Neoliberalismus statt Nächstenliebe?

Ein Zwischenruf zur Maske in Corona-Zeiten und zur problematischen Rede von „Eigenverantwortung“ in Gesellschaft und Kirche
Maske in Corona-Zeitung
Foto: dpa

Eigenverantwortung – das hört sich gut an und scheint nun zum „Goldstandard“ im gesellschaftlichen Umgang mit der Pandemie zu werden. Das geht dem Leipziger Professor für praktische Theologie, Alexander Deeg, entschieden auf den Geist und er fordert weiterhin Solidarität zu üben.

Es gehe jetzt, in dieser neuen Phase der Pandemie, um „Eigenverantwortung“, so erklärte Marco Buschmann, FDP-Justizminister, bei der Vorstellung des neuen Infektionsschutzgesetzes an der Seite von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) am 9. März 2022. Seither wird das Wort „Eigenverantwortung“ beständig wiederholt, auch in Diskussionen von Kirchenvorständen und kirchlichen Gremien, in kirchlichen Gruppen und Kreisen.

Dagegen scheint mir ein ebenso kurzer wie entschiedener Zwischenruf nötig. Ich meine, wir als Christenmenschen und Kirchenvertreter:innen tragen eine große Verantwortung, das Reden von „Eigenverantwortung“ nicht salonfähig für eine Ethik des Miteinanders zu machen. Wir sollten es einem neoliberalen Konzept nicht allzu leicht machen, unsere Sozialethik zu bestimmen, sollten dagegen deutlich unsere Stimmen erheben und in unseren eigenen Kontexten entschieden anders handeln.

Manchmal lächerlich gemacht

Ich weiß: „Neoliberalismus“ ist ein großes Wort und steht für ein komplexes ökonomisches Konzept. Gleichzeitig ist der Begriff in vielen Kreisen auch das, was man als Anti-Mirandum bezeichnen kann: ‚Neoliberal‘ ist für viele ein Schimpfwort, mit dem sich politische Gegner ebenso diskreditieren lassen wie vermeintlich unverantwortliche Unternehmer:innen, Lobbygruppen et cetera. Nicht darum geht es mir, sondern um den besorgten Hinweis darauf, wie ein Grundkonzept des Neoliberalismus und ein ihm entsprechendes Menschenbild gerade Einzug hält in viel zu viele Debatten und Argumentationen – und wie auf seinem Rücken Gegenkonzepte wie Solidarität, wechselseitige Rücksicht, Nächstenliebe oder Gemeinschaftsgerechtigkeit in den Hintergrund gedrängt, manchmal sogar lächerlich gemacht werden.

„Eigenverantwortung“ steht wie kein anderer Begriff für die Grundlage eines neoliberalen Menschen- und Gesellschaftsbildes: Es geht um die Responsibilisierung der Einzelnen. Das ist zunächst und vor allem gegen eine um sich greifende Macht des Staates gerichtet, die zurückgedrängt werden soll. In der politischen Theorie ist hier der Diskurs um Gouvernementalität aufgerufen – und es geht (ganz positiv formuliert) um die Begrenzung staatlicher Macht. Die Gegenidee: Freie Märkte regulieren sich selbst und sorgen für den größtmöglichen Wohlstand aller. Staatsminimalismus und Marktfundamentalismus bedingen sich gegenseitig. Dem allen liegt ein Menschenbild zugrunde, für das Subjektivität, Autonomie und Wahlfreiheit wesentlich sind. Sehr verkürzt gesagt, gilt die Überzeugung, dass doch dann am besten für alle gesorgt sei, wenn jede:r für sich selbst sorgt.

