Für die Werte der Republik

Die Laizität in Frankreich hat Züge einer Ideologie, die religiöse Menschen diskriminiert
Ohne Berührungsängste, umgeben von Geistlichen und nicht ganz gemäß des Laizitätsprinzips: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in der Grabeskirche von Jerusalem
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Ohne Berührungsängste, umgeben von Geistlichen und nicht ganz gemäß des Laizitätsprinzips: Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in der Grabeskirche von Jerusalem.

Die Laizitätsideologie will das Leben religiös engagierter Menschen in Frankreich vom Staat separieren, es unsichtbar machen, schreibt der evangelische Theologe und Autor Andreas Meier. Laizität werde als Kampfmittel gegen den Terrorismus verstanden, der die Republik bedrohe. In den Schulen gibt es etwa Orientierungsberaterinnen, die auf eine nicht-religiöse Kleidung achten sollen.

Brigitte Macron, die Frau des damals neuen französischen Präsidenten, tat im Mai 2017 etwas, was die Wochenzeitschrift Marianne noch 2019 als „sehr christlich, aber sehr wenig laizistisch“ unter der Überschrift „Glaubt Macron an die Laizität?“ stark missbilligte: Bei der Amtseinführung ihres Mannes bat die Präsidentengattin einen Prälaten flüsternd: „Beten Sie für ihn!“

Eine solche Bitte ist für Marianne, die der französischen Laizitätsideologie anhängt, ein Fauxpas. Denn die Zeitschrift beurteilt Politiker nach ihrem „Glauben an die Laizität“ und verweist damit auf die weitreichenden Ansprüche der III. Französischen Republik, ihre Bürger wie eine Glaubensgemeinschaft in Beschlag zu nehmen. Die Republik sieht sich demnach de facto in Konkurrenz zu Religionsgemeinschaften, von denen sie sich als einzige Autorität im für die Republik so fundamentalen Laizitätsgesetz separiert. Wie kam es dazu? Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kämpften Republikaner als Erben der Aufklärung darum, das bonapartistische System abzulösen. In ihm erkannte der Staat die katholische und evangelische Kirche sowie jüdische Gemeinschaften an, die sich in die vorgegebene Ordnung zu fügen hatten. Pfarrer und Religionslehrer erhielten ihr Gehalt vom Staat, der so die Verbreitung einer staatlich sanktionierten katholischen Moral sicherstellen wollte.

Wegen der Vormacht der katholischen Bischöfe verlangten evangelische Christen wie Republikaner aber bald die Trennung von Kirche und Staat, eben Laizität. Acht Gesetzentwürfe lagen im Parlament 1905 vor. Dem Republikaner Aristide Briand gelang es, in dem von Katholiken beherrschten Parlament mit Hilfe liberaler Kompromissformulierungen für das Laizitätsgesetz eine Mehrheit zu finden. Das Gesetz, das 44 Artikel umfasste, bestimmt die religiöse Neutralität des Staats, der die Freiheit religiöser Gottesdienste zu achten hatte. In ihm kommt das Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich aufgetauchte Wort „Laïcité“ nicht vor. Die Laizitätsideologie hält an der aufklärerischen Forderung fest, im Namen der Vernunft müsse der Staat areligiös, atheistisch sein. Der Einfachheit halber „tun wir alle Religionen in einen Sack“, sagte ein sozialistischer Abgeordneter in der Parlamentssitzung am 24. Januar 1901. Bastion der III. Republik ist das Heiligtum der Schule. Wenn Schüler in das republikanische Gebäude eintreten, kontrolliert eine Orientierungsberaterin („conseillère d’orientation“), dass sie die Teile ihrer Kleidung ausziehen, die nach Meinung des Gesetzgebers nach einem Gesetz vom 15. März 2004 als „erkennbare Zeichen“ auf ihre familiäre Glaubensherkunft verweisen, etwa Schleier oder lange Röcke. Im republikanischen Heiligtum sind sie frei, unbehindert davon, so die Lehrerin Delphine Girard in der Zeitschrift L’Express: Die Laizität erlaube den Schülern, „getrennt von ihren Bestimmungsfaktoren ihrer Herkunft ihr Leben frei zu gestalten.“

