Das Vertrauen wagen

Frankreichs Protestanten engagieren sich stark für eine bessere Gesellschaft
Die protestantische Gemeinde von Massy-Palaiseau bei Paris: Nach dem Gesetz von 1905 ist die Veranstaltung von Gottesdiensten die hauptsächliche Aufgabe der privaten Kultusvereine.
Foto: Holger Wetjen
Die protestantische Gemeinde von Massy-Palaiseau bei Paris: Nach dem Gesetz von 1905 ist die Veranstaltung von Gottesdiensten die hauptsächliche Aufgabe der privaten Kultusvereine.

Auch wenn die Gesellschaft eher säkular ist und früher vor allem römisch-katholisch  geprägt war: In Frankreich und seinen Überseegebieten leben immerhin knapp drei  Millionen Protestanten. Es ist eine Gemeinschaft, die auf eine sehr wechselvolle  Geschichte  zurückblicken kann. Heute sind die protestantischen Gläubigen vielfältig in  ihrer Gesellschaft engagiert und haben ein reiches Gemeindeleben etabliert, berichtet der in Frankreich lebende Journalist Holger Wetjen.

Die französischen Protestanten vertreten etwa drei bis vier Prozent der Bevölkerung Frankreichs. Dabei lässt sich der Begriff „Protestant“ sehr unterschiedlich definieren: Der Historiker Sébastien Fath unterscheidet fünf Gruppen, der Größe nach ansteigend: Regelmäßig Praktizierende, gelegentlich Praktizierende, Überzeugungsprotestanten, Kulturprotestanten und solche, die sich dem Protestantismus nahe fühlen. Fasst man den Begriff nach seiner fünften und weitesten Definition, so zählen die Protestanten in Frankeich 2,6 Millionen Bürger. Nimmt man die französischen Überseegebiete hinzu, sind in Frankreich 2,8 Millionen Bürger Protestanten.

Demographisch also eine Minderheit, sind Frankreichs Protestanten politisch und kulturell gleichwohl einflussnehmend. Eine Studie des Meinungsforschungs-Instituts IFOP hat an den Tag gebracht, dass Frankreichs Protestanten auf dem Gebiet der Sozialethik mehrheitlich fortschrittliche Positionen vertreten: So stimmten 72 Prozent der Protestanten der Ansicht zu: „Man muss das Recht auf Abtreibung verteidigen.“ Die Einsegnung pacsierter Paare in der Kirche – also Partnerschaften gleichen oder verschiedenen Geschlechts, die sich in einem staatlichen Vertrag zu gegenseitiger Unterstützung in Finanz- und Sozial-Angelegenheiten verpflichten – befürworten 51 Prozent der Protestanten, die Einsegnung homosexueller Paare in der Kirche 36 Prozent. 51 Prozent der Protestanten sind der Ansicht, dass jeder Mensch das Recht haben sollte, (im Krankheitsfalle) frei über den Augenblick seines Todes zu bestimmen. Diese liberalen Ansichten sind eng mit der Geschichte des französischen Protestantismus verbunden. Das gilt auch für ein weiteres Charakteristikum der französischen Protestanten, das ebenso geschichtlich gewachsen ist: Die Mehrheit befürwortet eine Trennung von Staat und Kirche: den Laizismus. „Er schützt Männer und Frauen und erlaubt ihnen, ihre Überzeugungen so zu leben, wie sie es wünschen. Der Laizismus muss beschützt werden“, bringt Emmanuelle Seyboldt es auf den Punkt. Die 46-jährige Pastorin ist im Mai letzten Jahres in ihrem Amt als erste Präsidentin der EPUdF (Église Protestante Unie de France = Protestantisch-Unierte Kirche Frankreichs) bestätigt worden. Die Protestantisch-Unierte Kirche Frankreichs ist 2013 aus der Fusion der Lutherischen und der Reformierten Kirche entstanden. Sie ist zahlenmäßig die größte protestantische Kirche in Frankreich. „Choisir la confiance“, lautet ihre Devise: das Vertrauen wagen. Die meist moderne Grundhaltung der französischen Protestanten lässt sich an vielen Punkten erkennen: Ein Beispiel ist die sehr weit verwirklichte Emanzipation von Frauen und Männern. Heute sind mehr als ein Drittel der 450 Pastoren der Protestantisch-Unierten Kirche Frankreichs Frauen. Sieht man auf dem sozialpolitischen Feld noch genauer hin, stellt man fest, dass die einzelnen modernen Positionen miteinander verbunden sind: So taucht der feministische Gedanke wieder auf, wenn die Protestanten Stellung nehmen zur Verantwortung der Menschen füreinander und für die Umwelt. Umweltschutz ist auf der Nationalsynode 2021 als eines der zentralen Themen diskutiert worden: „Gemeinsam mit anderen Bewegungen und Vereinigungen schätzt die Protestantisch-Unierte Kirche Frankreichs ein, dass die ökologische Krise eng verbunden ist mit der sozialen Krise und der Armut in der Welt“, heißt es im Synodenprotokoll: „Der Ursprung dieser Krisen liegt in einer Fehlentwicklung, erzeugt durch die menschliche Begierde, durch eine utilitaristische Weltanschauung, durch eine unregulierte produktivistische Wirtschaft und durch die Schemata einer patriarchalischen Vorherrschaft, die schon der Ökofeminismus angeklagt hat. Die Vorherrschaft finanzieller und nationaler Einzelinteressen schadet dem Gemeinwohl. Die Idee des Wachstums muss unbedingt der Solidarität und der Reduzierung der Ungleichheiten untergeordnet werden, dem ökologischen Gleichgewicht und der geteilten Nüchternheit. Die Protestantisch-Unierte Kirche Frankreichs erkennt die Notwendigkeit einer regulierenden Rolle des Staates an, der europäischen Einrichtungen und der internationalen Instanzen, aber ebenso die Notwendigkeit lokaler Bürgerinitiativen.“

