Ganz neue Oikumene

Skizzen einer Theologie für die „Große Transformation“
„Spirituelle Ressourcen aus ganz verschiedenen Quellen“: Protest der Red Rebells bei der Klimakonferenz in Paris.
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„Spirituelle Ressourcen aus ganz verschiedenen Quellen“: Protest der Red Rebells bei der Klimakonferenz in Paris.

Welche Theologie nützt dem erforderlichen radikalen Umbau unseres zerstörerischen  Zivilisationsmodells? Dass allein die Frage bei vielen Theologen und Theologinnen auf Abwehr stößt, ist Thomas Zeitler durchaus bewusst. Doch der Nürnberger Pfarrer, der sich auch bei der radikalen Umweltschutzbewegung „Extinction Rebellion“  engagiert, ist der festen Überzeugung, dass sich die Theologie bei der Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte für den Kampf gegen die ökologischen Katastrophen nicht zurückhalten dürfe.

Brauchen wir in Zeiten des Klimawandels eine neue, eine andere Theologie? Es lohnt, diese Frage erst einmal genauer anzusehen, bevor es ans Antworten geht. Die Theologie ist ja schon lange, wenn nicht schon immer, ein pluralistisches Geschäft. Und es wäre eine unzulässige Simplifizierung, einer „alten“ Theologie, die es so monolithisch nicht gibt, in großspurigem Gestus eine wünschenswerte „neue“ gegenüberzustellen. So geht es sicher nicht. Und doch gibt es das vage Gefühl, an einer Epochenschwelle zu stehen, die an der Theologie nicht spurlos vorübergehen kann.

Da wäre zuerst die Situationsbestimmung: „In Zeiten des Klimawandels“ – das kann nur als eine stellvertretende Richtungsanzeige verstanden werden. Der Klimawandel ist nur eine der planetaren Gefährdungen, mit denen der Mensch dabei ist, seine Lebensgrundlagen und die anderer Arten dauerhaft und lebensbedrohlich zu zerstören. Diese Situation fängt auch der neue Epochenbegriff des „Anthropozäns“ nicht ein, der ja nur beschreibt, dass die Veränderungen und Hinterlassenschaften unserer Zivilisation dauerhafte Spuren auf dem Planeten erzeugen werden, jedoch nicht welche. Er benennt nicht die „Katastrophendimension“, in der wir uns befinden, die akute Selbstgefährdung durch die Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts, auf die zu reagieren die eigentliche epochale Herausforderung unserer Generation darstellt. Wir befinden uns also auf dem Weg der Auslöschung von Leben in bisher nicht dagewesenem Maße (im Englischen: Extinction) und der Frage nach einer adäquaten Reaktion darauf.

Eine dieser Reaktionen könnte heißen: abwarten. Vielleicht schafft die Erde ja von selbst irgendwann ein neues Gleichgewicht im Ökosystem, eine ausreichende Nische, um das Überleben zu sichern. Oder die Reaktion könnte heißen: technische Innovation vorantreiben. Mit allen Kräften die „Wunderwaffen“ entwickeln, die uns durch Geo-Engineering die Kontrolle über die aus dem Ruder laufenden Erdsysteme wiedergewinnen lassen. Oder die Reaktion könnte bewusste Vorbereitung auf den unabwendbaren Crash bedeuten: Dämme bauen gegen steigende Fluten und die zu erwartenden Ströme von Klimamigrant_innen, die in die immer kleiner werdenden Lebensräume drängen werden, die nicht verwüstet, verbrannt, überflutet und noch halbwegs landwirtschaftlich zu bewirtschaften sind. Alle diese Szenarien würden andere Theologien hervorbringen.

