Von höchster Liebe
Das Festival „Harmony of Difference – Die Spiritualität des Jazz“ versuchte von Donnerstag bis Sonntagabend in Bonn etwas gegen das Nischendasein des Jazz in der Kirche zu tun. Zu hören waren mitreißende Konzerte international renommierter Jazz-Musiker*innen und -Komponist*innen, das Meiste in der evangelischen Pauluskirche des Bonner Stadtteils Friesdorf. Eine Tagung lotete zeitgleich aus, wie nahe sich Jazz und Glaube sein können, ja sich gegenseitig befruchten könnten.
War Johann Sebastian Bach ein Jazzer? In der Bachforschung gibt es Mutmaßungen, er könnte zumindest einige Stücke improvisierend an der Orgel entwickelt haben. War Ludwig van Beethoven ein Jazzer? In seinen ersten Jahren in Wien soll er vor kleinerem Publikum ebenfalls eher improvisierend am Klavier gespielt und dabei viele begeistert haben. Die Improvisation ist ein zentrales Element des Jazz, ja ohne sie ist er kaum vorstellbar. Insofern könnte man überspitzt auch Bach und Beethoven als Jazzer avant la lettre bezeichnen, auch wenn der Jazz natürlich erst viel später entstand und noch heute, anders als Bach und Beethoven, im hiesigen Musikleben eher eine Nischenrolle spielt. Und das gilt leider auch für die Musikwelt der beiden deutschen Volkskirchen.
Das Festival „Harmony of Difference – Die Spiritualität des Jazz“ versuchte von Donnerstag bis Sonntagabend vergangener Woche in Bonn etwas dagegen zu halten. Zu hören waren erstklassige Konzerte international renommierter Jazz-Musiker*innen und -Komponist*innen in der evangelischen Pauluskirche des Bonner Stadtteils Friesdorf. Aber auch - bei einer zeitgleich in der Bundesstadt stattfindenden Tagung - erhellende Vorträge von Fachleuten zum Thema „Spiritualität des Jazz“.
Organisiert wurden Festival und Tagung von der ehrenamtlich getragenen Vereinigung „BlueChurch“, einer deutschsprachigen Initiative aus dem im August 2016 im Züricher Neumünster gegründeten internationalen Netzwerk für Jazz und Kirche „bluechurch.ch“. Derzeit verknüpft das Netzwerk etwa 300 registrierte Jazz-begeisterte Personen. Nach Auskunft von BlueChurch möchte das Netzwerk dazu beitragen, „Menschen verschiedener religiöser Traditionen, Kulturen und Milieus im gemeinsamen Musikerleben zusammenzubringen, zum Dialog untereinander anzuregen und die Wahrnehmung und Erkundung der spirituellen Dimensionen von Jazz“ zu fördern.
Zu diesem Zweck haben die BlueChurch-Engagierten seit 2015 in sieben Jahren sechs Tagungen und Festivals unter anderem in der Evangelische Akademie Loccum, auf dem Evangelischen Kirchentag in Dortmund und im Kloster Kappel in der Schweiz organisiert. Hier erkennt man den Eifer und den Fleiß der engagierten Jazz-Fans. Sie sind auf einer Mission.
Aber das Ganze kostet auch. Das Bonner Festival wurde von drei Institutionen organisatorisch, personell und finanziell unterstützt: der Rheinischen Kirche, vertreten durch Präses Thorsten Latzel und Landeskirchenmusikdirektor Ulrich Cyganek, weiterhin dem seit Jahren in Sachen Jazz in der Kirche überaus erfahrenen Team der Pauluskirche rund um Pfarrer Siegfried Eckert und schließlich dem Pädagogisch-Theologischen Institut der Evangelischen Kirche im Rheinland mit seinem Direktor Gotthard Fermor.
Liturgisches Potenzial
Die künstlerische Leitung hatte Uwe Steinmetz, dessen Bedeutung für das Netzwerk BlueChurch samt ihrer Theoriebildung zum Thema „Jazz und Kirche“ kaum zu überschätzen ist – und dem man wohl eines Tages ein Denkmal setzen wird, sollte sich Jazz als selbstverständliche Chance der Musik der und in der Kirche einmal in einem nennenswerten Umfang durchsetzen. Der Jazzmusiker- und -Komponist lehrte von 2008 bis 2019 Saxophon, Jazzgeschichte und Komposition an der Musikhochschule Rostock. Im Rahmen seiner Dissertation forschte er von 2015 bis 2020 an der Universität Göteborg über das liturgische Potenzial von Jazz. Außerdem ist er Mitarbeiter am liturgiewissenschaftlichen Institut der VELKD bei der Universität Leipzig für Musik und Gottesdienst.
