Freiheit gewinnen

Christliche Verantwortungsethik und die Überwindung fossiler Konfliktbewältigung
Antikriegsdemo in Bonn am 19. März 2022.
Foto: picture-alliance/Rainer Unkel
Antikriegsdemo in Bonn am 19. März 2022.

Die vor einigen Jahren entwickelte Initiative „Sicherheit neu denken“ der Evangelischen Kirche in Baden wird seit dem russischen Überfall auf die Ukraine viel beachtet und teilweise hart kritisiert. Ralf Becker, Koordinator der Initiative, wirbt eindringlich für zivile Widerstandsmethoden, widerspricht entschieden der herrschenden Logik militärischer Eskalation und mahnt, die Klimakrise nicht zu vergessen.

Die Ukraine kämpft um ihre Freiheit. In diesem Krieg und in unserer Reaktion darauf geht es auch um unsere Freiheit. Wir sind tief empört und entsetzt über den Versuch Putins, seine Ziele mit Gewalt zu erreichen. Dass wir uns dem entschlossen entgegenstellen, ist gut und richtig. Wir, das sind die Ukrainer:innen, die sich der Gewalt mit bewundernswertem Mut entgegenstellen. Wir, das ist die UN-Vollversammlung, die diesen Angriffskrieg einhellig verurteilt. Wir, das sind Deutschland, die Europäische Union (EU) und weitere Staaten, die auf die anachronistische, aus der Zeit gefallene Gewalt mit entschlossenen Sanktionen reagieren.

Wir spüren unsere Abhängigkeit von fossiler Energie, die diese Gewalt bisher mitfinanziert. Eine Veränderung unseres Lebens- und Wirtschaftsstils hin zum Energiesparen und zu erneuerbaren Energien ist uns schon vom Bundesverfassungsgericht zum Erhalt unserer Freiheit aufgetragen, jetzt wird uns deren Bedeutung als Freiheitsenergien noch umfassender bewusst. Als EU gehen wir jetzt entschlossen eine schnelle Unabhängigkeit von fossiler Energie an. Damit wird auch die Überwindung der deren Ausbeutung regelmäßig weltweit begleitenden ausbeuterischen Strukturen möglich.

Laut des Berichts des Weltklimarats vom 5. April müssen wir bis 2030 jedoch nicht nur als EU, sondern weltweit den CO2-Ausstoß um 43 Prozent (!) zurückfahren, um einen unkontrollierbaren Klima-Kollaps abzuwenden. Zu einer verantwortungsvollen Reaktion auf den Krieg in der Ukraine gehört daher unumgänglich eine schnelle Beendigung dieses Kriegs und eine konsequente Vermeidung weiterer gewaltsamer Konflikte. Wenn wir es nicht schaffen, uns mit Russland und China zügig und dauerhaft gewaltfrei zu verständigen, werden wir unseren Kindern allein schon vom Klimawandel her einen unkontrollierbaren Planeten überlassen.

Verständlicher Reflex

Angesichts der weltweit drohenden Klimakatastrophe erscheint der verständliche Reflex zu umfassender militärischer Aufrüstung eher gesinnungs- als verantwortungsethisch motiviert. Militärische Abschreckungslogik erscheint zur Bewältigung der vor uns liegenden internationalen Herausforderungen fossil.

Angesichts der jedem Krieg und jeder Gewalt innewohnenden Tendenz zur Eskalation gilt es dringend, weltweit zunehmende Gewalteskalation zu unterbrechen. Als „Initiative Sicherheit neu denken“ plädieren wir dafür, dass Deutschland durch eine entschlossene Vorreiterrolle die notwendige Weiterentwicklung unserer internationalen Konfliktkultur hin zu nachhaltiger konstruktiver, quasi erneuerbarer Konfliktbewältigung als Teil der EU und der NATO bis zum Jahr 2040 ebenso konsequent befördert wie die Umstellung von fossiler zu erneuerbarer Energie.

