An der Epochenschwelle

Evangelische Friedensethik revisited – anlässlich des Überfalls Putins auf die Ukraine
Einhundertausend Menschen haben am Sonntag (27.02.2022) in Berlin gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine und für Frieden in Europa demonstriert.
Foto: epd
Einhundertausend Menschen haben am Sonntag (27.02.2022) in Berlin gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine und für Frieden in Europa demonstriert.

Mit dem 24. Februar 2022 ist eine Epoche zu Ende gegangen –auch für die evangelische Friedensethik seit 1945. Das meint der Koblenzer Militärdekan Roger Mielke, von 2012-2018 Referent für Fragen der öffentlichen Verantwortung der EKD, und skizziert das seines Erachtens notwendig gewordene Revirement.

Der von Präsident Putin angeordnete Überfall russischer Streitkräfte auf die Ukraine am 24. Februar 2022 kann in der geschichtlichen Erinnerung Europas nur mit den Ereignissen im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges verglichen werden. Nicht umsonst wurde in diesen Wochen München 1938 als „lieu de memoire“ aufgerufen. Evangelische Friedensethik muss sich dieser Lage stellen, ihr ist ein neuer Realismus abverlangt, der sich dem Schrecken über den Krieg ebenso stellt, wie er den Friedensauftrag des Evangeliums und die politischen Friedensaufgaben bedenkt.

Diese Lage ist neu und die normativen Texte evangelischer Friedensethik, allen voran die Friedensdenkschrift 2007, hatten eine solche Konstellation ebenso wenig im Blick wie die Initiativen der EKD und der Gliedkirchen in den vergangenen Jahren – zu denken ist etwa an das in der Evangelischen Kirche in Baden entwickelte „Szenario Sicherheit Neu Denken“, das einen strikten Pazifismus zu operationalisieren sucht, der bei der grundsätzlichen Abschaffung des Militär endet. All das wirkt nun merkwürdig aus der Zeit gefallen. Was aber könnte denn in die Zeit passen?

Auf der richtigen Seite der Geschichte

Lange konnte sich evangelischen Friedensethik einigermaßen sicher sein, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Mit dem Jahr 1989 war der Jahrzehnte währende Blockkonflikt zu Ende gegangen, ein langdauernder Friede für Europa schienen in greifbarer Nähe gerückt. Allerdings wurde schon diese Idylle empfindlich gestört durch die blutigen Kriege, in denen der jugoslawische Vielvölkerstaat zerbrach.

Das historische Interim dauerte allerdings wenig mehr als zehn Jahre. Die Anschläge des 11. September 2001 beendeten die historische Pause, in der man meinen konnte, dass Francis Fukuyama mit seinen Thesen von "Ende der Geschichte" und der Alternativlosigkeit der liberalen westlichen Ordnung recht hatte. Im Jahr 2001 begann der zwanzigjährige „War on Terror“, der erst im Sommer 2021 mit dem Abzug der westlichen Truppen aus Kabul an sein Ende kam – mit katastrophalen Folgen für die von Regimewechseln betroffenen Länder ebenso wie für die Legitimität der „Internationalen Liberalen Ordnung“. Auf den lodernden Feuern der endlosen Kriege, angefacht von technologischem Wandel und ökonomischen Gewichtsverschiebungen konnten „revisionistische“ Mächte, allen voran China und Russland, die von den USA in ihrem "unipolaren Moment" unangefochten dominierte UN-Ordnung Schritt für Schritt unterminieren. Trägt die Herausforderung des Westens von dieser Seite die Signatur kompakter autoritärer Staatlichkeit, so liegt eine weitere kaum weniger beunruhigende Gefährdung der liberalen Ordnung am anderen Ende des Spektrums politischer Organisation: Zu sprechen ist von zerbrochener, zerbrechender und fragiler Staatlichkeit etwa in den Staaten des „Krisenhalbmondes“ von Afghanistan bis Marokko.

Diese politischen Gebilde sind vielfach willkürlich aus der kolonialen Konkursmasse von westlichen Staatsmännern geformt und fallen nun, gekapert von ihren eigenen kleptokratischen Eliten, den revisionistischen Mächten in den Schoß. Militärische Einsatzszenarien wie in Afghanistan oder gegenwärtig in Mali einerseits, und die Herausforderung an der Ostflanke der NATO andererseits sind strategisch und geopolitisch im Zusammenhang zu sehen. Die liberalen Staaten werden sich zu ihnen zu verhalten haben.

