Revolution im Rückwärtsgang?
Christoph Markschies entlarvt in seiner neuen Kolumne drohende Revolutionen rückwärts, die sich nach seiner Beobachtung häufig da vollziehen, wo wir sie am wenigsten vermuten. Er plädiert anstelle solchen Retrodenkens für den „kühnen Ausgriff der Hoffnung nach vorn“.
Auch wenn es nun schon wieder über einen Monat zurück liegt, gehen mir Bilder einer Fernsehdokumentation nicht aus dem Kopf. Ich sehe nicht gerade häufig fern, aber ich hatte mir fest vorgenommen, am 6. Januar eine Dokumentation in der ARD zu sehen, die in den Zeitungen schon angekündigt worden war: „Sturm auf das Kapitol. Der Angriff auf die US-Demokratie“ – unter diesem Titel zeigte das Erste fast anderthalb Stunden lang Bilder vom Eindringen hunderter Trump-Anhänger in das Stein gewordene Herz der amerikanischen Demokratie.
Ich kann mich noch gut an meinen ersten Besuch im Kapitol in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts erinnern: Zu meinem grenzenlosen Erstaunen konnte man durch bullaugenartige Fenster in die beiden Sitzungssäle der Parlamentskammern sehen und alles war ohne Probleme offen und öffentlich zugänglich. Das verwunderte mich damals sehr: Ich bin groß gewordenen in einem Land, dessen Parlamentsgebäude mit Panzerspähwagen und mit Maschinengewehr tragenden Beamten des Bundesgrenzschutzes geschützt wurden vor dem, was man den Terror der „Baader-Meinhof-Bande“ nannte.
Inzwischen ist das natürlich alles anders, man kann im ehemaligen Preußischen Landtag mitten in Berlin durch die Räume des Berliner Abgeordnetenhauses flanieren, ebenfalls durch Fenster in den Türen einen Blick in den Sitzungssaal werfen und die Bilder an den Wänden bewundern. Man konnte es jedenfalls lange. Denn ich war schon lange nicht mehr dort im Gebäude, vor allem nicht, seit am 29. August 2020 nach einer Demonstration von sogenannten Querdenkern rund vierhundert Personen den Berliner Reichstag, den Sitz des Bundestages, zu stürmen versuchten. Wir werden auf dieses Ereignis noch einmal zurückkommen.
Unheimliches Gefühl
Zurück zur Dokumentation, die ich am Abend des diesjährigen Epiphanias-Tages im ersten Fernsehprogramm sah. In beklemmender Deutlichkeit sah man wieder und wieder die vielen Menschen gegen die Absperrungen anstürmen, Absperrung um Absperrung überwinden, gegen einen von wenigen Polizisten verteidigten Eingang anrennen und schließlich durch Fenster des Hauptgeschosses einsteigen. Ich bewunderte die Professionalität der Polizisten, die lange nicht zur Waffe griffen, sondern mit ihren Körpern Türeingänge blockierten, obwohl sie mit Fäusten und Stangen geschlagen wurden, die Effektivität der Sicherheitsleute, die die Abgeordneten über Geheimgänge evakuierten und war beeindruckt vom Mut so weniger, die sich dem Mob entgegenstellten. Aber das unheimliche Gefühl blieb zurück, was eigentlich passiert wäre, wenn die in das große Gebäude eindringenden Menschen genauer gewusst hätten, wo sich von ihnen gesuchte Personen befunden hätten, vielleicht einen Plan des Gebäudes einschließlich seiner Geheimgänge dabeigehabt hätten (sicher gibt es das im Internet).
Auf mich jedenfalls wirkten die Eindringlinge eher hilflos in dem großen Gebäude, lärmten und lümmelten sich auf Sofas vor den großen Historienbildern. Den Gedanken, dass es den eindringenden Menschen vielleicht gar nicht um die Eroberung des Kapitols in einem technischen Sinn und die Ergreifung bestimmter Personen ging, kam mir überhaupt nicht. Ich dachte nur bei mir: „Was für ein Glück, wie wenig professionell die agiert haben, was da hätte passieren können“.