Wissenschaftsignorante Beruhigungs-Theologien, technikverliebte Kreativitäts-Theologien, chauvinistische Survival-Theologien. Die wird es geben und gibt es in Vorgriff und Erwartung schon jetzt. Dann wird es aber auch Menschen geben, die versuchen, die unheilvolle Entwicklung aktiv aufzuhalten oder, wenn sie schon nicht zu stoppen sind, die Veränderungen auf ein Minimum zu begrenzen durch ein Ziehen der Notbremse, ein Aufbegehren gegen die antreibenden Kräfte, eine radikale Umkehr im Zivilisationsmodell. Die einen Aufstand, eine Rebellion, als den einzig sinnvollen und erfolgversprechenden Weg sehen. Zu diesen Menschen gehöre ich. Und nur aus dieser Per-s­pektive kann ich die Frage nach einer angemessenen Theologie stellen. Und diese Frage lässt sich nun auch genauer stellen als zu Beginn:

Welche Theologie nützt (ja: nützt! hilft! dient!) dem erforderlichen radikalen Umbau unseres zerstörerischen Zivilisationsmodells aus fossiler Energieverbrennung und Lebensraumvernichtung und stärkt die Akteure, die die Zerstörung stoppen und ein alternatives, überlebensfähiges Modell an seine Stelle setzen wollen? Mir ist klar, dass eine solche Verzweckung oder Indienstnahme von Theologie sofort auf Abwehr stoßen wird, gerade bei uns in Deutschland, wo die historische Erfahrung rät, sich nicht an ideologischen Mobilisierungen zu beteiligen, sondern einen Standpunkt autonomer Distanz und rationaler Kritik zu verteidigen.

Aber um noch einmal zu dramatisieren und zuzuspitzen: Wir haben – ganz unideologisch und basiert auf wissenschaftlichen Modellbildungen – vielleicht noch ein Zeitfenster von zehn Jahren zur Umsteuerung, wenn die Chance zur Vermeidung der Kipppunkte im Ökosystem der Erde gewahrt bleiben soll. Es wird eine Mobilisierung und Konzentration aller gesellschaftlichen Kräfte – weltweit – dazu nötig sein, die wir uns kaum vorstellen können und die oft mit der Mobilisierungsanstrengung der Anti-Hitler-Koalition zu Beginn des Zweiten Weltkriegs verglichen wird. Damit diese Priorisierung gelingt, werden Kirche und die sie steuernd begleitende theologische Reflexion ihren Beitrag leisten müssen, wenn sie sich nicht die Schuld schwerwiegender Unterlassung oder gar aktiver Behinderung auf sich laden wollen.

Und nein, das Benennen der heraufziehenden Katastrophe ist noch nicht Teil einer spezifischen apokalyptischen Untergangs-Theologie, sondern die nüchterne Situationsanalyse. Wie wir diese realistische Zukunftsperspektive umsetzen in erklärende Weltbilder, handlungsverändernde Ethiken und emotionale Bewältigungsstrategien, da erst sind Religion und Theologie mit ihrem Potenzial an kultureller Gestaltung gefordert. Und mit ihrer Wahrheit, wenn sie sich denn überzeugend erschließt. Gehen Sie also mit mir auf den Standpunkt und in die „Innenwelt“ der ökologischen zivilgesellschaftlichen Widerstands- und Umkehrbewegungen. Ihre Erfahrungen und Erwartungen definieren die Anknüpfungspunkte, an die eine christliche Theologie ihre Gesprächsangebote zu machen hat. Wo geboten, natürlich auch als Kritik und Widerspruch! Und die nun zu benennenden Themen enthalten noch längst keine Antworten, sondern sind Einladungen zum gemeinsamen Suchen von Ressourcen unserer Tradition, die wir auf die gegenwärtige Lage hin kreativ und hoffentlich wirksam weiterentwickeln werden.