Wenn man heute über Laizität spricht, ist immer zu klären, auf welche Laizität sich Gesprächspartner beziehen. Franzosen nennen Anhänger der im Kompromissgesetz aufgegebenen radikalen Forderungen Laizitätsideologen, also „laicards“ oder „militants de la laïcité“. Sie bestimmen heute das Meinungsklima. Ein Beispiel dafür sind die Erfahrungen von Oliver Abel. Der Professor für Ethik an der theologischen Fakultät in Paris berichtet: „Mindestens zweimal wurde ich angerufen wegen der Teilnahme an einer Fernsehdebatte. ‚Herr Abel‘, wurde ich gefragt: ‚Wir möchten gerne einen Gesprächspartner haben, der dasselbe wie Sie sagt, aber kein Theologieprofessor ist.‘ Das zeigt, wie weit in der französischen Gesellschaft im Umgang mit religiösen Fragen die Selbstzensur reicht.

Als Emmanuel Macron im Mai 2017 sein Amt antrat, wollte er wie der evangelische Philosoph Paul Ricœur (1913 – 2005), für den er als Student gearbeitet hatte, dass der Staat mit den Religionen durch Dialog eine Verständigung suchen sollte, statt für die Separation der Religionsgemeinschaften vom Staat zu kämpfen, Macron suchte eine positive Laizität („laïcité positive“). Als erster Präsident besuchte er im April 2018 die katholische Bischofskonferenz und erklärte vor ihr, endlich müsse die „Kluft“ zwischen Kirche und Staat überbrückt werden. Auf der Feier der Föderation protestantischer Kirchen zum 500. Jubiläum des Thesenanschlags Luthers würdigte er das republikanische Engagement der so lange in Frankreich verfolgten Protestanten. Im Laufe der Zeit lernte Macron die enorme gesellschaftliche Macht der Laizitätsideologie kennen. Erst ein Dreivierteljahr nach seiner Amtseinführung versuchte seine hastig gebildete Partei LREM („La République en Marche“) im März 2018, in der mit Laizität widersprüchliche Erwartungen verbunden wurden, sich in einer „Konferenz-Debatte“ auf eine gemeinsame Stellungnahme zur Laizität zu einigen. Dies gelang nicht, weil den Politikern die Meinung ihres Chefs Macron unklar war.

2019 rief Macron Frankreich zu einer Debatte über die Laizität auf. Er plane nicht, das Gesetz von 1905 zu reformieren, sondern er wolle es „verstärken“ („renforcer“), weil viele die Laizität irrtümlich als „Feind der Religion“ verstünden. Mit dieser gebräuchlichen Leerformel, Laizität „verstärken“ zu wollen, reihte sich Macron in die Phalanx allgemeiner Bekenntnisse zur Laizität ein. Bekannt sind zudem Macrons energische Versuche 2018/2019, Muslime in vielen Gesprächen dafür zu gewinnen, ihre religiöse Organisation als Ansprechpartner des Staates transparent zu organisieren. Dabei streifte die präsidiale Unterstützung öfter das Gebot des Laizitätsgesetzes, staatlich nicht in die religiöse Freiheit der Einzelnen einzugreifen.

Eine Rede Macrons am 2. Oktober 2020 gilt schließlich als Beginn seines neuen Kurswechsels. Er nannte die Laizität „Zement des geeinten Frankreichs“ und warnte davor, die Muslime zu stigmatisieren. Das Problem sei der „islamistische Separatismus“, den er vage mit Verstößen gegen „Werte der Republik“ beschrieb. Es ging ihm nicht darum, diesen „Islamismus“ als Teil des muslimischen Glaubenslebens zu verstehen. Sicherheitsmaßnahmen seien eingeleitet, und er beabsichtige, in Frankreich „eine Generation von Imamen zu formen und zu fördern, die sich für die Werte der Republik völlig einsetzen“. Die Rede war ambivalent. Da die von ihm genannten „Werte der Republik“ schwammig blieben, steht in der Bilanz seiner Amtszeit nur der „Kampf gegen den islamistischen Separatismus“ – was immer das heißen mag. Jedenfalls erregte die grausame Ermordung des Lehrers Samuel Paty durch seinen islamistisch fanatisierten Schüler zwei Wochen später Frankreich sehr. Der Mord wurde als weiterer „Anschlag auf die Laizität“ gewertet. Dabei stand das Laizitätsgesetz nie in Gefahr. Im Kampf gegen den Terrorismus des „Islamismus“ stehen Frauen mit Schleier wegen ihres Kleidungsstückes für Verwaltungsmitarbeiter und Ideologen im Verdacht, separatistisch den Terrorismus zu unterstützen.