Trotz dieses eindrucksvollen Engagements bleibt die Grundfrage: Warum sollte überhaupt mehr Jazz in der Kirche gespielt werden, eine Musikrichtung, die vielen Menschen als zu sperrig und wild für den Gottesdienst gilt? Das liegt an grundsätzlichen Merkmalen des (guten) Jazz, die von BlueChurch so zusammengefasst wird: „Jazz als globales musikalisches Genre, das sich kulturverbindend verwurzelt und dialogisch im gegenseitigen Zuhören und Reagieren auf gegenwärtige Strömungen in der Improvisation stilistisch weiterentwickelt“, verkörpere eine „Sehnsucht nach dem Anderen, und wird im 21. Jahrhundert besonders auch als klingendes Medium spiritueller Erfahrung rezipiert und praktiziert“.
Etwas einfacher ausgedrückt (und auf der Bonner Tagung wurde dies von den Fachleuten in Variationen immer wieder so benannt): Jazz ist eine Musikwelt, die eine große Offenheit hat und verlangt, mit der sie anschlussfähig ist an ganz unterschiedliche Kulturen und religiöse Formen. Wie spirituelles oder manchmal religiöses Erleben ist Jazz besonders geprägt vom Austausch zwischen den Musiker*innen untereinander, aber auch mit dem Publikum beziehungsweise der Gemeinde/Gemeinschaft („call and response“).
Leidenschaft und Ekstase
Die schon angesprochene Improvisation, zentral im Jazz, erfordert von den Musiker*innen neben Offenheit für die Mit-Musizierenden viel Austausch, Sensibilität und auch Demut, sich selbst und sein Instrument eben nicht in den Vordergrund zu drängen. Leidenschaft und Ekstase, aber auch Stille und meditative Phasen sind im Jazz möglich, ja erwünscht. Insgesamt die ganze Bandbreite der menschlichen Gefühle können und sollen im Jazz ihren Ausdruck finden. Hier ist die Anschlussfähigkeit an religiöse Ereignisse und Gefühle offensichtlich.
Jazz-Konzerte, auch in Kirchenräumen (die oft dafür wegen der guten Akustik besonders gut geeignet sind), sind einmalige, im Moment sich ereignende Gemeinschaftserlebnisse, die nicht zufällig mitreißenden Gottesdiensten ähneln können. Zu hören sind im Jazz immer sehr individuelle Zugänge von gleichwohl meist Vorgefundenem, ähnlich dem Geschehen in Kirchen. Interpretationen, häufige Wiederholungen, ja auch Rituale finden sich in Jazz-Konzerten wie in bewegenden Gottesdiensten. Es sind nur begrenzt planbare Ereignisse, bei denen Menschen aus sich heraustreten und gemeinsam etwas Nicht-Vorhersehbares, manchmal sogar etwas annähernd Metaphysisch-Göttliches schaffen und hoffentlich erleben, es ist etwas Inspirierend-Spirituelles. Deshalb ist es auch kaum verwunderlich, dass gerade in der Frühzeit des Jazz in den USA und mindestens das ganze 20. Jahrhundert hindurch diese zuerst und vor allem von Schwarzen geprägte Musik eine so innige Verbindung zu Glaube, Religion und Spiritualität hatte und hat. Nur wenig überspitzt könnte man sagen: Ohne Glaube (und Gott?) kein Jazz.
Ist das übertrieben? Steinmetz verwies in seinem Vortrag auf der Tagung im Bonner Gustav Stresemann Institut vor allem auf das bahnbrechende Album „A Love Supreme“ (etwa: „Die höchste/überragende Liebe“) des Jazz-Saxophonisten John Coltrane aus dem Jahr 1965, das mindestens Jazz-, ja Musikgeschichte geschrieben hat. Hier ist die Nähe von Jazz und Spiritualität fast mit Händen zu greifen. Das Album Coltranes ist de facto und ausdrücklich ein großes und langes Gebet. Und der Jazz-Erneuerer war nicht allein mit diesem Ansatz: Wolfram Knauer, Leiter des Jazzinstituts in Darmstadt und einer der führenden deutschen Jazz-Historiker, verwies in seinen Ausführungen unter anderem auf die Bedeutung der Religion bei der Jazz-Pianistin Mary Lou Williams, die sogar mehrere katholische Messen komponiert hat.