Auch 2040 und darüber hinaus könnten sich die EU und die NATO in diesem Szenario weiter militärisch verteidigen, doch ähnlich wie nach 1990 aufgrund weltweit vereinbarter militärischer Abrüstung in stark reduziertem Maß.

Die Menschen in der Ukraine haben sich im aktuellen Krieg für militärische Verteidigung entschieden. Dass wir ihnen zu ihrer Selbstverteidigung Waffen liefern, geschieht im Einklang mit unserer Friedensethik und deren Akzeptanz militärischer Gewalt als ultima ratio.

Doch jenseits dieser kurzfristigen Antwort auf diesen Krieg gilt es, unseren Reflex zu erneuter fossiler militärischer Aufrüstung zu überwinden, weil mehr militärische Aufrüstung aller Erfahrung nach regelmäßig zu mehr und länger anhaltender Gewalt führt. Wenn wir auf Gewalt automatisch mit Gewalt und militärischer Aufrüstung reagieren, lassen wir uns vom Angreifer das Mittel der Konfliktaustragung aufzwingen.

Eskalierende Konflikte führen nach Beobachtung des Friedens- und Konfliktforschers Friedrich Glasl regelmäßig zu selektiver Aufmerksamkeit und kognitiver Komplexitätsreduktion: Wir sammeln konzentriert negative Aspekte über den/die Gegner/in und fokussieren auf stark vereinfachende Ursache-Wirkungs-Phänomene. Wir tendieren zum Schwarz-Weiß-Denken. Wir regredieren unter Stress zu einfachen Reiz-Reaktions-Schemata mit radikalisierten Willensäuß­erungen wie „entweder … oder“ und „jetzt erst recht!“. Unterbrechen wir solch eine Konfliktdynamik nicht bewusst, fühlen sich alle Konfliktparteien diesem Konflikt und seiner zunehmenden Gewalteskalation schnell ausgeliefert und wirken fast zwanghaft an der weiteren Eskalation des Konflikts mit.

Durch die reduzierte Wahrnehmung der Konfliktpartner können wir deren Reaktionen immer weniger begreifen, was wiederum Gewalteskalation begünstigt. Durch zunehmende Überempfindlichkeit im Zustand von Dauer-Erregung werden wir unserer Umwelt gegenüber immer misstrauischer. Statt Einsicht in das Handeln des Gegenübers zu gewinnen, erhöht sich unsere Gewaltbereitschaft. Wir verarbeiten vermehrt Informationen, die in das Eskalationsschema passen und uns weitere Gründe liefern, unser Gegenüber im Konflikt anzufeinden. Jegliche gegenteilige Information wird ausgeblendet, was eine objektive Betrachtung des Kontrahenten unmöglich macht.

Innere Freiheit zurückzugewinnen, um aus solch einer zwanghaften Konfliktdynamik auszusteigen, braucht bewusstes Wahrnehmen und Reflektieren dieser Dynamik. So wird es möglich, Handlungsalternativen zur friedlichen Bewältigung des Konflikts zu erkennen. Friedrich Glasl führt solche dringend notwendige Handlungsalternativen in einem auf der Seite des Bundesverbandes Mediation (bmev.de) zu findendem aktuellen Vortrag aus.

Freiheit gewinnen sollten wir auch in Bezug auf die gewaltsame Durchsetzung von Interessen generell. Nicht nur Putin, auch wir westliche Demokratien setzen unsere Interessen in der Welt immer noch mit Gewalt und deren Androhung durch, so unangenehm diese Tatsache ist.

Der britische Historiker Peter Frankopan legt in seinem Buch Licht aus dem Osten – Eine neue Geschichte der Welt von 2017 schonungslos dar, wie vom Römischen Reich über die Weltreiche der Chinesen, Griechen, Osmanen, Spanier, Portugiesen, Niederländer, Briten und Deutschen bis hin zu den USA internationale Beziehungen vom Einsatz militärischer Gewalt zur Durchsetzung eigener wirtschaftlicher und machtpolitischer Interessen geprägt sind.

