Dieses Buch ist voll von Gift: Toxische Männlichkeit beim gewalttätigen Vater, verpestete Umwelt im ehemaligen Kohlerevier in Glasgow, von Armut und Trostlosigkeit kontaminierte Beziehungen und das größte Gift von allen in diesem Roman – der Alkoholismus der Mutter. Jedes fünfte Kind im Vereinigten Königreich lebt mit mindestens einem Elternteil zusammen, das zu viel Alkohol trinkt. In Deutschland sind die Zahlen ähnlich, die Dunkelziffer in beiden Ländern wohl noch höher. Eines dieser Kinder war Douglas Stuart, Modedesigner und Autor, dessen autobiografisch geprägter Roman Shuggie Bain 2020 den renommierten „Booker Price“ gewonnen hat und der seit dem vergangenen Herbst auf Deutsch erhältlich ist, seit Dezember auch als Taschenbuch.
Was Stuart schildert, ist das traurige Leben von Agnes Bain und ihren drei Kindern im beginnenden Thatcherismus der 1980er-Jahre, überwiegend erzählt aus der Perspektive des jüngsten Sohns Hugh („Shuggie“), benannt nach seinem Vater, der die Familie im ersten Teil des Romans verlässt, nachdem er sie in eine schäbige Sozialwohnung in Pithead, unweit der stillgelegten Zeche gebracht hatte. Nicht aus einem letzten Akt der Fürsorge, sondern um seine kranke Frau zu demütigen. Und das immer wieder, wenn er sie nochmal besucht, um bei ihr zu essen oder für lieblosen Sex, dann wieder zu seiner neuen Frau geht und Agnes zurücklässt, ein „zu kostbares Exemplar, um sie der Liebe eines anderen zu überlassen. Er durfte nicht mal die Scherben übriglassen, die ein anderer später einsammeln und kleben könnte.“
Denn Agnes ist, trotz ihrer Krankheit, eine schöne Frau, die sich in der verwahrlosten Siedlung mit ihren ebensolchen Bewohnern nur schwer immer wieder zurück in ihren Stolz retten kann. Etwa wenn sie den neuen Nachbarinnen lächelnd ihre künstlichen weißen Zähne zeigt, im schönen Mantel am Gartenzaun ihre Filterzigaretten anbietet, sie mit dem goldenen Feuerzeug entzündet und im „Queens-English“ spricht, das sie selbst in ihren besoffensten Momenten nicht verliert. Doch einem Moment der Bewunderung durch die Nachbarinnen („Als wäre die Queen persönlich eingezogen“) folgt die Enttarnung. Die Frauen trinken Tee, bieten ihr Wodka an und wissen schon vorher, dass Agnes diesen tassenweise trinken wird. Ihre Wortführerin kennt die Sucht, von sich und anderen, hat den Schnaps gegen Valium eingetauscht, aber das Leben bleibt ein Dauerkater.
Und in diesem Driss wächst der kleine Shuggie auf, bis zum Schluss eng verbunden mit seiner Mutter, sie retten wollend durch fröhliche Clownereien, durch seinen Gesang, seinen Tanz, seine Liebe. Das klappt natürlich nicht, nach vielen Jahren der immer wieder enttäuschten Hoffnung und Selbstfindung lässt er irgendwann das Erbrochene in ihrem Mund und lässt die Mutter daran sterben.
Was hat ihn gerettet? Die Liebe zur Schönheit und zu sich selbt. Die Schlüsselszene: Shuggie steckt fest im Schlamm eines alten Kraters auf dem Zechengelände, droht darin zu versinken und wird gerettet, denn er beginnt laut zu singen, ein Lied, das er aus dem Radio kennt: „Children are our future, … show them all the bju-ti they possess in-si-hide“ – seine etwas verballhornte Version von Whitney Houstons „The greatest Love“, die man dem Text zufolge bekanntlich dann findet, wenn man beginnt, sich selbst zu lieben. Auch, wenn man schwul ist in dieser schwulenfeindlichen Umgebung, auch, wenn wieder kein Essen zu Hause ist, geschweige denn Geld, um welches zu kaufen, und die Mutter „wie eine geschmolzene Kerze“ im Sessel sitzt. Dass Shuggie irgendwann eine Freundin findet, deren Mutter ebenfalls trinkt und von ihr lernt, dass er seine Mutter nie wird retten können, ist dann die endgültige Rettung aus dem Sumpf.
Das alles ist traurig und Mut machend zugleich und viel mehr als ein moderner Proletarier-Roman oder gar ein „Feel-Good-Buch für die Mittelschicht“, wie es in einer Rezension hieß. Denn Sucht ist nicht nur ein Thema für die prekär lebenden Leute, auch wenn Shuggies Geschichte in so einer Welt spielt. Sie ist eine Krankheit, die in allen Milieus zu finden ist und eben nicht nur die Süchtigen selber vergiftet. Wie das geschieht, beschreibt Stuart anrührend und aller Preise wert. Und er hat das Gegengift parat: The greatest Love, inside of me …
Stephan Kosch
Stephan Kosch ist Redakteur der "zeitzeichen" und beobachtet intensiv alle Themen des nachhaltigen Wirtschaftens. Zudem ist er zuständig für den Online-Auftritt und die Social-Media-Angebote von "zeitzeichen".