Ich gehe davon aus, dass wir mit unserer positiven Grundeinstellung zur Schöpfung, die für alle Kreatur lebens- und erhaltenswert ist, im Konsens mit den meisten Aktivist_innen sind. Für ein Jammertal, aus dem wir heraus erlöst werden wollten, bräuchte sich niemand ins Zeug legen. Unterschiede mag es bei der Frage geben, ob die Evolution eher in einem Kooperations- und Gleichgewichtsmodus gedacht wird (wie in der sich mehr und mehr verbreitenden Gaia-Hypothese) oder einem darwinistischen Konkurrenzmodell, das dann eher zu einer Kontroll- und Einhegungsrolle des Menschen hin orientiert ist. Diese Unterscheidung ist durchaus von Bedeutung für die Entwürfe eines künftigen Welt- und Naturverhältnisses. Aber weniger für den akuten Handlungsbedarf. Die „Unordnung“, die uns die Probleme verschafft, fußt ja allemal in der menschlichen Freiheit, die wir nicht in weiser Selbstbegrenzung zu gebrauchen wissen. Und damit sind Vernichtung wie Rettung als menschliche Möglichkeiten anzusehen und nicht als Deutungen außerweltlichen göttlichen Eingreifens.

Die „ökologische Sündenlehre“ wird somit zur Schaltstelle für die Frage, mit welchen Gegenmaßnahmen die Rückkehr zu einem Zustand aus Wohl und Heil (im Rahmen der schöpfungsgegebenen Begrenzungen) möglich ist. Individuell-anthropologische Faktoren (wie die Gier als mangelnde Konsumkontrolle oder die verinnerlichten patriarchalen und kolonialistischen Kontroll- und Unterdrückungsformen) und systemisch-kollektive Fehlentwicklungen (wie das von fossiler Energie getriebene Industriesystem oder der Wachstumszwang durch die Kapitalvermehrungslogik unseres Wirtschaftssystems) müssen in ihrer Verschränkung mit individueller und struktureller „Sünde“ genau analysiert werden. Denn nur an eine Analyse der „Logik der Zerstörung“ kann eine „Logik der Rettung“ (Rudolf Bahro) ansetzen. Theologisch herausfordernd dürfte es sein, die verschiedenen Formen der „Entfremdungsformen“, nicht nur von Gott und Mitmensch, sondern auch von der Einbindung in die Naturzusammenhänge, als wirkliche Trennung vom Heil zu verstehen, das untrennbar mit dem „guten Leben in Fülle und Solidarität“, wie es in den Konzepten des Schalom und des Reiches Gottes beschrieben ist, zusammenhängt.

Kosmischer Christus

Daraus folgt auch der Anspruch an eine präsentische und diesseitige Soteriologie. Erlösung kann in dieser Epoche der Gefahr nur als wirksame Befreiung von den Zerstörungs- und Todesmächten verstanden werden, wenn sie nicht zu einer ethischen Vergleichgültigung per erhofftem Gnadenfreispruch im Jüngsten Gericht werden soll. Bei der Frage, welche Umsteuerungs- und Selbstveränderungspotenziale den Menschen in ihren Blindheiten und Trägheiten und Abhängigkeiten zuzutrauen sind, darf dann tatsächlich die Skepsis angemeldet werden, ob das als eigene immanente Leistung aus dem eigenen freien Willensentschluss möglich ist. Umso wichtiger, ja eigentlich die entscheidende Frage an einen christlichen Beitrag zur nötigen Umkehr, ist es, dem Christus als heilender und rettender Macht innerweltlich einen klaren Platz zuzuweisen.

Biblisch besitzen wir ja die lange vernachlässigten Modelle eines kosmischen Christus, der nicht nur den ökologischen Zusammenhang im Kern alles Geschaffenen repräsentiert, sondern über die paulinische Leib-Christi-Mystik zur entscheidenden transformatorischen Kraft in der Umgestaltung des Menschen vom alten zum neuen Adam wird und zum Sieger über die „Mächte und Gewalten“, die in den strukturell und institutionell verselbständigten Zerstörungsdynamiken anzutreffen sind. Sollte es uns gelingen, diesen „Christusimpuls“ (Joseph Beuys) zur Freisetzung einer transformatorischen Kreativität auf individueller wie kollektiver Ebene so zu erschließen, dass er auch für nicht konfessionell-christlich bekennende Menschen erfahrbar und aneignungsfähig ist, wäre damit der mobilisierende und stärkende Beitrag zur „Großen Wende“ aus christlicher Tradition geleistet, in einer wirkliche Hoffnung stiftenden Praxis von Kreuz und Auferstehung. Allerdings braucht es da sicher noch ein großes Stück Arbeit, Mythos, Ethos und vermittelnden Kultus wirklich in gelebte Realität zu überführen, sei es innerhalb oder außerhalb der verfassten Kirchen – christliche Theologie als entschiedene Widerstands- und Transformationschristologie.

