Immer auch am Täter orientiert

Über einen vergessene Aspekt in der Bewertung des kirchlichen Umgangs mit den Tätern in Missbrauchsfällen
Die Bände des Gutachten der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) zu Fällen von sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising steht vor Beginn der Vorstellung am 20. Januar 2022.
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Die Bände des Gutachten der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) zu Fällen von sexuellem Missbrauch im katholischen Erzbistum München und Freising steht vor Beginn der Vorstellung am 20. Januar 2022.

Vor gut drei Wochen erschien das Gutachten über die Missbrauchsfälle im Erzbistum München seit 1945 (wir berichteten). Der evangelische Theologe Notger Slenczka erinnert in diesem Zusammenhang an eine Grundwahrheit, die, wie er meint, bei der Diskussion der schlimmen Vorfälle häufig vergessen wird: Der christliche Glaube ist immer auch am Täter orientiert.

Das Gutachten der Münchener Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl zum Umgang des Erzbistums München und Freising mit Missbrauchsfällen zwischen 1945 und 2019 (GA 2022) vom 20. Januar ist eine zutiefst bedrückende Lektüre. Das gilt besonders für die Darstellung der Fälle, denn hinter jedem der Fälle stehen schwerwiegende physische und vor allem psychische Verletzungen der Opfer. Und man weiß als Protestant: Missbrauchsfälle kamen in derselben Zeit auch in den protestantischen Kirchen vor. Wie kann es dazu kommen, fragt man sich, dass ausgerechnet die Kirche die Opfer der Untaten in eigentümlicher Blindheit nicht wahrgenommen hat?

Zu dieser Frage eine These eines protestantischen Theologen: Fraglos: Der christliche Glaube ist an den Opfern orientiert oder sollte es sein. Jeder und jede weiß: im christlichen Glauben geht es um die Liebe zum Opfer: zum Verfolgten, zum Erniedrigten und Bedürftigen – dafür ist die Beispielgeschichte vom Barmherzigen Samariter sprichwörtlich geworden. Aber daneben gibt ein ebenso wichtiges Thema: der Ruf zur Umkehr, zur Buße mit dem Ziel der Vergebung. Das ist ein entscheidendes Thema des christlichen Glaubens, mit dem der christliche Glaube am Täter orientiert ist. Das ist nichts, was einfach abzustellen wäre. Das Thema des Christentums ist nicht ausschließlich die Liebe zum Bedürftigen oder zum Opfer, sondern die Liebe zum Feind und damit zum Täter. Das zentrale Thema des christlichen Glaubens ist Umkehr und Vergebung, und damit ist er unentrinnbar zugleich täterorientiert.

Wenige Erläuterungen, damit klar wird, warum das unumgänglich ist:

1. Wer die Schilderung der Fälle im Münchener Gutachten liest, stolpert in der Tat immer wieder über die offensichtliche Unangemessenheit vieler Entscheidungen, die im bischöflichen Ordinariat getroffen werden und deren systemischen Ursachen das Gutachten sehr genau nachgeht. Warum werden die Opfer so eklatant übersehen? Und warum wirkt der Umgang mit den Tätern so nachsichtig? Im Gutachten wird ein Klerikalismus namhaft gemacht, der zu einer Solidarisierung mit den Tätern und zu einer mangelnden Orientierung am Opfer führt, und wer es liest, assoziiert: Corpsgeist. Ein Rabe hackt dem anderen kein Auge aus (GA 2022, 406).

Ohne Rücksicht auf die Geschädigten

Die Orientierung an den Belangen der Täter ergibt sich, so die Gutachter, aus einem 'pastoralen Ansatz' im Umgang mit den Fällen: "Das … Desinteresse des kirchlichen Strafrechts gegenüber den Geschädigten findet auch in dem in einer Reihe von Normen des kirchlichen Strafrechts grundgelegten und in der praktischen Anwendung überbetonten „pastoralen Ansatz“ Ausdruck und (Über-)Steigerung. Wenn in Verfolgung des „pastoralen Ansatzes“ kirchlicherseits und ohne Rücksicht auf die Geschädigten die Auffassung vertreten wird, dem Täter solle man mit Barmherzigkeit begegnen und ein Strafverfahren möglichst vermeiden, so ist dies nur zulasten der Belange und Interessen der Geschädigten möglich …" (GA 2022, 420). Oder etwas vorher: "Der Vorzug scheint einseitig einem „pastoralen Ansatz“ gegeben worden zu sein, der zwar im Wechselspiel mit bestehenden Normen eine gewisse Berechtigung hat, im Fall seiner Verabsolutierung jedoch der Gefahr zu Willkür zu werden unterliegt." (GA 2022, 417; vgl. 272)