Staatliche Kontrolle

Die Behörden beginnen mittlerweile sogar, das Verhalten in religiösen Versammlungen der Muslime zu kontrollieren. „Da sich die Bedrohung der Republik radikal geändert hat“, wie es von Regierungsseite hieß, löste Macrons Regierung im Sommer 2021 schließlich den 2007 eingesetzten Beratungsrat „Observatoire de Laïcité“ auf. Das Gremium hatte die Aufgabe, zu schildern, wie das Laizitätsgesetz beachtet wird. Außerdem kritisierte es die Missachtung etwa der Kultfreiheit durch staatliche Behörden. Um Handlungsfreiheit zu gewinnen, wurde das „Observatoire“ durch einen Zirkel von Ministern im „Conseil interministérielle de la laïcité“ (CIL) ersetzt. Dieser Schritt der Regierung markiert den Beginn des entscheidenden Umbruchs, Laizität wird nun als Kampfmittel gegen den Terrorismus verstanden, der die Republik bedrohe. Die Regierung schloss sich also der lautstarken Kritik an, mit der Laizitätsideologen schon seit langem gegen das „Observatoire“ gewettert hatten. Ein Beispiel: Der Politologe Vincent Tournier kritisierte die „Zweideutigkeit“ des Rates, weil er auf der freien Kultausübung aller Glaubensgemeinschaften pochte: „Entweder lässt man die Religionen sich ungeniert entfalten (…) oder man verzichtet auf die Feststellung, dass Religionen eine Quelle der Spiritualität sind, und erkennt an, dass Religionen grundsätzlich eine Bedrohung des bürgerlichen Zusammenhalts sind. Dann muss die Laizität gestärkt („renforcer“) werden, um den republikanischen Pakt zu bewahren, dessen einzige Waffen der Verstand und die Wissenschaft sind (…). Sollte das Observatoire tatsächlich annehmen, dass Religionen das Skelett des öffentlichen Lebens bilden, hat es vergessen, dass in der französischen laizistischen Tradition die Privatisierung der Religion den Erhalt bürgerlicher Freiheiten möglich machte.“ Die Laizitätsideologie will das Leben religiös engagierter Menschen vom Staat separieren, es unsichtbar machen. Dem diente auch der Titel des Gesetzes, das die tatsächliche republikanische Separation von Religionsgemeinschaften nicht anzeigt. Ziel des am 24. August 2021 verabschiedeten Gesetzes ist die Bekämpfung des islamistischen Separatismus. Genannt aber wurde als Ziel nur die „Stärkung der Prinzipien der Republik“.

Das Gesetz verpflichtet staatliche Einrichtungen dazu, auf die Wahrung der Laizität zu achten – nicht zuletzt durch ein dichtes Netz von „Laizitätsreferenten“, die dem jeweiligen Präfekten des Staates mitzuteilen haben, wer tatsächlich oder vermutlich gegen die Prinzipien der Republik verstößt. Dutzende von Moscheen wurden aufgrund dieses Verdachtes geschlossen. Verwaltungsmitarbeiter, die nur kriminelle Risikofaktoren im Blick haben, entscheiden nun, welches Verhalten den sogenannten „Werten der Republik“ widerspricht. Le Monde notierte im Januar spitz, dass „die Interpretationen der vagen Gesetzesbestimmungen zahlreicher sind als die mit der Beurteilung beauftragten Verwaltungsmitarbeiter.“ Innenminister Gérard Darmanin sagte bei der Öffnung einer Behörde, deren Mitarbeiter Verstößen gegen die „Werte der Republik“ nachgehen sollen, dass es keine Unterscheidungsprobleme gebe „zwischen dem Terrorismus – und nichts ist eben nichts“ („il n‘y a pas rien“). Das ist offenbar so zu verstehen: Entweder es handelt sich um einen Terroristen oder nicht.

