„Nichts ist verloren“

José Diquinssone
Foto: Rainer Kwiotek

Gebärdensprache und Bücher in Blindenschrift sollten allen Menschen zugänglich sein, sagt José Diquinssone. In Mosambik kämpft er für die Inklusion von Behinderten.

Der elfjährige Junge hat hohes Fieber und rote Punkte überall am Körper. Eine Woche lang quält er sich. Für die Fahrt in das sechzig Kilometer entfernte Krankenhaus fehlt es den bettelarmen Eltern an Geld. Sie müssen es sich erst bei Nachbarn zusammenstottern.

Als sie in der Klinik ankommen, ist es zu spät: José Diquinssone ist unheilbar erblindet. In Entwicklungsländern wie Mosambik, wo viele Kinder unter Vitamin-A-Mangel leiden, ist das eine mögliche Folge einer Masern-Infektion.Seine Mutter weint tagelang. Dass ihr Sohn plötzlich blind ist, ist für sie, als sei er gestorben. Sie weiß, wie schwer er es haben wird. Blinde und Menschen mit Behinderung werden in Mosambik häufig in ihren Gemeinden gemieden – im tiefen Glauben, dass auf ihnen ein böser Fluch lastet.

Mosambik
Foto: Rainer Kwiotek
 

In dem Land, wo etwa die Hälfte der rund dreißig Millionen Menschen unter der Armutsgrenze leben und 45 Prozent der Erwachsenen weder lesen noch schreiben können, sind behinderte Menschen besonders benachteiligt. Ihre Chancen, die Schule zu besuchen oder einen Beruf auszuüben, stehen schlecht. Überforderte Lehrer schicken sie nach Hause, später sind sie viermal häufiger arbeitslos als der Rest der Bevölkerung.

Mosambik
Foto: Rainer Kwiotek

 

Doch das Krankenhaus wird für die Eltern auch zum Ort des Neuanfangs. Eine Krankenschwester und Nonne macht ihnen Mut: „Nichts ist verloren! Ihr müsst an Euren Sohn glauben, so wie Gott es tut.“Bis heute hört José Diquinssone ihre Stimme. Warm und freundlich – und doch mit keinem Platz zur Widerrede. Fast fünfzig Jahre ist das nun her und Diquinssone ein geachteter Mann in seiner Stadt Beira, über tausend Kilometer nördlich der Hauptstadt Maputo. „Dr. Diquinssone“ nennen sie ihn hier, weil er in Portugal studiert hat. Und sich danach für Tausende Behinderte und Blinde eingesetzt hat: als Lehrer, Dozent und Beamter im Ministerium.

Mosambik
Foto: Rainer Kwiotek

 

José Diquinssone empfängt in seinem kühlen Gartenhäuschen am Stadtrand. Er sitzt auf einem Holzstuhl, dessen verzierte Rückenlehne sich über seinem Kopf wölbt wie eine Krone. Unter seiner silbergrau umrandeten Sonnenbrille: ein offenes Lächeln. Erzählt er von seiner Geschichte, wählt er seine Worte mit Bedacht. Sucht er nach einer Formulierung, zucken seine Zehen in den schwarzen Flipflops. Er hält sie so lange in der Luft, bis ihm treffende Worte einfallen.

Mosambik
Foto: Rainer Kwiotek

 

Die Nonne erzählte seinen Eltern von einer Privatschule für Blinde in Beira, bis heute die einzige in Mosambik. Dort lernt er Braille, findet neue Freunde. Die Geborgenheit endet für José Diquinssone nach der vierten Klasse, der letzten Klasse in der Blindenschule. Er muss an eine staatliche Schule wechseln. Keiner seiner Lehrer hatte je zuvor ein sehbehindertes Kind unterrichtet. Der Junge fürchtet, ausgeschlossen zu werden. Doch die anderen Kinder lesen ihm aus Arbeitsheften vor, die Lehrer erzählen ihm, was an der Tafel steht. Seine Noten sind gut. So gut, dass es zum Studieren reicht. Doch keine Universität möchte ihn aufnehmen. Ein Blinder? Studieren? Man wisse nicht, wie das gehen soll. Schließlich bewirbt sich José Diquinssone um ein Stipendium für ein Studium in Portugal.

Bildung als Sprungbrett

Während in seiner Heimat der insgesamt 16 Jahre andauernde Bürgerkrieg tobt, zieht Diquinssone nach Lissabon, studiert Soziologie und Afrikanistik. Auch in Portugal ist Studieren für einen Blinden alles andere als leicht. José Diquinssone bezahlt Assistenten, lässt sich von ihnen die wichtigsten Texte und Notizen auf einem Recorder aufnehmen – und besteht die Prüfungen.Diquinssone klappt das Glas seiner Armbanduhr hoch, ertastet die Uhrzeit, über ihm surrt der Ventilator an der Gartenhausdecke. Der 57-Jährige wirkt zufrieden mit sich und der Welt, ein Mann, der in sich ruht – ganz anders als der Junge und Student, der sich vor dem Versagen fürchtete. Sein Erfolg hat ihm Selbstvertrauen gegeben. „Bildung war mein Sprungbrett“, sagt er.