Das Stichwort eines 'pastoralen Ansatzes' wird nicht erläutert, und es wird auch die Herkunft der Wendung nicht angegeben, obwohl diese durchgehend in Zitatzeichen gesetzt ist. Offensichtlich ist mit der Wendung dies gemeint: dass der Umgang mit den Fällen von Missbrauch, gerade der Umgang mit den Tätern, von den Verantwortlichen nicht nur und nicht in erster Linie als ein strafrechtliches Problem, sondern als eine seelsorgerliche Aufgabe betrachtet wurde (vgl. GA 2022, 216 / 245).

Das Gutachten stellt die mangelnde Orientierung an den Opfern fest. Über dieser völlig berechtigten Kritik wird in der öffentlichen Reaktion, so scheint mir, übersehen: im kirchlichen Umgang mit Straftätern insgesamt und so auch mit den Tätern in den Missbrauchsfällen spielt doch immer noch ein weiteres Element mit, nämlich die seelsorgerliche Aufgabe am Täter oder an der Täterin. Dieser Aspekt wird in dem Gutachten, so scheint mir, als unverzichtbares Element des kirchlichen Umgangs mit den Untaten zu wenig in Rechnung gestellt.

Dabei handelt es sich aber nicht um ein spezifisch katholisches, sondern um ein unverzichtbares christliches Anliegen – und mit diesem Hinweis, den ich gleich erläutern werde, trete ich als bewusst liberaler protestantischer Christ an diesem Punkt auf die Seite der katholischen Kirche und versuche, die Situation etwas zu erhellen. Dabei geht es mir nicht darum, die offensichtlichen Fehlentscheidungen in den im Gutachten analysierten Fällen zu entschuldigen, sondern nur darum, ein immer mitlaufendes, in vielen Fällen sicher unzureichend angewendetes seelsorgerliches Anliegen zu benennen, das für die Beurteilung in Rechnung zu stellen ist.

Die Klugheit des Richters

2. Wer den Codex Iuris Canonici (das Buch des Kanonischen Rechts) und seine canones (Normen, abgekürzt 'can') zum kirchlichen Strafhandeln genau liest (can 1313ff. CIC/1983 und bes. 1341ff. ebd.), der stößt in can 1341 und can 1343f. auf eine sehr weitgehende, im staatlichen Recht m.W. nicht vorstellbare Freiheit des zuständigen Richters (in der Diözese ist das der Bischof). Dieser kann beziehungsweise soll auf die Einleitung eines förmlichen Strafverfahrens verzichten, wenn auf anderem Wege das Ziel des Gerichtsverfahrens erreicht werden kann (can 1341). Er kann darauf verzichten, Strafen zu verhängen – übrigens auch dann, wenn die Strafen und ihre Höhe kirchenrechtlich vorgeschrieben sind (can 1344).

Diese und ähnliche Entscheidungen hat der Richter nach 'prudentia' (Klugheit) zu treffen. 'Prudentia' ist eine Tugend, eine Befähigung. Letztlich ist das die Befähigung, die es dem Richter ermöglicht, das einzuhalten, was Aristoteles epieikia (lat. aequitas) nennt: das rechte Maß oder die situationsgerechte Angemessenheit. Das Recht wird nicht einfach buchstabengetreu exekutiert, sondern es dient einem Ziel.

Die Klugheit des Richters, der die Situation berücksichtigt, ist aber gerade keine Willkür. Die Wendung des can 1341 legt fest, dass der Richter vor dem Einleiten eines Verfahren sich zu vergewissern hat, dass der Zweck nicht auch durch "brüderliche Ermahnung, Verweis oder seelsorgerliche Ermunterung" erreicht werden kann. Dabei ist die kluge Entscheidung des Richters über das Verfahren an drei Kriterien orientiert: erstens das "Beheben des Anstoßes", den die Untat inner- und außerhalb der Kirche erregt hat – eine Anstoß erregende Untat muss in einem öffentlichen Verfahren verhandelt werden. Zweitens die "Wiederherstellung der Gerechtigkeit" – das sind nicht zuletzt die Belange der Opfer! Und der Richter muss sich drittens an der "Besserung des Angeklagten" orientieren. Damit ordnet sich das kirchliche Strafhandeln in das Bußverfahren ein.