Doch wie können die einzelnen protestantischen Kirchengemeinden diese ambitionierten Ideen verwirklichen? Dazu hat die Synode konkrete Empfehlungen gegeben: Die Kirchengemeinden fördern eine klimafreundliche Sanierung der Kirchengebäude. Die Positionen der Synode werden umgesetzt in den Fragen von Verkehrsmitteln und Gebäude-Unterhalt. Die Gemeinden helfen bei der Wiederaufforstung der Wälder in ihrer Region und legen Gärten an, die die Mitglieder gemeinsam bewirtschaften – und das auch in den Städten. Die evangelikale Kirche von Abbeville (Nordfrankreich) heizt ihre Gebäude mit Biogas. Die Verbrennung von Biogas (CH4) setzt 30 Prozent weniger Treibhausgase frei als die Ölverbrennung. Weil die Umweltkrise nicht zu trennen ist von der sozialen Krise, engagieren sich die protestantischen Gemeinden vor Ort für die Menschen, die aufgrund des Klimawandels gezwungen sind, ihr Land zu verlassen, und in Frankreich eine neue Heimat gefunden haben. Eine der bedeutendsten protestantischen Organisationen im Engagement, Migranten zu integrieren, ist das Cimade (Comité inter-mouvements auprès des évacués = Komitee zur Bewegung der Flüchtlinge): Es begleitet und unterstützt juristisch über 110 000 Neubürger. Seine ehrenamtlichen Mitarbeiter geben den Neuen eine Unterkunft – oft in ihren eigenen vier Wänden – oder helfen ihnen, eine Wohnung zu finden. Als nächstes geht es darum, eine Aufenthalterlaubnis und Arbeitserlaubnis zu bekommen für die Neubürger aus Staaten, die nicht Mitglied der EU sind. Dies kann eine aufreibende Arbeit sein, wenn Menschen aus Kriegs- oder Krisengebieten, religiös oder politisch Verfolgte „Hals über Kopf“ aus ihrer Heimat geflohen sind, um ihr Leben zu retten. Oft können sie ihre Staatsangehörigkeit nicht mehr mit Ausweis oder Pass nachweisen. Die protestantischen Hilfswerke sind juristisch organisiert im Dachverband der Protestanten, der Fédération Protestante de France (FPF= Französischer Kirchenbund). Ihr gehören auch die Protestantisch-Unierte Kirche und die meisten Evangelischen Freikirchen an. Diese Einbindung ermöglicht es den Nichtregierungsorganisationen, mit den Regierungsvertretern in den Dialog zu treten. Nach dem Gesetz von 1905 zur Trennung von Staat und Kirche formierten sich in Frankreich alle Religionsgemeinschaften als Kultusvereine. Ihre Aufgabe ist es, Gottesdienste abzuhalten. Sie finanzieren sich ausschließlich aus den Beiträgen ihrer Mitglieder, aus Spenden, Schenkungen und Vermächtnissen. Da Kultusvereine zu politischen Fragen nicht in den Gottesdiensten Stellung nehmen, ist im Jahr des Trennungsgesetzes der Französische Kirchenbund gegründet worden, so dass die Vertreter kirchlicher Vereine im institutionellen Rahmen mit den Regierungsvertretern sprechen können.

