwortet

Im sogenannten „Kirchenkampf“ der BK ging es um die kirchliche Selbstbehauptung: Die Kirche sollte nicht gleichgeschaltet werden – mitunter, weil man glaubte, dem NS-Staat mit einer starken, autonomen Kirche am besten dienen zu können. Hiermit wurde dem NS-Totalitätsanspruch für den Raum der Kirche faktisch Einhalt geboten – jedoch nur für den Raum der Kirche. „Führerprinzip“ und „Arierparagraph“ wurden von der BK für die Kirche abgelehnt, ansonsten aber befürwortet. Das Motto der BK lautete, so bringt es ein zeitgenössisches Zitat treffend auf den Punkt: „Wir wollen dem neuen Staat mit ganzer Treue dienen, aber die Kirche muß Kirche bleiben.“ Beide Hauptsätze sind ernst zu nehmen: Man konnte für Adolf Hitler und für eine autonome, starke Kirche eintreten – und genau das taten etliche BK-Pastoren. Jeder dritte BK-Pastor war Mitglied in der NSDAP und/oder SA beziehungsweise SS. Etliche übernahmen NS-Ideologie in den Raum der Kirche und propagierten sie von der Kanzel oder im Konfirmandenunterricht, priesen den „Führer“ und schworen ihre Gemeinde auf das Hitlerregime ein. Dass sich die besonders radikalen Fälle von NS-Kollaboration weitaus seltener in der BK sammelten als bei den DC, vermag dieses Bild nicht zu relativieren. Allerdings haben nicht wenige zugleich zumindest vereinzelte Kritik geübt, in der Regel an der Kirchenpolitik des Staates oder an der antichristlichen Haltung einiger NS-Größen. Beispielsweise setzten sich mehrere kritisch mit Alfred Rosenberg, Hitlers Chefideologen, auseinander. Solcher Kritik lag aber keine Ablehnung des Staates oder des Nationalsozialismus zugrunde. Kein „Bollwerk gegen Hitlers Diktatur“, wie lange Zeit kolportiert wurde.

Zur Komplexität des Gesamtbildes gehört, dass zugleich insbesondere in den Jahren 1935 bis 1939 ein nicht unerhebliches Konfliktausmaß zwischen NS-Staat und Pastorenschaft existierte, weil der NS-Staat den Einfluss der Kirche auf das öffentliche Leben zurückdrängen wollte. Allerdings blieben konkrete Sanktionen durch Staat oder Landeskirche überschaubar. Ein einziger Pastor aus Schleswig-Holstein wurde 1945 in ein KZ-ähnliches Lager eingeliefert, wo er starb.

Schärfere Maßnahmen erfolgten erst bei anhaltender, vehementer Opposition, die Pastoren möglich war. Denn die Kirchen boten einen Schutzraum, der den Geistlichen beträchtliche Handlungsmöglichkeiten eröffnete – ein Privileg, das viele ungenutzt ließen. Folgenlose Gestapo-Verhöre, mit Freispruch endende Gerichtsverfahren oder disziplinarische Verweise durch das Landeskirchenamt machen die Geistlichen nicht zu Opfern. Opfer des NS-Regimes waren Juden, Zeugen Jehovas, Sinti und Roma, politisch Andersdenkende, Homosexuelle, Behinderte. Die Geistlichkeit gehörte nicht dazu. Die Erzählungen von staatlichem Zwang der Pastoren und von den vielen Opfern unter ihnen sind Mythen der Nachkriegszeit.

Obwohl jeder Geistliche in ein einzigartiges Verhältnis zum Nationalsozialismus trat, das sehr unterschiedlich ausfiel und stets zwischen den seltenen Extrema der uneingeschränkten, radikalen Kollaboration auf der einen, Widerstand auf der anderen Seite lag, kollaborierte der Großteil der Pastoren mit dem NS-Regime. Dieser Befund erhält vor dem Hintergrund des Amtseinflusses besonderes Gewicht: Pastoren fungierten als moralische Autoritäten und Multiplikatoren in Bezug auf die gesellschaftliche Meinungsbildung.

Kein Störfaktor

Die Kirche war keineswegs eine unbedeutende, hermetisch von Staat, Politik, Militär und so weiter geschiedene Institution, sondern eine mächtige und mentalitätsbildende Einrichtung, deren Vertreter gesellschaftliche Belange aktiv mitprägten. Am schleswig-holsteinischen Fallbeispiel wird die evangelische Geistlichkeit somit vor der „Machtergreifung“ primär als NS-herrschaftsbereitende, anschließend NS-herrschaftskonsolidierende und dann langjährige NS-herrschaftstragende Säule greifbar – viel stärker denn als Störfaktor, der auf wenige Leuchtturmpastoren beschränkt blieb. 

Information:

Die Ergebnisse der Studie werden durch eine dreibändige Buchveröffentlichung im Verlag De Gruyter Oldenbourg sowie ein frei zugängliches und
unkompliziert nachnutzbares digitales Pastorenverzeichnis im Netz präsentiert (pastorenverzeichnis.de). Beide Produkte gehören aufs Engste zusammen: Während mit letzterem ein digitales Recherche- und Forschungstool zur Verfügung gestellt wird, sind inhaltliche Erläuterungen, Kontextualisierungen sowie Erweiterungen in dem gedruckten Werk zu finden. In dieser Kombination möchte das Gesamtwerk eine innovative Grundlage für eine transparente kirchliche Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit bereitstellen.

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Helge-Fabien Hertz

Dr. Helge-Fabien Hertz ist Lehrbeauftragter an der Abteilung für Regionalgeschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.


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