Mit diesem Canon und den weiteren genannten Appellen an die prudentia des Richters werden ganz offensichtlich die Ziele und Kriterien eines kirchlichen Bußverfahrens mitgeführt – und dieses zielt neben dem Beheben des Anstoßes und der Wiedergutmachung gegenüber den Opfern auf die Umkehr und Besserung des Täters – und damit auf die Vergebung. Es ist in diesem Sinne auch (!) am Täter orientiert. Das bestimmt die Entscheidungen der kirchlichen Gerichte; und das bestimmt in noch höherem Maß die geistlichen Aufsichtspersonen, die mit den Tätern während und nach einer Verurteilung umgehen. Diese sind – abgesehen vom Bischof – keine Richter, und sie sind im Kontext der Kirche auch nicht einfach Vorgesetzte, sondern sie sind Seelsorger. Mir als Außenstehendem scheint, dass diese Absicht der Besserung, der Umkehr, der Vergebung und der Wiederaufnahme des Täters in die kirchliche Gemeinschaft zumindest ein leitendes Anliegen der kirchlichen Verantwortlichen in München war, das in der öffentlichen Diskussion in Vergessenheit gerät.

„Pastoraler Ansatz“

3. Denn das Bußverfahren, dem das kirchliche Strafhandeln zugeordnet ist, ist eben als Umgang mit dem Täter und nicht als Umgang mit dem Opfer konzipiert. Dieser Umgang mit dem Täter ist von seelsorgerlichen Motiven bestimmt – das ist der oben aus dem Gutachten zitierte und vom Gutachten kritisierte "pastorale Ansatz". Das Bußverfahren insgesamt und die in seinem Kontext verhängten Satisfaktionen zielen vor allem auf die Besserung des Täters und damit auf die Wiederaufnahme des Täters in die volle Gemeinschaft zunächst der Kirche. Im Rahmen einer Straftheorie würde man sagen, dass die Resozialisierung nicht der alleinige Zweck, wohl aber das letzte Ziel des Strafverfahrens und des kirchlichen Umgangs mit dem Täter ist. Auch die Bußstrafen und die im Beichtverfahren verhängten 'Genugtuungsleistungen' (Satisfaktionen) dienen der Motivation zur Umkehr und Besserung und zielen damit auf die Wiedereingliederung des Täters. Konfessionsübergreifend kennt das kirchliche Bußverfahrens den bleibenden Ausschluss aus der kirchlichen Gemeinschaft nicht. Es muss so gestaltet sein, dass der Sünder zur Einsicht, Umkehr und Besserung motiviert und dann wieder zur Gemeinschaft zugelassen wird.

4. Diese Orientierung am Täter begleitet die Christentumsgeschichte seit den Anfängen. Jesus von Nazareth hat nach den in den Evangelien tradierten Erzählungen Gemeinschaft mit Zöllnern, Sündern und Huren gepflegt; die Berichte zeigen auch, dass dies seinerzeit ein massiver Stein des Anstoßes war. Diesen Anstoß haben auch spätere Zeiten empfunden, die sich diese Szenen in bildlichen Darstellungen zurechtlegten und erträglich zu machen suchten: insbesondere die Sünderinnen wurden jung und bemitleidenswert und die dem Verhalten Jesu widersprechenden Personen – "Pharisäer und Schriftgelehrte" – möglichst abstoßend und rechthaberisch dargestellt. Solche Darstellungen sind aber Verharmlosungen des in der Tat damals skandalösen Verhaltens Jesu, dem man nur gerecht wird, wenn man sich anstelle der "Zöllner, Sünder und Huren" die Menschen einsetzt, denen die je eigene tiefste Verachtung gilt und die nicht, wie in den einschlägigen Bildwerken, jung und attraktiv sind, sondern abstoßend. Täter sind keine Opfer. Die Evangelien zeichnen Jesus von Nazareth als denjenigen, der sich auch den Tätern zuwendet und damit den Menschen, die zu Recht der allgemeinen, unserer Verachtung anheimgefallen sind.

5. Diesen Anstoß, den diese Orientierung am Täter zweifellos gerade in der Gegenwart erregen wird, muss die Kirche in Kauf nehmen. Sie darf sich darin auch nicht irremachen lassen durch das allgemeine Urteil. Dabei ist vorausgesetzt, dass ein Seelsorger dem Handeln der Täter in Missbrauchsfällen absolut nicht zustimmt und es nicht verharmlost – im Gutachten werden auch Fälle geschildert, in denen die Grenze zur Verharmlosung nicht eingehalten wurde. Aber ein Seelsorger betrachtet und behandelt den Täter nicht als hoffnungslosen Fall und schreibt ihn nicht ab, sondern er begleitet den Sünder auf dem Weg zu Gott, zur Vergebung und zurück in die Gemeinschaft der Kirche. Unter diesem Niveau ist der christliche Glaube nicht zu haben.