Herrschaft des Rechts?

Im Rückblick stellt sich die Frage, ob die zunehmende Verrechtlichung internationaler Beziehungen im Sinne des Völkerrechts und der UN-Ordnung nicht ein historisches Interim gewesen ist. In diesem Sinne wäre nicht der gegenwärtig eskalierende Einsatz von Gewalt das Ungewöhnliche, sondern vielmehr eine Jahrzehnte währende relative Berechenbarkeit und Rechtssicherheit in den internationalen Beziehungen. Die Rückkehr von Gewalt wäre dann als eine Rückkehr in den Normalzustand zu lesen, den etwa Henry Kissinger als die „westfälische Ordnung“ souveräner Nationalstaaten beschrieb, die in der Lesart einer neorealistischen Theorie Internationaler Beziehungen als „Sicherheitsmaximierer“ zu verstehen sind.

In diesem macchiavellistischen Framework gelesen sind Putins Schritte plausibel, nachvollziehbar. Wenn Politik künftig in diesem Verständnis gestaltet wird, muss sich auch die normative wie empirische Reflexion von Politik, und damit auch die evangelische Friedensethik darauf einzustellen haben. Illusionslos betrachtet wäre die Rückkehr der Geopolitik damit eine Rückkehr der Wirklichkeit in eine schön bunt gefärbte normative Welt, wie evangelische Friedensethik sie sich nach dem Ende der Blockkonfrontation zurechtgelegt hat. Andererseits macht der weltweite Aufschrei gegen die von Putin verantwortete Aggression auch die Stärke der Sprache von Gerechtigkeit und Recht deutlich. Den Informationskrieg gegen den ukrainischen Präsidenten hat Putin schon verloren.

Argumentationsfiguren evangelischer Friedensethik

Von dieser Analyse aus legt sich ein Blick auf die normativen Ressourcen evangelischen Friedensethik nahe. Wir erinnern uns kurz an die grundlegenden Orientierungspunkte der EKD-Friedensdenkschrift von 2007 („Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“). Das dort formulierte friedensethische Paradigma des Gerechten Friedens kann man in knappen Sätzen zusammenfassen:

1. Vorrang der Gewaltlosigkeit; 2. Frieden als mehrdimensionaler Prozess: Verringerung von Gewalt, Abbau von Not, Förderung von Freiheit, Gewährleistung kultureller Vielfalt; 3. Frieden durch Recht; 4. Friedenssicherung durch begrenzten Einsatz rechtserhaltender Gewalt.

Wenn man von diesen Grundsätzen ausgehend näher in die Denkschrift hineinzoomt, erkennt man einige Argumentationsfiguren: Die Denkschrift formuliert 1. In Praktiken eingebettete „Werte“, also affektiv besetzte Wahrnehmungen des „Guten“; sie bezieht sich 2. auf ein Bündel von allgemeinen, an Rechten und Pflichten orientierten handlungsbezogenen Normen; und sie referiert – sparsam – 3. auf die Einpassung in einen historisch besonderen Kontext – die Denkschrift von 2007 ist nach dem EKD Text 72 der Kammer für Umwelt und Entwicklung „Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens“ von 2002 diejenige Publikation, in der kirchliche evangelische Friedensethik auf die Erfahrungen des „Jahrzehnts der Interventionen“ zu reagieren suchte. Die Friedensdenkschrift von 2007 bringt damit einen Jahrzehnte währenden Prozess der Formulierung evangelischer Friedensethik zu einem bemerkenswerten und gültigen Abschluss. Seit den Heidelberger Thesen und den Debatten um „Wiederbewaffnung“ und atomare Rüstung in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre gab es in der evangelischen Friedensethik die beiden Lager eines konsequenten Pazifismus einerseits und einer „realistisch“ an den Gegebenheiten des Politischen orientierten „Verantwortungsethik“ andererseits. In einer die tiefen Zerwürfnisse harmonisierenden Denkfigur sprach man von einer „Komplementarität“ der beiden Lager. In der Friedensdenkschrift von 2007 kam es nun zu einem fragilen Kompromiss zwischen Pazifismus und „Verantwortungsethik“, man spricht von einem „Verantwortungspazifismus“ (Hans Richard Reuter) oder von einem „legal pacifism“. Wenn man die oben skizzierten Argumentationsfiguren aufnimmt, fallen drei Zusammenhänge auf:

Erstens: Grundlegend sind die biblischen Imaginationen des Friedens, starke Bilder und Narrative, gebunden an religiöse Praktiken, die über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg die politische Gestaltung und – mehr noch als das – über die engeren Grenzen der politischen Gestaltung hinausgehende moralische Imaginationen (Oliver O’Donovan) entzündet und befeuert haben.

