Kennen Sie einen Lyrikband, der in einem Atemzug zu lesen ist? Den man am Stück inhaliert, bis die Lungenflügel den Brustkorb zu sprengen drohen, weil er sich bei aller Ruhe dringlich blättert von Seite zu Seite? Michael Krügers jüngstes episch-poetisches Tagebuch ist so ein unglaublicher.
Gleich zu Beginn der fünfzig lyrischen Einträge, denen zwanzig Nachträge unter der Rubrik „Was sonst noch geschah“ folgen, resümiert er „Meine Erinnerung ist ein Scherbenhaufen, / der sich nicht mehr in Form bringen lässt. / Ich picke einige Stücke heraus, halte sie / gegen das Fenster, ans Licht, und staune / über den Reichtum, den Glanz, die Pracht.“ Und er weiß: „Ich muss leise sprechen, damit die Fliegen / mich hören.“
Was folgt, kulminiert in zwei Fragen, nämlich „Wie lange dauert Ungeduld?“ und „Wie viel Unendlichkeit / kann man in einem Leben erzeugen?“ Dazwischen weiten sich das Staunen, die Absage an alle Welterklärer und Welterklärungen und vor allem die Einübung in „Weltanschauung / und langes Ausatmen, noch einmal, noch einmal, / noch einmal und immer so weiter und fort“, das in Zwiesprache mit unbekümmerten Gartenvögeln, seufzenden Kühen, einzelgängerischen Feldhasen und stumm begleitenden Hunden ein Erkenntnis-Duett unterfüttert: „Wissen hält nicht länger als Fisch“ (William Whitehead) und „Verstehen kann ich nichts mehr“.
Dazu gehört auch das lakonisch abgesonderte Unverständnis darüber „Was Gott so alles erlaubt, / wenn der Tag lang ist und das falsche Verstehen schneller / sich ausbreitet als Zustimmung, Ruhe und Trost.“
Michael Krügers in nicht freiwillig auferlegter Einsamkeit entstandener Band ist eine ohne Scheu und Scheuklappen, dabei im Geiste des alten Dubslav von Stechlin unverhärtet in die Zeit blickende, assoziationsreiche, ungemein kluge Welt- und Selbstvergewisserung, „unhörbar für die großen / Ohren der Überwachung, die an den Sendemasten wachsen“, aber im tiefen Einvernehmen mit der Geschichte des Windes und dem Denken ohne festen Wohnsitz.
Alle diese fließend verdichteten Tagebucheinträge sind freigegebene Momente geronnener Erkenntnis, die keiner Wiederholung, keines weiteren Nachdrucks oder einer Rechtfertigung bedürfen. „Man kann sein Leben nicht verstehen. / Wie mich die andern sehen sollen, das ist vorbei.“
Er folgt Hölderlin ins Offene. Er hört. Dafür „lege ich mich auf die Erde, / werde klein wie der Däumling, lege mich zu Ranunkel / und Glockenblume und warte ohne jede Eile darauf, / dass Gott seine Stunde nutzt oder eben nicht. / Auf jeden Fall, will ich damit sagen, bin ich vorbereitet.“
Kaum zwanzig Kilometer entfernt von Michael Krüger geboren, gleichwohl zwanzig Jahre jünger, hat zeitgleich auch Lutz Seiler einen neuen Gedichtband vorgelegt. Sieht Michael Krüger, der im Haus der vier Lebensalter das letzte Zimmer schon betreten hat, dem Hier und Jetzt in die Augen, öffnet Lutz Seiler, nach Kindheit und Jugend in der Reife seiner Zeit angekommen, noch einmal lange schon durchschrittene Türen und sieht rückwärts: in die Kindheit, zu den Ahnen, zu anderen Gerüchen und Geschmäckern, vergessen Geglaubtem, zeitweise Weggelegtem zwischen Werkkittel und Kragenbinde. Alles Seilersche Entstauben von Raum und Zeit ist auch stilistisch wie eine Rückkehr in einen urvertrauten Klang, den seit „pech & blende“ bronze tönenden Seiler-Klang, der noch im Schweben sein Standbein so sicher zwischen den Kiefern wurzeln weiß, dass er spielend die Wörter-Drachen der Erinnerung aufsteigen lassen kann, „wie / die unverbrauchte glut der tage, die / ungelösten fragen.“ Es ist ein poetisch ebenso waches und gänzlich unangestrengt strömendes Gegenüber zu Michael Krüger, aufgefächert in sieben Kapitel mit je sieben bis zehn Gedichten, das sich seitenweise wie brüderlich gebärdet.
Klaus-Martin Bresgott
Klaus-Martin Bresgott ist Germanist, Kunsthistoriker und Musiker. Er lebt und arbeitet in Berlin.