Politik an der Basis

Eine Reaktion auf Ellen Ueberschär
Foto: privat

Die Online-Kolumnen an diesem Ort laufen ja unter dem hübschen Wortspiel „z(w)eitzeichen“. Das mit der 2 nehme ich an dieser Stelle einmal wörtlich: Hier also ein paar Gedanken zu Ellen Ueberschärs Artikel über Kirche und Staat „Staatsfern, aber politiknah“ in der aktuellen Printausgabe der zeitzeichen (und hier online). Mit dem Artikel geht es mir wie mit so vielen Texten und Dokumenten, die aus dem Dunstkreis oder direkt aus den „Herzkammern“ der evangelischen Kirchen kommen. Ich bin geneigt zuzustimmen, skandalös ist der Inhalt sowieso nicht – aber irgendwas hält mich zurück.

Ueberschär war bis 2017 Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages. Bis März 2022 ist sie noch Co-Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, der parteinahen Stiftung der Grünen. Man darf vermuten, dass sie auch im Anschluss am Schnittpunkt von Zivilgesellschaft, Politik und Kirche weiterwirken wird. Doch wird, wer in ihrem Artikel eine grüne Agenda für die Kirchen während der angebrochenen Ampel-Koalition sucht, enttäuscht werden.

Und zwar nicht, weil Ueberschärs Gedanken fürchterlich christdemokratisch wären, sondern weil sie trotz aller richtigen Hinweise auf die Pluralisierung, die für die Kirchen nicht nur eine äußere, sondern eben auch innere Herausforderung darstellt, mit manchem Zungenschlag bewusst oder unbewusst an Deutungen festhält, die gerade eine jüngere Generation von Christ:innen wird problematisieren wollen.

Die interessiert sich eher weniger für Ären und trauert (jedenfalls in meinem Dunstkreis) vielleicht Angela Merkel hinterher, aber nicht der christdemokratischen Dominanz – insbesondere in gesellschaftspolitischen Fragen. Man kann nämlich im sozial-grün-liberalen Regierungsantritt auch eine viel größere Chance als ein Problem erblicken. Ueberschär bleibt mir da zu indifferent. Oder genauer: zu sehr der gängigen Kirchenpolitik verhaftet.

Christlich ist nicht automatisch das, wo christlich groß draufsteht

Man muss sich dem Lobgesang auf manche (insbesondere grüne) Akteur:innen nicht anschließen, um zu sehen, dass die Kirchen auf vielen Politikfeldern mit der Ampel besser können müssten als mit der Vorgängerregierung. Ja, dass zentrale politische Anliegen der beiden großen Kirchen überhaupt nicht mit der gegenwärtigen Christdemokratie anzupacken sind, sondern nur gegen sie. Von Lippenbekenntnissen zur christlichen Prägung des Landes, wie sie für christdemokratisch mitverfasste Koalitionsverträge üblich sind, darf man sich nicht täuschen lassen.

Statt solchen Traditionsformeln hätte ich gerne eine Politik, die christlichen Zielen verpflichtet ist. Von mir aus kann die dann auch ganz ohne rhetorische Bezüge auf Kirche und christliche Tradition auskommen. Auf den Gebieten Klimaschutz sowie Flucht und Migration ist das evident. Wenn man sich an die jüngsten kirchlichen Verlautbarungen hierzu gebunden weiß oder sie zumindest als bedeutende Inspirationsquelle künftigen kirchlichen Handelns und Lobbyierens anerkennt, ergibt sich nicht nur eine beeindruckende inhaltliche Überschneidung mit den Ampelkoalitionären, sondern auch die Verpflichtung jenen besonders genau auf die Finger zu schauen.

Doch auch bei Themen, die von Ueberschär als Konfliktherde mit der neuen Regierung und ihrer Mehrheit im Deutschen Bundestag benannt werden, stellt sich die Lage nicht so düster dar, wie sie insbesondere von konservativen Akteur:innen gemalt wird. Ueberschär behauptet zum Beispiel, im Streit um die Sterbehilfe wären diejenigen unterlegen, „deren Argumentation eine erkennbar christliche Prägung aufwies“. Das ist doppelt schief.

Freiheit in Geschöpflichkeit angelegt

Erstens muss man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2020, die die Neuregelung des assistierten Suizids von 2015 für nichtig erklärte, nicht als Niederlage auffassen, nur weil das Gericht sehr viel Gewicht auf die Autonomie des Individuums gelegt hat. Ueberschär schreibt, gerade die Betonung der „bedingungslosen Autonomie des Individuums enthält auch eine Absage an christliche Vorstellungen von Sozialität und Bindung“. Das mag sein, aber auch die Freiheit des Menschen ist in seiner Geschöpflichkeit angelegt. Man darf sich fragen, was das überhaupt für eine Freiheit eines Christenmenschen in der Sozialität sein soll, wenn sie nicht freiwillig gesucht oder akzeptiert, sondern aufgezwungen wird.