Zweitens: Im Konzept des liberalen Rechtsfriedens findet sich ein Bündel von Normen, das zwar relativ abstrakt wirkt, aber doch durch historische Erfahrung aufgeladen ist. Dazu gehört etwa das auch in der Friedensdenkschrift von 2007 aufgenommene Konzept des „Gerechten Krieges“, das viel mehr ist als eine bloße Theorie, sondern vielmehr selbst eine Praxis im eigentlichen und genuinen Sinne (Friedensdenkschrift Ziffern 102 und 103). Im englischen Sprachraum spricht man von einem „just war reasoning“ und meint damit eine ethische Praxis moralisch angeleiteter politischer Urteilsbildung, die selbst Teil des politischen Handelns ist – traditionsgebunden und erfahrungsgesättigt in gleicher Weise. Eingebunden ist diese Kriteriologie rechtserhaltender Gewalt in ein Konzept des liberalen Rechtsfriedens, das von kantianischen Traditionen inspiriert und auch völkerrechtlich ausgesprochen einflussreich ist, wenn man die Gründung des Völkerbundes und noch der Vereinten Nationen bedenkt. Über den Umweg der Gedanken des US-Philosophenpräsidenten Wilson wurde Kants Traktat „Zum ewigen Frieden“ als philosophischer Entwurf politisch ganz ausgesprochen fruchtbar.

Drittens: Was in der Friedensdenkschrift weitgehend fehlt und normativ unterbestimmt bleibt, ist der große Bereich der „Kontexte“, in denen sich Normen und Werte gleichsam materialisieren. In der Tradition insbesondere der politischen Ethik hatte die Kasuistik die Aufgabe, historische Kontingenzen und individuelle Erfahrungen zu beschreiben und normativ zu reflektieren. In den ethischen Traditionen wurde diese Wirklichkeitsform des Politischen außerordentlich ernst genommen und durch schwach normative Klugheitsregeln eingehegt.

Zu denken ist etwa an die Aphoristik eines Georg Christoph von Lichtenberg, die ehrwürdige Tradition der französischen Moralistik oder an die barocken Tugendspiegel und Lebenslehren, wie sie etwa mit dem Namen Baltasar Gracians verbunden sind. Die universalistische Moral der Aufklärung konnte sich mit diesen kontextgebundenen partikularen Ethiken kaum zufriedengeben, und damit geriet sie auch in der evangelischen Ethik weitgehend außer Sicht - auch weil die evangelische Ethik der römisch-katholisch geprägten Kasuistik gegenüber immer höchst skeptisch blieb.

Texte und Kontexte

Mit Blick auf diese Bedeutung des Kontextes, oder ethisch gesprochen der circumstantiae, lassen sich in der Geschichte der evangelischen Ethik des Politischen zwei einander symmetrisch entsprechende Fehlformen erkennen: Zum einen eine Ethik, in der sich der „Kontext“ absolut setzt und in der man seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer Eigengesetzlichkeit des Politischen zu sprechen begann – in einer entstellten Aufnahme der lutherischen Tradition der Zwei-Regimenten-Lehre. Spiegelbildlich dieser Form entsprechend entstand eine ihres Kontext entkleidete Ethik des Politischen, in der sich der „Text“ absolut setzte. Damit wurde eine vielfach rigoristische, modernitätskritische, entdifferenzierende Ethik ausgebildet, wie sie Ende des 19. Jahrhunderts etwa in der Bedeutung des Werkes von Leo Tolstoi im deutschen Sprachraum einflussreich wurde und in der frühen Friedensbewegung erstmals seit der Zeit der täuferischen Bewegungen wieder breite Aufmerksamkeit gewann. Grundsätzliche Zivilisationskritik und Kritik des Krieges als Inbegriff dieser Zivilisation kamen überein.