Natürlich haben alle Kirchen im Laufe ihrer Geschichte in ihrem Handeln und Urteilen dieses Niveau im Umgang mit schuldig Gewordenen immer wieder unterschritten. Unbeschadet dessen gilt: Jeder Täter und jede Täterin muss zur Umkehr gerufen werden, und mit ihm oder ihr muss ein Seelsorger den Weg der Umkehr zur Vergebung und in die Gemeinschaft der Kirche gehen. Dass hier gerade bei rückfallgefährdeten Sexualstraftätern ein hohes Verantwortungsbewusstsein gefragt ist und dieser Weg professionell begleitet und überwacht werden muss, ist eindeutig und war in den im Gutachten geschilderten Fällen offensichtlich nicht gewährleistet.

Immer auch Seelsorge

6. Dabei ist aber festzuhalten, dass in keiner Phase der Kirchengeschichte diese Zuwendung zum Sünder sich mit der Entschuldigung der jeweiligen Untat verband, sondern sich im Zusammenhang des Bußsakraments vollzieht. Der Zuwendung zum Täter liegt damit die Unterscheidung zwischen Tat und Täter beziehungsweise Werk und Person zugrunde. Auch nach protestantischem Verständnis vollzieht sich im Zuspruch der Vergebung diese Unterscheidung. Die von den Gutachtern kopfschüttelnd zitierten und von vielen Lesern kopfschüttelnd wahrgenommenen Hinweise kirchlicher Vorgesetzter auf die bleibende Fürsorge für den Täter (GA 2022: S. 456f.; 462; 467f.; 473; 479; 490; 498; vgl. 380f.; 501; 508; 538) haben in dieser Täterorientierung des Bußverfahrens ihren guten Grund. Man kann nicht oft genug unterstreichen: 'Täterorientierung' heißt nicht, dass die Taten gebilligt oder auch 'nur' verharmlost werden. Die Täterorientierung schließt die schärfste Missbilligung der Taten ein, zielt aber auf die Umkehr des Täters, seine Besserung und die Wiedereingliederung in die Gemeinschaft.

7. Zusammenfassend: Es ist, scheint mir, wesentlich, diesen Grundzug des Umgangs aller Kirchen mit Untaten bei der Bewertung des Umgangs mit den Tätern in Rechnung zu stellen – das tut das Münchener Gutachten nach meinem Eindruck zu wenig, und das wird auch in der öffentlichen Diskussion vergessen. Der Umgang der Kirche – aller Kirchen! – mit Untaten ist immer auch täterorientiert. Das liegt im Wesen des am Bußsakrament orientierten kirchlichen Strafrechts und im christlichen Umgang mit dem Täter im Allgemeinen. Er ist zur Umkehr zu rufen mit dem Ziel der Vergebung. Dabei darf es nicht um eine grundsätzliche oder Corpsgeist-bedingte Sympathie für die Täter oder um die eigennützige Wahrung der Interessen der Institution gehen. Wo dies ein Motiv der institutionellen Fehlentscheidungen im Umgang mit den Verbrechen war, ist schärfste Kritik angebracht. Aber es ist in Rechnung zu stellen, dass der kirchliche Umgang mit den Verbrechen immer auch Seelsorge ist, und zwar im besten Fall! In der katholischen Kirche fügt sich der Umgang mit dem Täter ein in das Leitmodell des Bußverfahrens, das auf die Umkehr, die Vergebung und auf die Wiederaufnahme in die Menschengemeinschaft abzielt.

Darauf hinzuweisen ist in der Diskussion um die Missbrauchsfälle anstößig, gewiss, aber jemand muss es tun. Die Opfer wurden vernachlässigt, keine Frage, und das muss sich ändern. In der seelsorgerlichen Betreuung wurde zudem der Schutz möglicher künftiger Opfer nicht hinreichend in Rechnung gestellt – ganz eindeutig. Aber unbeschadet dessen darf die Kirche das seelsorgerliche, auf Besserung zielende Interesse am Täter nicht aufgeben und auch nicht vernachlässigen – auch und gerade dann, wenn die Täter eine nach allgemeinem Urteil unvergebbare Tat begangen haben. Denn das Wort der Vergebung Gottes und die Botschaft vom Wert jedes – jedes! – Menschenlebens ist das Eigentliche, was sie zu vermitteln und zu verkündigen hat. Und das in allem Ernst geltend zu machen, ist in der gegenwärtigen Auseinandersetzung ihre zentrale Aufgabe.