Mit Blick auf den dritten Glaubensartikel, den Heiligen Geist, geht es dann um das Leben in den bestehenden sozialen Bewegungen, wo die Dynamiken des Geistes längst am Werk sind und durch eine theologische Klärung in der Unterscheidung der Geister noch einmal besser fokussiert werden können: die Prozesse von Vergemeinschaftung in den Aktionen oder den Transformationsprojekten; das Bewusstsein und die Sensibilität für Resilienz gegen Verzweiflung und Burnout als Ermutigungsgeschehen; die Klugheit eines sachgemäßen, wirksamen und strategisch erfolgreichen Planens; und die Wiederherstellung der solidarischen Verbundenheit, ja, der Liebe zu Mensch und Natur, im Nahen wie im Fernen.

Dies konnte nur eine sehr knappe Andeutung vom Beitrag des Christlichen für eine Widerstands- und Transformationsbewegung sein. Für den Prozess einer Ausarbeitung kann ich allerdings nur empfehlen, nicht im isolierten akademischen Diskurs zu verbleiben, sondern in das Gespräch und in die Begegnung in den Kämpfen und in den Alternativprojekten zu gehen. Denn dort formiert sich eine ganz neue Oikumene auch unter spirituellen Akteuren, in der Menschen mit gleichen Zielen zusammenfinden, die aber ihre spirituellen Ressourcen aus ganz verschiedenen Quellen schöpfen, wie einem neuen Paganismus oder buddhistisch inspirierter Tiefenökologie oder indigenen Spiritualitäten. Es gibt bereits Orte, an denen spirituelle Fragestellungen in einem interdisziplinären Zusammenhang unter naturwissenschaftlichen, ökonomischen, ökologischen und auch künstlerischen Perspektiven behandelt werden. Leider sind es nicht unsere Akademien, an denen das stattfindet, sondern Orte wie das eher dem New-Age-Denken verpflichtete Schumacher College in Dartington in Großbritannien, wo auf faszinierende Weise eine neue Generation von Verantwortungsträger_innen ausgebildet wird, die diese Dimensionen zum Wohl und Heil unserer Zukunft zusammenbringt. Hier wird theologisch-dogmatische Rechthaberei wenig Resonanz erzeugen. Umso mehr aber ein glaubwürdiger Beitrag zur Dynamik der Befreiung und Erneuerung, der von einer Liebe und Hoffnung getragen wird, die nicht nur behauptet, sondern aus der eigenen Quelle, dem gegenwärtigen Christus, gelebt wird. Und wenn diese Dynamik nicht in den nächsten zehn Jahren die Wende schafft, dann ist immer noch genug Zeit, die jenseitsorientierten Trost-Theologien zu aktivieren, die uns in diesen Tagen keine Hilfe sein können. 

 

Hinweis:

In der kommenden Druckausgabe (zz 3/2022) wird Ralf Frisch auf den Text von Thomas Zeitler  reagieren. Zur Weiterführung der Debatte finden sie auf www.zeitzeichen.net eine kritische Beurteilung aktueller Schöpfungstheologie durch den Bochumer Systematiker Günter Thomas in drei Teilen. Auf seinen Text reagierten Jan Peter Grevel, Ralf Frisch, Ulrich Körtner, Wolfgang Schürger, Jörg Herrmann und Peter Scherle. Alle Beiträge sind in der Rubrik „z(w)eitzeichen“ frei zugänglich.

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Thomas Zeitler

Thomas Zeitler ist Kulturpfarrer an der Egidienkirche in Nürnberg. Er hat 2001 den Nürnberger Queergottesdienst mitbegründet und engagiert sich im lokalen Bündnis gegen Trans- und Homophobie.


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