So verfügten die USA Stand 2016 weltweit über mehr als sechshundert Auslands-Militärbasen, Russland nur über dreißig und China über elf. Es gilt anzuerkennen, dass die NATO und ihre Mitgliedsstaaten bisher ihre Interessen militärgestützt, das heißt mit impliziter und expliziter Gewaltandrohung – und immer wieder auch mit enormem Gewalteinsatz –, durchsetzt. Auch NATO-Staaten nehmen auf das Völkerrecht häufig nur dann Rücksicht, wenn es ihren eigenen Interessen dienlich ist. Wenn wir die immensen anstehenden internationalen Herausforderungen zur Abwendung des drohenden Klima-Chaos bewältigen wollen, bleibt uns keine andere Wahl, als uns trotz des aktuellen Kriegs sehr schnell mit Russland und China auf eine gewaltfreie Konfliktbewältigung inklusive gemeinsamer Abrüstung zu verständigen.

Dazu braucht es eine neue Perspektive, wie wir internationale Beziehungen auf Augenhöhe gestalten können – inklusive einer gemeinsamen neuen Verständigung zur Auslegung der UN-Charta von 1945 und der Charta von Paris von 1990. Im Zuge dieser notwendigen Neuverständigung braucht es auch eine Reform des UN-Weltsicherheitsrats inklusive der Einrichtung weltregionaler Sicherheitsräte.

An den Konflikten und Krisen unserer Welt sind wir immer auch durch eigenes Handeln beteiligt. Gerechtigkeit und Frieden erreichen wir durch eine Veränderung unseres Lebens- und Wirtschaftsstils, durch faire Handelsbeziehungen und Energiepartnerschaften sowie durch nachhaltige Investitionen in inklusive Rechts- und Sicherheitssysteme wie die UNO und die OSZE. Und durch breite Schul- und Erwachsenenbildung in konstruktiver, erneuerbarer, gewaltfreier Konfliktbewältigung, ziviler Krisenprävention und -intervention.

Wir können und sollten auch und gerade angesichts des Kriegs in der Ukraine selbstbewusst an der mit Bedacht formulierten Balance unserer christlichen Friedensethik zwischen politischer Realität und der vorrangigen Option für die Gewaltfreiheit und den Aufbau internationaler gewaltüberwindender Rechtssysteme festhalten.

Gerade die wiederholte Beantwortung von Gewalt mit militärischer Aufrüstung hat wesentlich mit zur aktuellen Situation geführt. So hätten die USA 2001 auf die Terroranschläge von New York statt mit einem weltweiten Krieg und der Kündigung von Abrüstungsverträgen mit einem UN-geführten Polizeieinsatz reagieren können. Ihre Wahl eskalierender militärischer Mittel führte zu hunderttausenden Toten und Verletzten in Afghanistan und im Irak, zu über hunderttausend Selbsttötungen in den Reihen zurückgekehrter US-Soldat*innen und zur Erosion unserer internationalen Rechts- und Sicherheitsordnung.

Einbindung Russlands versäumt

1990 haben wir in Paris neben der Souveränität aller Staaten in Europa auch den Aufbau eines Russland inkludierenden Sicherheitssystems sowie gemeinsame starke Abrüstung vereinbart. Doch ab 2001 kündigten die USA den ABM-Vertrag zur Begrenzung antiballistischer Raketenabwehrsysteme. Nach 2004 ratifizierten sie den Anpassungsvertrag zu konventioneller Abrüstung in Europa (AKSE) nicht. Zuletzt haben sie den INF-Vertrag zum Verzicht auf atomare Mittelstreckenwaffen gekündigt.