Die historische Erfahrung zweier Weltkriege hat dieser rigoristischen „Gesinnungsethik“ des Pazifismus gegenüber dem Mainstream des deutschen Protestantismus eine erhebliche geschichtliche Plausibilität zugeführt, war sie doch in der Lage, die grauenvolle Gewalt Eskalation des 20 Jahrhunderts auf den Punkt zu bringen.

Genauer betrachtet ist diese pazifistische Ethik gerade in ihrer Modernitätskritik allerdings eine Ethik der Entdifferenzierung. Dies ist paradox, weil sie erst möglich wird, wo religiöse Praxis und Organisationsbildung sich weitgehend verselbständigt haben und nicht mehr als Legitimationsbasis des Politischen fungieren müssen. Eine deontologische pazifistische Ethik ist ein Produkt der Ausdifferenzierung der Moderne, und nimmt gleichzeitig diese Differenzierung zurück.

 Friedensethik im deutschen Protestantismus heute

Cum grano salis kann man für die gegenwärtige Konjunktur pazifistischer Ethikmuster im kirchlichen Protestantismus diese gleiche Figur von Differenzierung und Entdifferenzierung entdecken. Eine weitgehende funktionale Ausdifferenzierung und organisationale Selbständigkeit des religiösen Subsystems ist Voraussetzung für diesen Pazifismus, der nur möglich und plausibel wird, wenn sich die Träger dieser Ethik weitgehend aus öffentlicher Verantwortung, aus „Ämtern“ im eigentlichen Sinne des Wortes, zurückgezogen haben. Die Attraktivität einer pazifistischen Friedensethik für evangelische Synoden wächst in dem Maße, wie in diesen Synoden keine Amtsträger und Amtsträgerinnen mehr vertreten sind, die öffentliche Verantwortung tragen in Politik, Militär, Polizei oder Verwaltung.

Gleichzeitig aber liegt hier auch ein Phänomen der Entdifferenzierung vor. Rigoristische Ethik behält sich vor, unmittelbar in politische Gestaltung einzugreifen und dort direkte Handlungsanweisungen zu geben. Damit unterläuft sie den komplexen Prozess des normativen Transfers in die hochgradig spezialisierten Verantwortungsbereiche einer modernen Gesellschaft.

Um dies zu verstehen, kann eine Theoriefigur aus der Sozialtheorie Niklas Luhmanns hilfreich sein. Luhmann spricht im Falle von funktional differenzierten modernen Gesellschaften von einer „losen Kopplung“ der unterschiedlichen Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft, Recht oder Religion. Jeder dieser Bereiche folgt seiner eigenen Funktionslogik und bearbeitet seinen jeweils eigenen Gegenstandsbereich, was sich durch „Arbeitsteilung“ und Spezialisierung leistungssteigend auswirkt. Funktionslogik und Gegenstandsbereiche der jeweils anderen Teilbereiche kommen im Inneren der jeweils anderen Systeme nur in der Logik dieser anderen Systeme vor: Die Politik kodiert ökonomische Probleme politisch, Religion die gleichen Probleme etwa als Gebetsanliegen. Dieses Denkmodell ist auch aufschlussreich, wenn wir über die Funktionsweise ethischer Reflexion nachdenken. „Moral“ hat in Luhmanns Sozialtheorie kein ihr eigenes System. Moralische Reflexion begegnet im Inneren der unterschiedlichen Funktionsbereiche in jeweils eigener Form, mit einem allgemeinen Code, aber doch „anschlussfähig“ an Sprache und Problemlagen der Teilbereiche. Die „Bereichsethiken“ etwa der Kunst, des Rechts oder des Politischen sind grenzüberschreitend als Ethiken zu erkennen, beziehen sich aber auf höchst unterschiedliche Fragen. Dies wird gerade auch Friedensethik als ein eminenter Fall einer Ethik des Politischen im Blick zu behalten haben.

Evangelische Friedensethik steht gegenwärtig neu vor der Aufgabe, sich auf eine Weise artikulieren, die deutlich macht, dass sie einerseits aus religiöser Praxis heraus spricht und von dieser Praxis auch geformt ist und bleibt. Gleichzeitig wird sie sich bewusst sein, wo sie Systemgrenzen überschreitet und in anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen moralische Reflexion und Handeln ermöglichen will.