Der Züricher Theologe und Autor Matthias Krieg setzte sich in seinem Vortrag in einer sanft poetischen Weise mit weiteren spirituellen Aspekten des Jazz auseinander, anknüpfend an das Gedicht „I’ve known rivers“ (1920) des afroamerikanischen Dichters Langston Hughes, das tiefe religiöse Bezüge hat und im Jazz über Jahrzehnte immer wieder für neue Musikstücke inspirierend war. Der Bremer Philosoph Norman Sieroka untersuchte in einem auch musik-autobiographisch angehauchten Vortrag den „Jazz als Variation des Philosophierens in Zeit und Klang“, während sich die Sängerin und Heidelberger Kirchenmusik-Dozentin Tine Wiechmann mit der Ambivalenz der besonders in evangelikal-frommen Kreisen beliebten „Worship Musik“ beschäftigte.
Warum? Weil diese Musik im Gottesdienst starke Elemente der Improvisation kennt und nicht selten Anklänge an den Jazz hat. Am weitesten im christlich inspirierten Lobpreis des Jazz ging der Paderborner Theologe Harald Schroeter-Wittke, der „Gott als Jazz“ interpretierte und in einer Art Hymnus seiner Liebe zum Jazz eine berühmte Stelle im ersten Brief des Johannes so umschrieb: „Gott ist Jazz; und wer im Jazz bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“
Pathos pur
Pathos pur. Das Hinreißende dieser Tage in Bonn in den vergangenen Tagen aber war die Möglichkeit, neben der theoretischen Beschäftigung mit der Spiritualität des Jazz auch wunderbare Konzerte internationaler Künstler*innen zu erleben. Das Programm sah unter anderem ein Konzert des Janne Mark Trios vor, ebenso des Pepe Joma Kwartetts und des „Duo Moving Sounds“ mit Tara Bouman und Markus Stockhausen, der auf dem Evangelischen Kirchentag in Köln 2007 ein mittlerweile fast legendäres, riesiges Konzert mit etwa 1.800 Laien-Bläsern (Titel: „Abendglühen“) komponiert und performt hatte. In der Pauluskirche beeindruckte am Freitag der Saxophonist Matthias Petzold, ein Mitglied der franziskanischen Laien-Bruderschaft, mit Andi Reisner an der Gitarre durch „Franziskusinventionen“, bei denen er die Geschichte des Heiligen Franziskus erzählte und sie zugleich in eigenen, meist sanften Jazz-Kompositionen interpretierte.
Sehr dicht war auch das Konzert des deutsch-norwegischen Duos Simin Tander und Tord Gustavsen. Dabei verjazzte Gustavsen am Klavier unter anderem norwegische Kirchenlieder, die seine Partnerin Tander in der Sprache ihres afghanischen Vaters, in Paschtu, singend vortrug. Ungeheuer energetisch war auch der Auftritt des Joachim Kühn Trio. Der Pianist Kühn wurde dabei vom Kontrabassisten Chris Jennings und dem Schlagzeuger Eric Schaefer nicht nur unterstützt, sondern in einem intensiven musikalischen Trialog verwickelt. Die moderne Pauluskirche bebte vor Sound und Begeisterung.
Vielleicht am bewegendsten aber war im scharfen Kontrast dazu ein „Jazz Ritual“, das Jazz- und Kirchenmusikstudierende aus ganz Deutschland zeitgleich in einem dreitägigen Workshop in Bonn erarbeiteten. Zur Hilfe standen den jungen Musiker*innen dabei die schon genannten renommierten Profis Simin Tander und Tord Gustavsen. Dieses Traumpaar des Jazz ging beim Konzert der jungen Kolleg*innen am Samstagabend in der Pauluskirche sichtbar und empathisch mit, ja teilweise dirigierte es aus den Kirchenbänken heraus. Zu sehen, wie die aufstrebenden Musiker*innen in Ausbildung gemeinsam improvisierten, oben die Orgel, unten die Jazz-Gitarre, wie sich gegenseitig unterstützten und vor allem musikalisch kommunizierten, manchmal etwas unsicher noch, aber doch voller Leidenschaft und Können … all das zeigte, was Jazz in der Kirche sein kann: ein im umfassenden Sinne des Wortes erhebendes Erlebnis, a love supreme.
Philipp Gessler
Philipp Gessler ist Redakteur der "zeitzeichen". Ein Schwerpunkt seiner Arbeit ist die Ökumene.