Wie wichtig dieser Dialog ist, zeigt in diesen Tagen die prekäre Lage in den Flüchtlingslagern von Calais, und oft ist es eine protestantische Stimme, die den Regierenden hörbar macht, dass die Menschen in Calais ums Überleben kämpfen. Im Oktober letzten Jahres richtete der Präsident des Französischen Kirchenbundes, François Clavairoly, im Rahmen eines Empfangs ein Gesuch an Staatspräsident Emmanuel Macron: Der biblische Wert der Gastfreundschaft verpflichte den Protestantismus, daran zu erinnern, wie dringlich es ist, Familien in Frankreich zu empfangen, die in Konflikten zerrüttet worden sind, und ihnen Asyl zu gewähren – namentlich den Menschen aus Syrien, Afghanistan und den Flüchtlingen in Calais.

Die protestantischen Hilfswerke werden oft von Missionswerken unterstützt. Im August 2021 mobilisierten sich nach dem Erdbeben in Haiti das Missionswerk Défap (Département évangélique français d’action apostolique) und die NGO SEL, um 75 000 Familien Lebensmittel und Obdach zu geben. Sie halfen in 25 sanitären Einrichtungen. Unter der Leitung des Französischen Kirchenbunds bauten protestantische Hilfswerke Frankreichs und Haitis eine gemeinsame Plattform auf. Bei der Finanzierung half das Hilfswerk Solidarité Protestante.

Freie Kirchengemeinden

Das Missionswerk Cevaa koordiniert die Arbeit von 35 protestantischen Kirchen in 24 Ländern weltweit. Die Vereinigung Acat wiederum (Action des chrétiens pour l’abolition de la torture = Aktion der Christen für die Abschaffung der Folter) hat als Ziel, in allen Ländern gegen Folter, unmenschliche Behandlung, Hinrichtungen und Kriegsverbrechen zu kämpfen. Ihr Netzwerk zählt 39 000 Mitglieder, Spender und Angestellte. Die Organisation MIR (Mouvement International de la Réconciliation = Internationale Versöhnungsbewegung) fördert eine Kultur der Gewaltlosigkeit.