Zweitens ist es schon arg verkürzend von Ueberschär, liberaleren Positionen zur Sterbehilfe „eine erkennbar christliche Prägung“ abzusprechen. Es gibt bei diesem Thema nicht die eine christliche Haltung, die eine christliche Politik. Befürworter:innen der Suizidassistenz führen zur Begründung ihrer Positionen keine weniger christlichen Argumente an als diejenigen Akteur:innen, die sich für eine – im Übrigen immer noch wahrscheinliche – restriktivere Regelung einsetzen.

Immer wieder muss ich in kirchlichen Stellungnahmen und Interviews von Führungspersonen den zur Realität im Widerspruch stehenden Satz erleiden, die Kirche mache ja keine Politik, sondern wolle diese lediglich „ermöglichen“. Wirklich? Beide großen Kirchen haben bisher ihren Einfluss in Berlin dazu genutzt, für eine restriktive Sterbehilfegesetzgebung „zu werben“. Das mag den Mehrheitsverhältnissen in den Kirchenleitungen bei diesem Thema entsprechen, aber sicher nicht der Pluralität und erstaunlichen Liberalität von Einstellungen in den Kirchen. Vor einem Jahr haben wir wenigstens einen Hauch eines offenen Streits in dieser Frage erleben können, ansonsten wird der Dissens – der zu nicht unwesentlichen Teilen auch ein Generationenkonflikt ist – gerne beschwiegen oder mit metaphernschweren Konsensformeln „beigelegt“.

Politik durch die kirchliche Brille?

Im Zentrum von Ueberschärs Tour d'Horizon steht die Frage nach der Integration von Muslimen und islamischen Religionsgemeinschaften. Getragen wird dieser Teil von einem Vorwurf gegenüber den evangelischen Kirchen, sie hätten die vom damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff 2010 endgültig auf die Tagesordnung gesetzte Pluralismusforderung nicht adäquat beantwortet. Dem kann ich viel abgewinnen. Genauso wie Ueberschärs Warnung davor, bei der Pluralismusermöglichung zu vergessen, das Eigene auch klar zu kriegen und zu kommunizieren.

Die Pluralismusfähigkeit der Kirchen ist ausbaufähig, aber ist das Thema Islam in Deutschland dafür wirklich der passende Aufhänger? Beweisen beide großen Kirchen hier nicht regelmäßig, dass sie mit der Multireligiosität der Gesellschaft Schritt halten wollen – und können? Neben dem von Ueberschär erwähnten EKD-Positionspapier zum christlich-islamischen Dialog wurde dazu in den vergangenen Jahren auch prominent in der Evangelischen Kirche im Rheinland gearbeitet, wo zudem ein gutes Drittel der Muslime in Deutschland tatsächlich Nachbarn sind. Auch das „Gemeinsame Wort“ der Kirchen in Deutschland zu Migration und Flucht vom Ende des vergangenen Jahres enthält ausführliche Passagen zur Integration.

In diesem Zusammenhang missrät Ueberschär darüber hinaus die Begründung dafür, warum es mit der Integration der Muslime hierzulande so schleppend voran geht. Dafür wären nicht allein der türkische Nationalismus der DITIB verantwortlich und der islamistische Terror, sondern auch „die vielen Zuflucht suchenden Menschen aus muslimischen Ländern“. Auch sie erschwerten, so Ueberschär, „diese Prozesse der Normalisierung und tun es bis heute“. Autsch.

„Die Kirchen ergriffen in diesen aufgewühlten Jahren selten Partei für die weitere Integration des Islam, wohl aber für die Geflüchteten“, behauptet Ueberschär, und dass sich „in ihren eigenen Reihen der islam- und fremdenfeindliche Ton“ verschärfte. Letzteres darf man zumindest anzweifeln, wenngleich die neugewonnene Lautstärke rechter Christen Ueberschär auf den ersten Blick Recht gibt. Zugleich ist aber die Gesamtgesellschaft trotz sog. „Flüchtlingskrise“ und auch trotz Corona nicht nach Rechts gekippt, sondern heute im Durschnitt liberaler und weltoffener eingestellt als zu Beginn der Regierungszeit Angela Merkels, die Ueberschär als Bezugsgröße heranzieht. Es gibt verschwindend wenig Gründe, dasselbe nicht auch für die Christen hierzulande anzunehmen, die sich in ihren politischen Überzeugungen vom Rest der Gesellschaft nur marginal abheben.

