Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ – so wird der 2015 verstorbene Bundeskanzler Helmut Schmidt gerne hinsichtlich der Frage nach einer Politik mit Visionen zitiert. Visionen mögen für die Politik diskutabel sein, für die Kirche sind sie es nicht. Sie sind notwendig. Kirche lebt davon, visionär den Blick in die Zukunft zu richten.
Für eine solche Ausrichtung bedarf Kirche immer wieder Anregungen – im Idealfall von Menschen, denen die Kirche am Herzen liegt und die in der „Kirche der Zukunft“ engagiert sind. Und angesichts vieler düsterer Zukunftsszenarien hinsichtlich der personellen, strukturellen und finanziellen Entwicklung bedarf Kirche zugleich positiver Zukunftsnarrative. Es ist deshalb ein glücklicher Umstand, dass 23 junge Pfarrerinnen und Pfarrer aus allen evangelischen Landeskirchen Deutschlands sowie aus den evangelischen Kirchen Österreichs und der Schweiz ihre Ideen zur „Zukunft der Kirche“ in einem umfangreichen Sammelband aufgeschrieben haben.
Diese Ideen bilden in der Summe – das sei vorweg konstatiert – keinen zusammenhängenden roten Faden. Vielmehr handelt es sich bei dem von Ferenc Herzig, Kons-tantin Sacher und Christoph Wiesinger herausgegebenen Sammelband Kirche der Zukunft – Zukunft der Kirche um eine Art Kaleidoskop unterschiedlicher Anregungen für die Kirche der Zukunft. So finden sich in den zumeist in der Ich-Form geschriebenen 23 Kurzbeiträgen sowohl Aufsätze, die auf grundsätzlich theologischer Basis argumentieren, als auch (ausschließlich) von der konkreten Praxis ausgehen. Ebenso unterschiedlich sind die in den Beiträgen reflektierten Bezugsgrößen: Einige Aufsätze sprechen ganz allgemein von Kirche, andere von der jeweiligen Landeskirche, wieder andere von Kirchengemeinden. Auch der konkrete thematische Zugriff der Beiträge – von der „Kirche im digitalen Zeitalter“ über die „Bewegte Kirche“, das „Wunschkonzert“, eine „Kirche als Kleinmarkthalle“ bis zur Kirche in Zeiten der Corona-Pandemie – differiert erheblich voneinander.
Trotz dieser Vielfalt stimmen die Autorinnen und Autoren nahezu unisono in dem Urteil überein, dass die Kirche nicht so bleiben kann, wie sie ist. Sie muss sich verändern – für einige von ihnen auch radikal. Dies ist für die Autorinnen und Autoren nicht allein aufgrund des äußeren Drucks notwendig, der sich durch die personellen und finanziellen Veränderungen ergibt, sondern vor allem deshalb, weil die Kirche anschlussfähig an den Menschen und seine Lebenswirklichkeiten bleiben beziehungsweise werden muss.
Es ist deshalb erfrischend, diese Beiträge zu lesen und Anregungen für die kirchliche Praxis und die zukünftige Ausgestaltung zu gewinnen. Naturgemäß leuchten bei der Lektüre nicht alle Ansätze, Analysen und Schlussfolgerungen in gleicher Weise ein. Doch das wird von Leser zu Leserin sicher unterschiedlich bewertet werden.
Irritierend ist bisweilen, dass die Mehrzahl der Autoren und Autorinnen relativ genau weiß, wie Kirche zu gestalten und organisieren ist. Auch wenn viele Beiträge im Modus des Wünschens argumentieren, würde ein (an)fragender Duktus gelegentlich angemessener sein als ein bestimmender.
Die Beiträge sind aber nicht allein für die kirchliche Praxis eine hilfreiche Anregung. Auch für Menschen, die sich auf ein Berufsleben in der Kirche vorbereiten oder zumindest mit dem Gedanken spielen, sich beruflich in der Kirche zu engagieren, könnten die dargebotenen Ideen hilfreich sein. Gleiches gilt für Ehrenamtliche. Denn der Sammelband zeigt, dass in der Kirche der Zukunft viel kreatives Potenzial steckt. Und das könnte für Menschen, die sich nach Veränderung sehnen, den Impuls geben: „Wer Visionen hat, sollte in die Kirche gehen.“
Gregor Bloch
Gregor Bloch ist Pfarrer und theologischer Mitarbeiter des Evangelischen Bundes Westfalen und Lippe. Er wohnt in Detmold.