Den Umbruch vollzieht – zur effizienten Abwehr terroristischer Gefahren – ein Gesetz vom 31. Dezember 2021. Nach ihm gelten die Bestimmungen des Gesetzes zur Stärkung der Prinzipien der Republik auch für alle in der Öffentlichkeit aktiven Vereine oder Assoziationen, die mit dem Staat kooperieren. Das trifft auf viele als Vereine oder Assoziationen organisierte religiöse Gemeinschaften zu, die nun unter anderem jede „übermäßige proselytische Handlung vermeiden (…) und die psychologische und physiologische Verletzbarkeit der Personen, die an ihren Aktivitäten teilnehmen“, vermeiden müssen. Auch haben deren Vertreter den „Kontrakt zum Einsatz für die Republik“ zu unterschreiben. Das war ein weiterer Schritt über das Laizitätsgesetz hinaus, das republikanische religiöse Neutralität von staatlichen Einrichtungen verlangt. Zu ihr sind nun auch Bürger (nicht nur Vereine) verpflichtet.

Kein Wunder, dass die Kirchen und religiösen Gemeinschaften gegen das neue Gesetz umgehend protestierten. Die Gemeinschaft evangelikaler Gemeinden wandte ein, dass die Behörden durch die vom Gesetz 1905 eingerichtete „Kultpolizei“ nun in das Gottesdienstleben eingreifen könnten. Die Föderation der protestantischen Kirchen Frankreichs forderte von den Präsidentschaftskandidaten der anstehenden Wahl, dass sie zur Erhaltung der religiösen Freiheiten die Bestimmungen des Laizitätsgesetzes von 1905 beachten müssten. Angesichts dieser harten gesellschaftlichen Debatten blieb im Ausland ein Zusammenschluss engagierter französischer Intellektueller weitgehend unbeachtet, der sich im Juli 2021 in der Organisation „Vigie de la laïcité, un organisme indépendant et citoyen“ (Wächter der Laizität, unabhängige bürgerliche Organisation) zusammenfand. An dieser Vereinigung sind auch der Präsident des ehemaligen „Observatoire“, der frühere Minister Jean-Louis Bianco, einer seiner Abteilungsleiter, Nicolas Cadène, und der Theologe Abel beteiligt. Am 9. Juni 2021 erläuterte ein Meinungsartikel in Le Monde die Gründe für den Zusammenschluss. Man teile die Überzeugung der französischen Republikaner, dass politische Gewalt nicht transzendent oder ideologisch begründet sei. Oft sei die Laizität aber manipuliert worden, die republikanische Bewegung habe über deren Prinzipien immer wieder gestritten; einige wollten die Freiheit des Gewissens eingrenzen, um die Kirchen zu stärken, andere wollten die freie Ausübung der Gottesdienste behindern. Beides aber lehnte der Gesetzgeber 1905 aus liberaler philosophischer Überzeugung ab, so die „Vigie“. Sein Gesetz, das Gleichgewicht sichert, sei die „zentrale Stütze der französischen Laizität“. Die „Wächter der Laizität“ kündigten an, sie beabsichtigten, in der französischen Politik auf die Einhaltung des Trennungsgesetzes von Staat und Religion zu achten. Sie würden Äußerungen wie Handlungen von Politikern in Mitteilungen kritisch kommentieren und sich über Gestaltungsmöglichkeiten des staatlichen Umgangs mit Religionsgemeinschaften abstimmen. Da die Zahl der vor allem durch soziale Medien in der Öffentlichkeit aktiven kleinen religiösen Gruppierungen enorm zugenommen hat, sind deren vom Laizitätsgesetz noch nicht erfassten Rechte und Bedürfnisse zu klären.

Die Gründung des bürgerlichen Wächterkreises zur Wahrung des Laizitätsgesetzes ermutigt. Aber ob es dieser Intellektuellenrunde wirklich gelingt, gegen die gesellschaftliche und politische Gewalt der Laizitätsideologie Front zu machen? 

 

Information

Der Autor plant die Edition der 431 wöchentlichen Kommentarspalten „Sonntagsspiegel“, die der Oberkirchenrat und Bundestagspräsident Hermann Ehlers zwischen 1946 und 1954 vorgelegt hat. Sie zeigen dem Autoren zufolge, wie sich in der Bundesrepublik der Staat nicht als Konkurrenz zu Religionsgemeinschaften versteht, sondern kooperative Zusammenarbeit möglich ist. Ende des Jahres soll der erste Teil im Mohr-Siebeck-Verlag Tübingen unter dem Titel „Politik aus erster Hand“ veröffentlicht werden.

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