Die Protestantisch-Unierte Kirche Frankreichs ist bei all dem organisiert nach dem presbyterial-synodalen System: Jesus Christus ist das einzige Oberhaupt der Kirche. Strukturiert ist die Protestantisch-Unierte Kirche Frankreichs in Form von demokratisch gewählten Versammlungen und Räten. Auf lokaler Ebene ist jede Kirchengemeinde frei, ihr Gemeindeleben zu gestalten und ihre Ausrichtungen zu wählen. Geleitet wird die Kirchengemeinde vom Kirchenvorstand, den die Vollversammlung alle vier Jahre wählt. Auf regionaler Ebene sind die einzelnen Ortskirchen solidarisch, auch in finanzieller Hinsicht. Jede Ortskirche entsendet einen Delegierten für die jährlich stattfindende Regionalsynode. Diese wählt alle vier Jahre einen Regionalrat. Einmal im Jahr findet die nationale Synode statt: Sie legt die allgemeinen Orientierungen der Kirche fest, verfasst Verfassungstexte, wählt einen Nationalrat – bestehend aus zwanzig Laien und Pastoren. Dieser wählt auf vier Jahre den Kirchenpräsidenten.

Jede Kirchengemeinde ist für ihre Finanzen völlig eigenverantwortlich. In Frankreich gibt es keine Kirchensteuer. Da sich die Kultusvereine ausschließlich aus den Beiträgen der Mitglieder, Spenden, Schenkungen und Vermächtnissen finanzieren, ist die Solidarität der Ortsgemeinden untereinander besonders wichtig: Innerhalb der Region unterstützen die finanzstarken Gemeinden die schwächeren. Die Regionen leisten untereinander dieselbe Solidarität. Aus den Einnahmen werden zum Beispiel Ausbildungsprogramme, Mission und Altersrückstellungen der Pastoren finanziert. Die Rentenhöhe wird auf der Nationalsynode festgelegt.

Staatliche Sanierungshilfe

Die Spenden kommen den Kirchengemeinden sowohl von ihren Mitgliedern zu als auch von Freunden, die die Kirche in ihrem Ort frei unterstützen. Aus diesen Mitteln finanzieren die Ortskirchen ihre Mission und die Kasualien, Pastorengehalt, Jugendarbeit, Konfirmandenunterricht, den Gemeindebrief sowie außergewöhnliche Ausgaben: ein Kirchengebäude, um- oder neu bauen, einen Dienstwagen anschaffen. Nach dem Trennungsgesetz von 1905 kann eine Gemeinde für die Sanierung von Kirchengebäuden nur dann eine finanzielle Hilfe erhalten, wenn das betreffende Gebäude von der Stadt oder Gemeinde als „monument historique“ (historisches Denkmal) eingestuft ist. Beispielsweise hat in Toulouse der Staat 20 Prozent der Sanierungskosten des Vieux Temple übernommen, weil dieser zum Kulturerbe zählt.

Im 18. und 19. Jahrhundert haben sehr viele Autoren und Intellektuelle mit den protestantischen Kirchen sympathisiert: Eine von ihnen war Germaine de Staël (1766 – 1817), Tochter des protestantischen Bankiers Jacques Necker und der Pastorentochter Suzanne Curchod. Germaine de Staël nahm die Nachricht von der Französischen Revolution mit Freude auf. Sie vertrat ein sehr heterodoxes Christentum, auf der Grundlage der Vernunft, frei von Dogmen. Ihre Idealvorstellung war, dass der Protestantismus als Staatsreligion Frankreichs anerkannt werde. Auch Voltaire sympathisierte. Berühmt geworden ist sein Einsatz für Jean Calas in Toulouse: 1762 wurde der protestantische Kaufmann (geboren 1698) vom Rat von Toulouse zum Tode am Rad verurteilt und hingerichtet. Er war bezichtigt worden, einen seiner Söhne, der zum Katholizismus übergetreten war, getötet zu haben. Auf Voltaires Drängen wurde der Fall dem Königlichen Rat vorgelegt: Der König gab dem Gesuch der Witwe Anne-Rose Calas statt, die Unschuld ihres Mannes zu beweisen. Der Parlamentsentscheid von Toulouse ging in Berufung. 1765 erkannte der Rat von Toulouse die Unschuld Calas’ an, die Anklage wurde für nichtig erklärt, Jean Calas rehabilitiert. Angesichts der prekären Lage der Familie Calas wurde eine Spende organisiert. König Ludwig XV. erwies sich darin als großzügig. 

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