Unbegreifbar und unerwartet

Die Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland, Anna-Nicole Heinrich (26), erlebt spirituelle Momente als Ahnung, dass es Mehr (!) gibt.
Foto: EKD/Peter Bongard

Spät abends am U-Bahnsteig. Ich gehe auf und ab, telefoniere mit einem Freund. Das Gespräch startet oberflächlich, vertieft sich schnell. Mein Auf- und Abgehen wird regelmäßiger. U-Bahn kommt, wir reden, denken, ich gehe, U-Bahn zieht weiter.

Die Realisierung, dass ich gerade die letzte U-Bahn verpasst habe, kickt kurz, reißt mich aber nicht aus unserem Gespräch. Ich gehe vom Bahnsteig und mache mich, ohne weiter drüber nachzudenken und ohne es zu erwähnen, auf den vierzigminütigen Fußweg nach Hause. Themen kommen, wir reden, denken, ich gehe, Themen ziehen weiter. Themen zwischen Himmel und Erde kommen, wir lachen, wir zweifeln, wir teilen unsere Überlegungen, ich gehe, Himmel und Erde bleiben.

„Spirituelle Momente“ sind für mich Augenblicke oder Situationen, in denen ich ahne, dass da mehr ist, als ich verstehen kann; in denen ich mehr spüre, als ich sehen oder hören kann; in denen ich anders reagiere, als ich erwarten kann. Und das können von außen betrachtet eben ganz banale Sachen sein: das Spielen auf einem verstimmten Klavier, das Sitzen auf einer ungemütlichen Kirchenbank am Ende einer anstrengenden Synode, telefonieren und gehen. Und wenn ich so darüber nachdenke, dann ist das Besondere, das Spirituelle daran, dass sich diese Erfahrungen nicht vorhersagen, nicht wiederholen, nicht steigern, nicht in ein Raster legen lassen. Sie sind ein Stück weit unverfügbar, unbegreifbar, unerwartet. Sie haben mit mir selbst, meiner Stimmung zu tun, damit, ob ich mich auf etwas einlassen kann. Sie haben mit meinem Umfeld, mit anderen Menschen, der Umgebung zu tun. Am Ende steht ein Erkenntnisgewinn, über andere, über mich, manchmal über Gott. Kein konkretes Mehr an Wissen – eher eine Ahnung davon, dass es Mehr gibt.

Ich stehe vor meiner WG, nehme den Rucksack vom Rücken und krame nach meinem Schlüssel. Ich finde ihn nicht, habe ihn wohl vergessen, aber teile auch das meinem Freund nicht mit. Ich sage, dass ich nun zu Hause bin, und wir beenden unser Telefonat. Ich klingle eine meiner Mitbewohnerinnen aus dem Bett und bitte sie, mir die Tür zu öffnen. Sie kommt raus, lächelt, wünscht mir eine gute Nacht – da ist es, das Mehr.

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