Gegenmodell zu biblischem Menschenbild

Jedenfalls in dieser konsequent-extremen Zuspitzung liegt damit ein Gegenmodell zu einem biblischen Menschenbild, einer jüdischen und christlichen Ethik der Nächstenliebe und einer Vorstellung von Gesellschaft vor, für die eine auf die Gemeinschaft bezogene Gerechtigkeit grundlegend ist, wie es das hebräische Wort zedaqah meint. Als der Lehrer des Gesetzes Jesus fragt: „Wer ist denn mein Nächster?“ erzählt Jesus vom Samariter, der das am Wegesrand liegende Verbrechensopfer pflegt und für ihn Verantwortung übernimmt – und fragt dann zurück: „Wer […] ist der Nächste geworden dem, der unter die Räuber gefallen war?“(Lk 10,36). Die Nächstenliebe wird dort konkret, wo Menschen ihren Weg unterbrechen und sich betreffen lassen von denjenigen, die Gott ihnen vor die Füße legt. Wo sie aussteigen aus dem gefährlichen Kreislauf des Um-sich-selbst-Sorgens, das Jesus in der Bergpredigt als Gegenbild eines Lebens im Horizont des Reiches Gottes beschreibt (Mt 6,19–34). Es geht eben gerade nicht um Eigenverantwortung, sondern um die Nächsten und die Verantwortung für die anderen. Nicht: „Hilf dir selbst, dann ist allen geholfen!“, sondern: „Hilf den anderen, dann ist an alle gedacht!“

Das Symbol, an dem sich die Frage nach „Eigenverantwortung“ in unseren Diskursen derzeit immer wieder festmacht, ist die „Maske“, die damit zugleich zum Zeichen von Unfreiheit und Bevormundung wird. Die typisch neoliberale Argumentationslinie lautet: Hier könne doch nun jede:r selbst Verantwortung übernehmen. Wer sich noch schützen wolle, der oder die könne eine Maske tragen; wer das nicht brauche oder wolle, sei jetzt wieder frei, ohne Maske durch die Welt zu gehen.

Rücksicht und Solidarität

In den ersten Wochen der Pandemie gab es Sticker, die besonders in kirchlichen Kontexten verteilt wurden und auf denen ein Mund-Nasen-Schutz abgebildet war. Daneben standen die Worte: „Weil du mir wichtig bist!“ Es ist für mich erstaunlich, wie schnell viele diese einfache Logik vergessen haben. Klar, Masken schützen schon auch die Träger:innen selbst, aber eben auch die Menschen in ihrer Umgebung. Und weil keine Maske vollständig schützt, weil es Menschen gibt, die Mühe haben, hinter einer Maske zu atmen (übrigens gerade die, die einen Schutz besonders dringend brauchen), weil die Pandemie leider noch immer Menschenleben kostet und die Folgen von Long Covid und die Gefahr neuer Mutationen uns alle treffen, geht es hier nicht um bloße „Eigenverantwortung“ (wie beim Anlegen eines Sicherheitsgurtes), sondern um Rücksicht und Solidarität.

Wenigstens Gottesdienste und Gemeindeveranstaltungen sollten Orte sein, wo diese Solidarität sichtbar gelebt wird. Ein Jubel über die neue Freiheit von der Maskenpflicht oder gar ein Verspotten derer, die ‚noch‘ Masken tragen, als ängstliche Vermummungsfreunde, die es sich in ihrer Corona-Höhle so gemütlich gemacht haben, dass sie sich nun nicht mehr nach draußen wagen, sollte wenigstens in unseren Gemeinden keine Chance haben.

Es wäre doch schön, wenn wir Licht der Welt wären – auch dadurch, dass wir nicht die „Eigenverantwortung“ loben, sondern die Solidarität leben – und Masken tragen, wo wir inklusiv sein und die Türen für alle offen halten wollen. Weil es nicht um ‚mich‘ geht, sondern weil du mir wichtig bist!

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Foto: Sakralraumtransformation

Alexander Deeg

Prof. Dr. Alexander Deeg, geb. 1972, lehrt Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Leipzig und leitet das Liturgiewissenschaftliche Institut der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD). 


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