Wir haben versäumt, Russland gemäß den Absprachen von 1990 auf Augenhöhe in eine inklusive Europäische Friedens- und Sicherheitsordnung einzubinden. Es ist nicht wahr, dass unser friedensethischer Fokus der vergangenen Jahrzehnte auf den Aufbau eines inklusiven Rechtssystems in Europa ein Fehler war. Ein Fehler aber war, bis zuletzt trotz 20-jähriger eindringlicher Mahnungen aus Russland weiter in fossiler Manier auf die NATO-Osterweiterung statt auf eine starke Russland inkludierende OSZE zu setzen. Das hat noch im Februar der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, festgestellt.

Natürlich hat auch Russland in den vergangenen dreißig Jahren zahlreiche Fehler gemacht – angefangen vom brutalen Tschetschenienkrieg 1994 bis zum aktuellen nicht minder brutalen Krieg in der Ukraine. Und natürlich rechtfertigt das alles nicht den aktuellen Krieg in der Ukraine. Wesentlich für eine dringend notwendige Versöhnung mit Russland ist jedoch das Eingeständnis, dass sowohl der Westen als auch Russland seit 1994 Gewalt weiter als Mittel der Politik eingesetzt haben.

Eine weitere fossile militärische Aufrüstung der NATO ist politischer Konsens. Doch die NATO gibt schon bisher das 17-fache für Militär aus wie Russland. Auch kaufkraftbereinigt geben die europäischen NATO-Staaten bereits mehr als das doppelte für Militär aus wie Russland. Wer in diesen Wochen mit Mitgliedern des Bundestags-Verteidigungs- und Haushaltsausschusses spricht, erfährt, in welche jahrzehntelangen neuen Abhängigkeiten wir uns mit langwierigen teuren Aufrüstungsprogrammen begeben. Und welche in der unmittelbaren Beschaffung regelmäßig nicht mit einberechneten weitreichenden Folgekosten hinsichtlich Ausbildung, Personal und Wartung entstehen. In dieser anachronistischen militärischen Sicherheitslogik unterwerfen wir uns enormen Zwängen, die unsere Freiheit auf lange Zeit sehr weitgehend einschränken.

Wenn wir uns unserer Verantwortung für die Welt und deren systemischer Zusammenhänge bewusst werden, können wir mittels gewaltfreier erneuerbarer Konfliktbewältigung auf Augenhöhe inklusive kontrollierter Abrüstung Konflikte wie den zwischen Russland, der NATO und der Ukraine zukünftig deeskalieren, bevor sie in Gewalt umschlagen. So hätte eine Rücknahme des Mitgliedschaftsangebots der NATO an die Ukraine diese zwar enttäuscht, doch ihr letztlich viel Leid und Enttäuschung erspart. Statt einer einmaligen Enttäuschung der Ukraine enttäuschen wir ihre Erwartungen jetzt monatelang – mit wahrscheinlich dem gleichen Ergebnis.

Wir sind in Gefahr, mit unserer fossilen militärlogischen Antwort auf aggressive Diktatoren unsere innere Freiheit zur konstruktiven Gestaltung der Welt zu verlieren. Eine erneute globale Blockbildung würde die für den Klimaschutz notwendige globale Kooperation praktisch unmöglich machen und fördert die Entwicklung zum Autoritarismus.

Wenn wir unseren eigenen Anteil an Konflikten durch unseren bisherigen Lebens-, Wirtschafts- und Politikstil wahrnehmen, Gewalt in jeglicher – auch selbst praktizierter – Form ein klares Stopp und gemeinsame Abrüstung entgegensetzen sowie Diktatoren kluge und glaubwürdige politische Anreize bieten, von ihrem gewalttätigen Verhalten zu lassen, können wir die vor uns stehenden Herausforderungen bewältigen. 

 

Information

Quellenangaben und weiterführende Hinweise siehe in einem umfassenderen Beitrag des Autors unter: www.zeitzeichen.net/node/9624

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