James Lovelock, Jahrgang 1919, ist einer der einflussreichsten Vordenker der Ökologie-Bewegung. Gemäß seiner bereits 1969 gemeinsam mit Lynn Margulis ausformulierten Gaia-Hypothese verhält sich die Erde quasi wie ein lebender Organismus. Insbesondere hinsichtlich der Sonneneinstrahlung und CO2-Konzentration gibt es einen komplexen Rückkoppelungsmechanismus zwischen Erdatmosphäre und Biosphäre. Dessen Störanfälligkeit wird derzeit als Klimawandel deutlich spürbar. In seinem einhundertsten Lebensjahr hat der britische Chemiker, Mediziner, Biophysiker und Ingenieur nunmehr eine weitere spektakuläre Hypothese vorgestellt: Vor uns liegt das Novozän – das Zeitalter der Hyperintelligenz.
Diese gänzlich neue Epoche wird über das Geschick unseres Planeten entscheiden. Nämlich, ob er weiterhin einer habitablen Zone gleicht oder zum Wüstenplaneten mutiert. Wir sind dabei indes nur noch als Geburtshelfer sogenannter Cyborgs unverzichtbar – jener neuen hyperintelligenten Art von Lebewesen, die sich durch künstliche Intelligenz (KI) auszeichnet.
Nach Lovelock stellen Leben und Erde ein sich gegenseitig beeinflussendes Ganzes unter dem Einfluss der Sonne dar. Dementsprechend gilt es, je nach Nutzungsform des Sonnenlichts nur drei geologische Epochen zu unterscheiden: die Nutzung der Sonnenenergie für das Leben selbst (Biosphäre), die Umwandlung in mechanische Arbeit (Anthropozän) sowie abschließend die Umwandlung in Information (Novozän).
Zunächst werden – primär über die Photosynthese der Pflanzen – Sonnenstrahlen geerntet, um Energie für organische Prozesse zu gewinnen. Es entsteht die Biosphäre, die diese Erde überhaupt erst bewohnbar macht. Mehr noch: Es ist sogar das Leben selbst, so Lovelock, welches die Hitze der Sonne steuert, indem die Biosphäre quasi als Wärmepumpe wirkt. Eine komplette Eliminierung des Lebens würde unseren Planeten jedenfalls unbewohnbar machen. Er würde viel zu heiß werden – etwa wie die Venus.
Der Gebrauch des Feuers stand zwar bereits an der Wiege der Menschheit, aber gespeicherte Sonnenenergie in Form von Holz oder Kohle gezielt in mechanische Leistung umzuwandeln, gelingt erst mit dem Aufkommen der Dampfmaschinen – etwa vor dreihundert Jahren. Für Lovelock ist dies der Beginn des Anthropozäns: Der Mensch erwirbt die Fähigkeit, die physische Welt im großen Stil zu verändern. Im Novozän schließlich dient Sonnenenergie dazu, Informationen zu gewinnen und zu speichern. Die in diesem Zusammenhang von uns erschaffene KI wird sich eines Tages selbst reproduzieren. Sie wird zur Krone der Selbstschöpfung. „Cyborgs werden Cyborgs entwerfen“, so Lovelock. Aber werden sie nicht auch Unterwerfung einfordern?
Cyborgs werden uns zweifellos beherrschen, aber sich auch mit uns verbünden können. Denn auch eine lithiumbasierte Lebensform, so Lovelock, hat ein vitales Interesse daran, die Erderwärmung zu begrenzen. Eine Hyperintelligenz, die diesen Namen verdient, wird sich uns daher anschließen, um die Erde kühl zu halten.
Lovelocks Mitarbeiter Bryan Appleyard hat in seinem Vorwort vorweggenommen, was dieses Buch zu einer faszinierenden Lektüre macht: Lovelocks Vorstellungen sind „aufregend anders“ und „erschreckend präzise“. Wer heute schon seine liebe Mühe hat, sich etwa gegen die Bevormundung durch smarte Haushalts-Technik aufzulehnen, wird Lovelocks bestechend klare Ausführungen mit einiger Verstörung lesen – wenn nicht gar mit Resignation. Sollte Leben und Wissen ganz und gar elektronisch werden? Welches Lebensgefühl verbleibt dann der letzten Generation, die zumindest noch eine analoge Kindheit hatte? Die Gnade der frühen Geburt?
Reinhard Lassek
Reinhard Lassek ist Wissenschaftsjournalist. Er lebt in Celle.