Für evangelische Friedensethik würde das bedeuten, einerseits die Fundierung in religiösen Praktiken und damit ihre eigene soziale Einbettung in kirchlicher Praxis sehr stark zu machen und ausdrücklich zu formulieren. Andererseits aber sollte sie sich dieses „border crossing“, wenn sie sich im gesellschaftlichen und politischen Kontext bewegt, sehr bewusst vor Augen führen und eine Sprache wählen, die anschlussfähig und sinnvoll ist in der Arbeitslogik ihrer jeweiligen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, in dem Maße wie diese in ihrer Funktion oder ihrem Amt adressiert werden.

Wirklichkeitsgesättigt Möglichkeiten entdecken

Gerade angesichts der gegenwärtigen geopolitischen und technologischen Verschiebungen, die die politische Friedensaufgabe vollkommen neu formatieren, sollte evangelische Friedensethik die Funktionsbedingungen der anderen Subsysteme, des Politischen oder auch des Militärischen, sehr sorgfältig analysieren, begrifflich rekonstruieren und zu verstehen versuchen.

Der Bedarf nach normativer Reflexion ist bei vielen Gesprächspartnern aus dem politischen und vor allem aus dem militärischen Feld ausgesprochen groß. Man darf auch mit Verständnis für die Rückbindung in geistlichen Praktiken und vielfach auch mit Bedarf nach Spiritualität für die persönliche Orientierung rechnen. Grundsätzlich aber stellt sich die große Aufgabe für evangelische Friedensethik - einerlei ob sie als akademische Ethik formuliert wird oder als kirchliche Ethik in synodalen Beratungs- und Entscheidungsprozessen - wirklichkeitsgesättigt argumentieren zu müssen, wenn sie außerhalb der Binnenräume gehört werden will. Diese Wirklichkeitssättigung muss sich den Ambivalenzen des Politischen ausdrücklicher stellen als dies im „Formalismus“ der kantianisch geprägten Denkmuster des „liberalen Friedens“ vielfach geschehen ist.

Die Balance von biblischer Imagination, von abstrakten und allgemeinen Normen und von wirklichkeitsgesättigten Beschreibungen realer Politik wird neu kalibriert werden müssen, wenn sich evangelischen Friedensethik nicht im normativen Wolkenkuckucksheim verlieren will. Gerade vom Realismus ihrer Beschreibungen her wird evangelische Friedensethik mit den ihr eigenen Ressourcen Möglichkeiten erkunden können, die anderen Akteuren verschlossen bleiben. Dies gerade ist der Mehrwert ihrer Verankerung in geistlichen Praktiken.

Zur Wirklichkeitsorientierung evangelischer Ethik werden aber auch Argumentationsfiguren gehören müssen, die die solidarische Bindung an den eigenen politischen und gesellschaftlichen Kontext namhaft machen, die sich dem eigenen Gemeinwesen verpflichtet wissen und seine Verteidigung in einer mehr als verschämten Form für eine Pflicht auch des Christenmenschen halten.

Der Journalist Thomas Kleine-Brockhoff hat in einer glücklichen Wendung von einem „robusten Liberalismus“ gesprochen. In demokratietheoretischer Hinsicht würde man von „republikanischen" Figuren sprechen, um welche die evangelische Friedensethik anzureichern ist. Damit ist nicht gemeint, sich künftig einem Bellizismus zu verschreiben oder einem Partikularismus, der mit der Universalität des Evangeliums schwer vereinbar wäre. Wohl aber geht es um einen Universalismus, der sich der eigenen lokalen und sozialen Verankerung bewusst wird. Es geht auch in der Friedensethik um so etwas wie einen “embedded liberalism”. Nur ein solcher wäre wohl in der Lage in der neuen Epoche zu bestehen, die nach dem Ende der alten eben auch am 24.Februar 2022 begonnen hat.

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Roger Mielke

Dr. Roger Mielke, geboren 1964, ist Militärdekan am Zentrum Innere Führung der Bundeswehr in Koblenz und Lehrbeauftragter an der Universität Koblenz und der Universität der Bundeswehr München. Der Theologe und Sozialwissenschaftler war von 1994-2012 Jahre Gemeindepfarrer am Mittelrhein, und von 2012-2018 Oberkirchenrat im Kirchenamt der EKD und Geschäftsführer der Kammer für Öffentliche Verantwortung.


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