Kurz nach dem Anschauen der Dokumentation Anfang Januar bekam ich ein kleines Büchlein von der Kunsthistorikerin und Bildwissenschaftlerin Charlotte Klonk geschenkt, die an der Berliner Humboldt-Universität lehrt. Es hat das Format eines dünnen Reclam-Bändchens und trägt auf dem Titel ein Bild des merkwürdig kostümierten QAnon-Schamanen, der mit einer Büffelhorn-Fellmütze bekleidet, sich unter den Eindringlingen des 6. Januar 2021 befand. Bald darauf wurde Chansley (alias Jake Angeli) verhaftet und später zu knapp dreieinhalb Jahren Haft verurteilt; er hatte angegeben, sich nach Washington aufgemacht zu haben, weil Trump alle Patrioten gerufen hätte, zu verhindern, dass der Kongress ihm seinen angeblichen Wahlsieg durch die Bestätigung Bidens „stehlen“ könne. Am vielleicht überraschendsten ist aber der Titel auf dem Buch von Charlotte Klonk, das im Verlag der Buchhandlung König erschienen ist: „Revolution im Rückwärtsgang“.
1776, aber ohne progressive Inhalte
Ein großartiger Essay, der einem hilft, die Bilder, die man von den Ereignissen des 6. Januar 2021 auf dem Kapitolshügel im Kopf hat und die in der Dokumentation nach Jahresfrist zu sehen waren, besser zu verstehen. Frau Klonk zeigt nämlich, dass es den Eindringlingen gar nicht um einen „Sturm auf das Kapitol“ ging. Sie zeigt, dass hier nicht nur einfach das Herz der amerikanischen Demokratie besetzt wurde, sondern, dass eine kulturelle und politische Revolution rückgängig gemacht werden sollte – „Revolution im Rückwärtsgang“.
Während seit den Tagen der Obama-Administration versucht wurde, die Erinnerung an die amerikanische Revolution von 1776 zu korrigieren beispielsweise durch die Erinnerung an die Ankunft der ersten versklavten Menschen aus Amerika in der englischen Kolonie Virgina 1619 („The 1619 Project“) und immer mehr neben den weißen Gründervätern der Vereinigten Staaten die indigenen Ureinwohner und ihre einstige Heimat in den Blick treten, wollten die Eindringlinge in das Kapitol die klassische Erinnerung an das weiße Narrativ der Unabhängigkeitskriege und der Unabhängigkeitserklärung von 1776 wieder herstellen. Aus ihrer Sicht ging es darum, das Kapitol, das Herzstück der amerikanischen Demokratie, aus den Händen der Revisionisten zu befreien: Revolution im Rückwärtsgang. Die Revolution von 1776, aber ohne ihre aus heutiger Sicht progressiven Inhalte. Gewaltsamer Umsturz, aber nicht in Richtung eines künftigen Paradieses der Arbeiter und Werktätigen, sondern in Richtung der alten bürgerlichen Gesellschaft der letzten Jahrhunderte.
Entsprechend kann Charlotte Klonk auch zeigen, dass keineswegs verarmte Opfer der Rezession aus den Südstaaten auf die Kapitols-Treppen stürmten, sondern vermögende und gebildete Menschen. Natürlich gelingt Frau Klonk auch eine einleuchtende Einordnung des selbsternannten Schamanen und vieler anderer Bilder.
„Revolution rückwärts“ auch bei uns?
Mich interessiert hier weniger die beängstigende Frage, die Charlotte Klonk am Ende ihres Buches aufwirft – Was geschieht eigentlich, wenn mit Berufung auf die Volkssouveränität tatsächlich auch hierzulande einmal eine Mehrheit eine „Revolution im Rückwärtsgang“ nicht nur fordert, sondern ins Werk zu setzen versucht? – als vielmehr die Frage, ob nicht das Modell einer „Revolution im Rückwärtsgang“ gegenwärtig auch in unserem Lande zu beobachten ist, auch wenn es natürlich viel bequemer ist, das für ein Problem der Vereinigten Staaten unter Trump oder von Ungarn unter Orban zu halten als für ein Problem unseres Landes.