Mosambik
Foto: Rainer Kwiotek
 

Nach dem Studium kehrt er in sein Land zurück. Zunächst arbeitet er für seine alte Blindenschule, im Jahr 2001 wird er Präsident der Blindenvereinigung Mosambiks. Er organisiert Schulungen in Blindenschrift für die Lehrkräfte der Pädagogischen Universität in Beira, unterrichtet als Gastdozent an zahlreichen Universitäten und erreicht, dass sich immer mehr von ihnen gegenüber blinden Studentinnen und Studenten öffnen.
Und er steigt in die Politik ein. Zehn Jahre lang leitet er das Ministerium für Frauen, Kinder und Soziales der Provinz Sofala, die etwa so groß wie Bayern ist und deren Hauptstadt Beira ist. In dieser Zeit arbeitet er eng mit Hilfsorganisationen zusammen, etwa „Licht für die Welt“ aus Österreich, aber auch lokalen Initiativen. Deren Sozialarbeiterinnern und -arbeiter suchen in Gemeinden nach Menschen mit Einschränkungen, fördern sie und ermöglichen den Zugang zu Förderunterricht, Schul- oder Erwachsenenbildung. Mehr als 5 300 Menschen, darunter rund 1 500 Kinder unter 18 Jahren, wurden bisher unterstützt. Eines von ihnen ist Cremildo Cosmo, der eine Grundschule in Beira besucht. Wenn der Siebenjährige im Unterricht singt und wie die anderen in die Hände klatschen will, gibt er seinem Oberkörper einen Ruck, schmeißt die Schultern nach vorn, seine Handflächen streifen sich nur. Seine Arme sind zu kurz, seine Hände in einem spitzen Winkel verwachsen, beide Daumen fehlen; Cremildos rechtes Ohr ist verformt. Er kam so zur Welt – und es schien, als wäre er zu einem Leben in Isolation verdammt. Dass er nun gemeinsam mit anderen Kindern lernt und fröhlich berufliche Zukunftspläne schmiedet, verdankt er dem Engagement von José Diquinssone.

Mosambik
Foto: Rainer Kwiotek

 

Wenn dieser gefragt wird, warum es in Beira so viel mehr Behinderte gäbe als anderswo in Mosambik, lächelt er. Und sagt: „Menschen mit Behinderung fühlen sich bei uns wohl.“ Sie kommen sogar aus anderen Provinzen, auch an die zwei Berufsbildungszentren der Organisation „Young Africa“.

Mosambik
Foto: Rainer Kwiotek

 

Dort können junge Menschen mit und ohne Behinderung ein Handwerk lernen: Tischlern, Schneidern, Kochen oder Backen. Auszubildende, die im Rollstuhl sitzen, gelangen über Rampen in jedes Gebäude, Unterrichtsmaterialien gibt es in Braille-Schrift, mehrmals im Jahr werden die Ausbilderinnen und Ausbilder in Gebärdensprache geschult. In der Schlosserei arbeitet ein gehörloser Absolvent als Hilfslehrer und motiviert andere Gehörlose. Auch außerhalb des Zentrums fanden etliche Absolventen einen Job als Handwerker oder Schneider. Und in mehreren Restaurants in der Stadt arbeiten gehörlose Köchinnen.

Mosambik
Foto: Rainer Kwiotek

 Im vergangenen März räumte José Diquinssone seinen Posten im Ministerium. Die zehn Jahre als Politiker waren für ihn Erfüllung und Enttäuschung zugleich. Oft musste er sich den Entscheidungen der Regierung in Maputo beugen, konnte viele Ideen nicht umsetzen. „Es fehlte an Budget und dem Willen zur Veränderung“, sagt er. Es reiche nicht aus, Menschen mit Behinderungen ins Schulsystem zu integrieren. Man müsse sie auch mit adäquaten Hilfsmitteln wie Brailledruckern oder Computersoftware ausstatten. „Doch viele in diesem Land denken noch immer, dass Investitionen in behinderte Menschen verlorenes Geld seien“, sagt er – und macht aus seiner Wut keinen Hehl. Er will sich daher weiter für Aufklärung einsetzen und vor allem jungen Menschen klarmachen, welche Chancen sie haben, wenn sie sich bemerkbar machen und auf ihr Recht auf Förderung pochen.

José Diquinsson
Foto: Rainer Kwiotek
 

An einem Mittwochabend sitzt José Diquinssone in einem kleinen Radiostudio im Zentrum Beiras neben dem Moderator von „Rádio Moçambique“, einem seiner ehemaligen Studenten. „Seja bem-vindo a la Hora do cidadão“ – Seid willkommen zur Bürgerstunde, ruft der Moderator ins Mikrofon. Jede Woche sind die beiden auf Sendung, Menschen im ganzen Land hören ihnen zu. Für eine halbe Stunde sprechen sie über das Zusammenleben in Städten und wie es in Afrika um die Menschenrechte steht. „Vergangene Woche ging es um das Schicksal eines behinderten Mädchens in der Nachbarprovinz“, erklärt Diquinssone. Die Eltern seien überfordert gewesen.

Mosambik
Foto: Rainer Kwiotek

 

Ohne Unterstützung der Regierung hätten sie keinen anderen Ausweg gesehen, als ihre Tochter zu töten. „Das darf nicht passieren!“, sagt Diquinssone. „Wir dürfen nicht schweigen.“

 

Online Abonnement

Sie erhalten Zugang zur gesamten Website und zur kompletten Monatsausgabe als Web-App.

64,80 €

jährlich

Monatlich kündbar.

Einzelartikel

Sie erhalten Lesezugriff für diesen Artikel.

2,00 €

einmalig

Kein Abo.

Haben Sie bereits ein Online- oder Print-Abo?
* Ihre Kundennummer finden Sie auf Ihrer Rechnung. Ein einmaliges Freischalten reicht aus; Sie erhalten damit zukünftig automatisch Zugang zu allen Artikeln.

Ihre Meinung


Weitere Beiträge zu "Gesellschaft"