Kirchliches Strafrecht allein nicht ausreichend

8. Diese Einsicht hat aber nun Implikationen und Konsequenzen, die ich im Folgenden knapp benenne – diese Feststellungen sind nicht originell, sondern unterstreichen nur einiges, was in der laufenden Diskussion und auch im aktuellen Münchener Gutachten von 2022 bereits gefordert und in der katholischen Kirche seit 2010 umgesetzt wurde.

Erstens: Das kirchliche Strafhandeln hat eine seelsorgerliche Zuordnung zum Bußsakrament. Das bedeutet aber, dass das in der beschriebenen Weise auch am Täter orientierte kirchliche Strafrecht allein für einen angemessenen Umgang gerade mit Missbrauchsfällen nicht hinreichend ist. Daher muss in der Tat der strafrechtliche Umgang mit Verbrechen, die im Raum der Kirche begangen werden, grundsätzlich in die Hand anderer, am besten der staatlichen Institutionen gelegt werden. Das läuft auf eine Trennung der strafrechtlichen und der seelsorgerlichen Behandlung dieser Fälle hinaus. Das bedeutet dann aber auch, dass in der Folge entsprechende staatliche Auflagen – Haftstrafen; medizinisch-psychiatrisch begründete Berufsverbote; Einschränkungen des künftigen Umgangs der Täter mit gefährdeten Gruppen – auch bei einer möglichen Wiederverwendung im kirchlichen Dienst berücksichtigt werden müssen. Ihre Beachtung als außerkirchliche Auflage widerspricht dann gerade nicht der Wiederherstellung kirchlicher Gemeinschaft auf allen Ebenen.

Ganz konkret heißt das: Es sollte innerkirchlich für alle einschlägigen Straftaten eine Informationspflicht an die staatlichen Justizbehörden geben, die dem Hinweis nachgehen und ggfs. auf Anzeige der Geschädigten hin tätig werden kann. Für staatlicherseits meldepflichtige Straftaten gilt das ohnehin; man sollte das aber auch innerkirchlich als Pflicht bei Sexualdelikten mit Minderjährigen einführen. Dann wird die strafrechtliche Würdigung des Falls unabhängig gestellt von der unverzichtbaren Aufgabe der seelsorgerlichen Betreuung und Begleitung auch des Täters, die im Blick auf die Rückfallproblematik und Prävention offenbar deutlich professionalisiert werden muss.

Die Buße und ihr verheißenes Ziel

Aber die Fürsorge auch für den Täter darf die Kirche – weder die katholische noch die evangelische! – in ihrem Strafhandeln niemals aufgeben. Vielmehr muss sie dieses Anliegen auch in einer am Täter desinteressierten gesellschaftlichen Debatte festhalten. Sie muss den Ansehensverlust, den sie möglicherweise dafür erleidet, hinnehmen. Denn damit nimmt sie auch für den außerkirchlichen Umgang mit Schuldig Gewordenen eine unverzichtbare Funktion wahr: sie weist darauf hin, dass der Umgang mit der Untat auch den Täter berücksichtigen muss.

Zweitens: Die Fürsorge für die Opfer muss als eigenes Anliegen wahrgenommen und auch institutionell verankert werden. Sie darf über der seelsorgerlichen Begleitung der Täter nicht vernachlässigt werden. Es wäre auch hier zu fragen, ob dieses Anliegen der Betreuung der Opfer nicht dann besser als entscheidendes Anliegen sichtbar und ernstgenommen wird, wenn es einer eigenen institutionellen Einrichtung – etwa einem Ombudsrat – übertragen wird.

Die Kirche muss sich in der Tat sagen lassen und eingestehen, dass sie über dem unverzichtbaren Anliegen der seelsorgerlichen Begleitung der Täter die Fürsorge für die Opfer in der Vergangenheit vernachlässigt hat. Das einzugestehen und hier ernsthaft und rasch Abhilfe zu schaffen ist in der Tat ein Grundelement der Umkehr, der sich die Kirche unterzieht. Die Umkehr ist kein einmaliger Akt, sondern ein Weg – den geht die Kirche nach meinem Eindruck sehr konsequent. Und auch hier gilt: Der Weg der Buße hat ein verheißenes Ziel.

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Foto: P. Brusowski

Notger Slenczka

Notger Slenzcka, geboren 1960, ist seit 2006 Professor für Systematische Theologie (Dogmatik) an der Humboldt-Universität in Berlin.


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