Das Ende des Integrationsparadigmas

Haben die Kirchen über der Flüchtlingshilfe die Integration vergessen? Ich glaube nicht. Viel eher sind in den vergangenen fünf bis zehn Jahren die Grenzen des gängigen Integrationsparadigmas offensichtlich geworden. Bei Ueberschär kann Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden, dem Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide noch einmal erklären, dass man sich in Deutschland sehr wohl an die „geforderten Strukturen“ anpassen könne. Das ist seit jeher das erklärte Ziel von Islamkonferenz, Bundes- und Landesregierungen und auch der Kirchen gewesen.

Dabei wird von Akteur:innen innerhalb dieser Institutionen nicht selten unzureichend wahrgenommen, dass diese Strukturen selbst fragwürdig geworden sind. Die Muslime sollen bitte „richtige“ Religionsgemeinschaften gründen, auf dass man sie als Körperschaften öffentlichen Rechts anerkennen könne. Dabei wird genau dieser Sonderstatus der Kirchen (und jüdischen Gemeinden) in den kommenden Jahren noch stärker zum Diskussionsgegenstand werden. Genau daran machen sich doch die Sorgen fest, die in den Kirchen ob der verfassungsgemäßen und längst überfälligen Ablösung der Staatsleistungen geäußert werden: „Als nächstes die Kirchensteuer!“

Doch es ist nicht allein das Religionsverfassungsrecht bei dem das Integrationsparadigma mehr hindert als förderlich ist. Ich habe keine Sorge, dass eine zukünftige Minderheitenkirche dessen Nachteile stärker begreifen wird. Noch immer aber formuliert insbesondere die evangelische Kirche ihre Interventionen staatstragend und institutionenfixiert, sich selbst als Mehrheit verstehend – auch Ueberschär weicht davon nicht ab.

Ein letztes Beispiel für diese Art Religionspolitik: Ueberschär lobt die Einrichtung des Amtes des EKD-Antisemitismusbeauftragten. Wer könnte etwas gegen dieses „richtige und im Sinne einer Öffentlichen Theologie angemessene Zeichen“ haben? Doch wo ist eigentlich die „Öffentlichkeit“ oder anders: ist außer dem „Zeichen“, einen Antisemitismusbeauftragten benannt zu haben, noch etwas Relevantes passiert? Nicht nur steht die langfristige Zukunft des Amtes durch die kirchlichen Kürzungsbemühungen dahin, man kann sich auch fragen, was eigentlich durch diesen sicher honorigen Schritt bewirkt wurde. Außerhalb der Bubble derjenigen, die das Amt ins Leben riefen, hat davon kaum jemand Notiz genommen. Erst recht nicht in den Tiefen der evangelischen Kirchen selbst. Hängt das vielleicht mit der bedauerlichen Ausstattung des Amtes zusammen?

Mehr Politik an der Basis bitte!

„Die Kirchen werden in Zukunft staatsferner werden, aber politiknah bleiben“, lautet Ueberschärs Fazit. Wenn sich das darin niederschlägt, weniger in Planstellen, abzuarbeitenden Pflichten und Verantwortlichkeiten für den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ zu denken, sage ich aus vollem Herzen: Ja!

Dafür braucht es neben den von Ueberschär vorgeschlagenen Anregungen „neue Netzwerke“, „Bildung“ und „Thinktanks beauftragen“ vor allem mehr Mut zum Politisieren. Dort wo Kirche längst Politik macht, sollte sie dazu stehen und die eigenen Positionen nicht allein durch politische Bildungs-, sondern auch Meinungsfindungsprozesse innerhalb der eigenen Reihen schärfen.

Dass der 1980 von der Evangelischen Kirche im Rheinland verabschiedete Synodalbeschluss „Zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden“ eine solch große Wirkungsgeschichte bis heute zeitigt, hängt vermutlich nicht nur damit zusammen, dass man sich – anders als heute und gerade dieser Tage – auf ein Thema zu beschränken wusste. Ganz sicher war die evangelische Kirche damals nicht „kampagnenfähiger“ als heute, wenngleich Fortschritte auf diesem Gebiet nach wie vor nötig sind. Der wesentliche Unterschied zu den vielen kleinteiligen Initiativen und Kampagnenversuchen unserer Zeit scheint mir darin zu liegen, dass die Basis nicht erst „mitgenommen“ oder „eingebunden“ werden musste, sondern die Initiative von dort ausging.

Was ich mir von den „christlichen Kirchen in der neuen deutschen Gesellschaft“, die so neu in meinen kirchenjungen Augen selbstverständlich nicht ist, wünsche: Mehr Basisbewegung statt kirchenamtliche Politikbetreuung. Hier könnte auch der von Ueberschär am Schluss noch erwähnte Kirchentag eine stärkere Rolle spielen, als ein Ort „an der Seite“ der Kirche zu sein.  

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