Ich denke jetzt weniger an den eingangs erwähnten Sturm auf die Reichstagstreppe von sogenannten Querdenkern, weniger an ewig gestrige Neonazis. Nein, ich denke natürlich erst einmal an Bischöfe in der römisch-katholischen Kirche, die Berichte über sexualisierte Gewalt und über Missbrauch als gezieltes und abgefeimtes Attentat auf die durch das Weihepriestertum charakterisierte Kirche der Bischöfe und des Klerus zu denunzieren versuchen. Da wird doch eine Revolution im Rückwärtsgang zur vorkonziliaren Kirche intendiert und liturgisch sogar längst inszeniert. Zurück zur einen wahren Kirche des neunzehnten Jahrhunderts, aber ohne ihre aus heutiger Sicht progressiven Elemente.
Wieder könnte man sich beruhigt zurücklehnen und sagen, dass es das in der Evangelischen Kirche nicht gibt. Wenn bei uns eine Gemeinde Gottesdienst in Form feiert, in der er zu Zeiten Johann Sebastian Bachs in Leipzig gefeiert wurde, dann natürlich nicht mit dem Ziel, das als neue Normalform am Sonntagmorgen zu etablieren. Man versteht Bach im Kontext einfach noch einmal anders. Und doch könnte man sich selbstkritisch fragen, ob nicht beispielsweise die ostentative Rückbesinnung auf philosophische und theologische Weichenstellungen der letzten beiden Jahrhunderte etwas von einer „Revolution im Rückwärtsgang“ haben, ganz gleich, ob es nun um Theologie des frühen neunzehnten oder frühen zwanzigsten Jahrhunderts geht.
„Massives Glaubwürdigkeitsproblem“
Nicht, dass ich missverstanden werde (und hier wird man allzu schnell missverstanden): Natürlich will ich nicht Eindringlinge ins Kapitol, Anhänger der Piusbruderschaft und dann vielleicht gar noch Menschen, die die Theologien Karl Barths oder Schleiermachers verehren und für die Gegenwart erschließen wollen, in einen Topf werfen. Das wäre gar zu grotesk. Schließlich hatten die großen Renaissancen dieser beiden Theologen zu ihren Zeiten ihr Gutes für Theologie und Kirche. Aber es kann meiner Ansicht nach nicht schaden, wenn man sich gelegentlich fragt, ob man vielleicht unversehens Teil einer „Revolution im Rückwärtsgang“ geworden ist, obwohl man meint, ganz vorn an der Spitze einer zukunftsorientierten Modernisierungsbewegung zu stehen.
„Kirche und Theologie haben ja inzwischen ein massives Glaubwürdigkeitsproblem“, sagte mir gestern am Ende eines Telefongesprächs ein Präsident einer großen Wissenschaftsorganisation, der mit einer evangelischen Pfarrerin verheiratet ist. Und er meinte nicht nur die katholische Kirche und deren Erschütterung durch die gescheiterte Aufarbeitung von Missbrauch und sexualisierter Gewalt. Obwohl ich mich von Berufs wegen mit der Christenheit der griechisch-römischen Antike beschäftige und den reformatorischen Neuaufbruch Wittenberger Prägung sehr verehre – mit einer „Revolution im Rückwärtsgang“ ganz gleich welcher Sorte wird man diesem Glaubwürdigkeitsproblem nicht gerecht werden.
Dietrich Bonhoeffer hat einmal in einem Brief anlässlich einer Taufe aus dem Gefängnis davon gesprochen, dass der Tag kommen wird, „an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert“. Er erhofft „eine neue Sprache, vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend“. Vermutlich wusste Bonhoeffer, dass er damit an Gedanken anknüpfte, die Martin Luther in einer Wittenberger Disputation der dreißiger Jahre des sechzehnten Jahrhunderts geäußert hatte, aber er knüpfte nicht im Sinne einer „Revolution im Rückwärtsgang“ daran an, sondern in einem kühnen Ausgriff von Hoffnung nach vorn. Je älter ich werde, desto wichtiger wird mir dieser kühne Ausgriff der Hoffnung nach vorn.
Christoph Markschies
Christoph Markschies ist Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Er lebt in Berlin.