Widerständig

Populismus reflektiert

Von „Schwurblern“ über Esoteriker, Nationalisten und Querdenker bis hin zu Verschwörungstheoretikern – das Publikum des Populismus ist vielfältig und diffus. Auch Christinnen und Christen mischen sich darunter. Populistische Demagogen scheinen insbesondere ein Faible für religiöse Elemente und Argumente zu haben, wie nicht zuletzt Trump, Orban oder Protestbewegungen wie PEGIDA zeigen. Glaubensüberzeugungen werden häufig populistisch instrumentalisiert. Gleichzeitig können Religion und Kirche immunisierend gegen Populismen wirken, wenn Hoffnung statt Furcht, Liebe statt Feindschaft, universale Perspektiven statt partikularer Interessen im Zentrum der praktizierten Glaubensüberzeugungen und religiösen Gemeinschaften stehen.

In diesem Spannungsfeld bewegt sich der Sammelband Die Kirchen und der Populismus, herausgegeben von Ilona Nord und Thomas Schlag, in welchem dem ambivalenten Verhältnis von Religion und Populismus im Anschluss an die gleichnamige Tagung vom September 2018 nachgegangen wird. Ziel der Herausgeberinnen und Herausgeber und 24 weiteren Autoren ist es, überkonfessionelle Argumentationen und interdisziplinäre Perspektiven rund um das Themenfeld Populismus und Kirche zu bündeln sowie Orientierung für die kirchliche Praxis anzubieten.

In sechs Hauptteilen werden sowohl empirische Ergebnisse als auch politikwissenschaftliche Grundlegungen, systematisch- und praktisch-theologische Reflexionen sowie Praxiserfahrungen vorgestellt und konkrete Chancen und Herausforderungen innerhalb der praktisch-theologischen Handlungsfelder erörtert. Den Auftakt bilden die politikwissenschaftlichen Beiträge von Jan-Werner Müller mit einer engen und Hans-Jürgen Puhler mit einer weiten Definition von Populismus. Während sich die interdisziplinären Autorinnen und Autoren im zweiten Teil empirischen Befunden populistischer Phänomene und ihrem Zusammenhang zu religiösen Haltungen sowie damit einhergehenden Exklusivitätsansprüchen vor allem im Gegenüber zum Islam widmen, gewähren im dritten Teil kirchenleitende Personen Einblicke in Erfahrungen mit Populismus.

Auffällig ist hier, dass keine Laienperspektive vertreten ist, obwohl im Sammelband immer wieder über Haltungen von Kirchenmitgliedern gesprochen wird. Im vierten Teil sind insbesondere die systematisch-theologischen Überlegungen von Ulrich Körtner zum Begriff der Volkskirche und der Öffentlichen Theologie, aber auch die praktisch-theologischen Ausführungen von Christian Bauer zur „Leute-Theologie“ anregend und bieten Stoff für weiteren Diskurs. Weiterführende Reflexionen im Hinblick auf die praktisch-theologischen Handlungsfelder bietet der fünfte Teil. Schließlich bündelt Thomas Schlag in einem sechsten Teil die Erkenntnisse der Beiträge, indem er das Aufgabenfeld und die Rolle einer öffentlichen Praktischen Theologie in Bezug auf die Populismusthematik absteckt.

Die Vielstimmigkeit des Tagungsbandes macht deutlich, wie komplex die Einordnung populistischer Phänomene und ihrer religiösen Bezüge ist, aber auch wie sehr kirchliches Handeln innerkirchlich als auch nach außen, im öffentlichen Diskurs, durch Populismus herausgefordert ist. Widerständigkeit gegen Populismus, so der Gesamteindruck der Beiträge, scheint vor diesem Hintergrund vor allem eine pluralitätsfähige, differenzsensible (Alltags-)Theologie ermöglichen zu können. Das bedeutet, Einseitigkeiten sowie einen „Elitenblick“ (Schlag) oder mangelnde „Differenz-Aufmerksamkeit“ (Merle) zu vermeiden, um nicht selbst in populistische Abgrenzungsmechanismen zu verfallen. Gemessen daran hätte der Sammelband sicherlich von einer Reflexion linkspopulistischer Phänomene profitiert.

Ungeachtet dessen weist Schlags abschließende Zusammenschau einen programmatischen Weg, wenn er Spotlights setzt auf eine öffentliche Praktische Theologie als kritische Anwendungswissenschaft (integrierend, befähigend, orientierend, intervenierend, öffentlich-wirksam, kontextuell), die den offenen und freien Diskurs sowie eine menschenfreundliche Streit- und Konfliktkultur im Lichte der Liebe und Barmherzigkeit Gottes allen Menschen gegenüber zu pflegen sucht.

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Foto: privat

Hannah Bleher

Hannah Bleher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik an der Universität Bonn.


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