Fast weise

Über die Kultur des Aufhörens

Selten hat ein Soziologe in deutscher Sprache so lustig über das eigene Sterben geschrieben – okay, über das Fast-Sterben. Harald Welzer gelingt dies Kunststück in seinem neuesten Buch mit dem originellen Titel Nachruf auf mich selbst. Die Passagen über sein Beinahe-Ableben nach einem Herzinfarkt, den er nur äußerst knapp und mit viel Glück überlebt, sind brüllend komisch, weil völlig absurd.

Da liegt Welzer also, nachdem er dem Tode noch so gerade von der Schippe springen konnte, im Krankenhaus und fragt Intensivschwester Barbara etwas: „Ich fasse mir ein Herz: ,Barbara, ich traue es mich kaum zu sagen. Aber ich hätte so wahnsinnig gern ein Bier.‘ Antwort Barbara: ,Da gibt es ein Problem.‘ Klar, denke ich, Intensivstation, wie soll es da ein Bier geben. Blöder Versuch. ,Da gibt es ein Problem‘, sagt also Barbara und fährt fort: ,Ich hab nur Schultheiss.‘

Gut, das ist jetzt ein Berliner Insider-Gag, denn das lokale „Schultheiss“-Bier hat an der Spree nicht den allerbesten Ruf, um es vorsichtig zu sagen. Aber es sind Anekdoten dieser Art, die Welzers Buch über sein eigentliches, das sehr schwere Thema Aufhören und das Ende unserer bisherigen Lebensweise passagenweise zu einem echten Genuss machen. Denn der Sozialpsychologe kann nicht nur gut schreiben, sondern verfügt auch über einen wunderbar trockenen, selbstironischen Humor, den er gekonnt mit ernsten Passagen abwechselt, ohne dass dies flach oder berechnend erschiene. Hinzu kommt eine Ehrlichkeit, die einem oft den Atem verschlägt. So schreibt er etwa, dass er „meist weit vom auszuschöpfenden Maximum entfernt blieb. Ich war also Journalist (na ja), Hochschullehrer (recht gut), Galerist (erfolglos), Sänger in einer Band (maximal erfolglos), Autor (recht gut), Gründer und Mitgründer von Institutionen (mittel), Täterforscher (recht gut), Gedächtnisforscher (recht gut), Transformationsforscher (nun ja).“

Welzers „Nachruf“ ist ein großes und weitgehend schlüssiges Plädoyer für eine andere Lebensweise, die sich der Grenzen unserer bisherigen Lebensform in den (kapitalistischen) Ländern des Nordens der Welt stärker bewusst wird – ebenso wie der eigenen Endlichkeit. Dass das Buch dabei nicht moralinsauer daherkommt und weit über die Mahnung zu mehr Verzicht hinausgeht, macht die Stärke des Werkes aus. Die Schönheit oder Eleganz der Endlichkeit vermag Welzer einleuchtend zu beschreiben. Denn es liegt eine Größe im Endlichen, wird doch das Meiste, auch das Schönste bei dauernder Wiederholung banal oder eben langweilig. Und das trifft auch auf das Leben selbst zu, das eine ganz eigene Würde gerade darin hat, dass es endlich ist und wir Menschen eben nur eine begrenzte Zeit haben, um es in irgendeiner Weise gelingen zu lassen. Dabei geht es um den Mut zu Entscheidungen, die Wege öffnen und andere zugleich verschließen. Es bedarf des Fleißes, der Begabung und der Klugheit, mit der der endliche Mensch in seinen engen Grenzen doch Großes schaffen kann. Das gilt gerade dann, wenn es ihm oder ihr gelingt, im richtigen Augenblick aufzuhören und Neues zu wagen. Bis zu dem Punkt, an dem er oder sie erneut das Maximum auf dem jeweiligen Feld erreicht hat, was ihm oder ihr möglich ist.

So ist Welzer ein insgesamt kluges, passagenweise fast weises Buch gelungen. Dass manche Pointe dabei verrutscht oder manches Urteil (etwa über den Ex-Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer, CSU, den er für einen Vergleich mit Adolf Eichmann heranzieht) allzu harsch ausfällt, das sei dem Beinahe-Toten verziehen, der offenbar für sich eine neue Lebenseinstellung gefunden hat. Denn Welzer hält sich an die vielleicht wichtigste Maxime für Sachbücher, neben Faktensicherheit natürlich: Du sollst nicht langweilen.

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