Vogel und Stier

Frühe Visionäre des Klaviers

Was wünschen Sie sich selbst in stillen Stunden für das neue Jahr? Einer der nie an erster Stelle stehenden und doch immer elementar aufkommenden Wünsche ist bei mir der nach Klarheit und Konzentration auf das Wesentliche. Einen aufrüttelnden Impuls dafür gibt das neue Album des US-amerikanischen Pianisten Kit Armstrong, der in seinem bald 30 Jahre jungen Leben offenbar schon die Erfahrung eines ganzen gesammelt hat. Diesen Eindruck jedenfalls erweckt das ausgereifte Spiel auf dieser Doppel-CD, die sich dem Vogel William Byrd und dem Stier John Bull widmet – zwei Komponisten des Goldenen Englischen Zeitalters wenige Jahrzehnte vor der mitteldeutschen Triumphepoche um Heinrich Schütz.

Der Grad der Besonderheit dieser beiden von Kit Armstrong präsentierten Komponisten misst sich an ihrer Meisterleistung für ein Instrument, dessen Siegeszug zu ihren Lebzeiten noch nicht zu ahnen war: das Klavier, seinerzeit das Virginal. Beide zusammen erwirkten als Interpreten wie als Komponisten in Sachen Polyphonie und Harmonik – den Aushängeschildern westlich-europäischer Musik – ein neues Bewusstsein für das Instrument. Dabei treten sie aus sehr unterschiedlichen Hintergründen ins Rampenlicht: William Byrd, der als Vorreiter des Madrigals dessen Meister John Dowland und Thomas Morley beeinflussen wird, verkörpert ähnlich Giovanni Pierluigi da Palestrina die hohe Schule des Ästhetischen, der geradezu staatsmännisch wirkenden Form der Synthese aus Virtuosität und akkordischer Balance. Seine Welt sind das Universum und die Ewigkeit.

John Bull hingegen ist als kometenhafter Einzelgänger gegenteilig unterwegs in der Vermessung der inneren Welt und im Ausloten aller Emotionen im Hier und Jetzt, dem er in schonungsloser Unmittelbarkeit klingend Tribut zollt. Wo Byrd malerisch bukolische Landschaften in elfenflügeliger Eleganz erklingen lässt, bricht Bull mit der Kraft des ungebändigten Gefühls in die Abgründe des Daseins auf, um aller Wesenhaftigkeit im lebendigen Moment habhaft zu werden. Diese CD macht dies unaufgeregt einfach und gleichermaßen revolutionär komplex hörbar. Zu danken ist Kit Armstrong dafür doppelt: Einerseits offenbart er sich als ungemein kluger, feinsinniger Denker und Forscher, der mit einem die Welt beider Komponisten grandios aufschließenden Essay das mit Abstand beste und uneitel aufklärende Booklet seit langer Zeit geschrieben hat. Andererseits musiziert er mit jener beseelten Klarheit und Konzentration, die einem jungen Jahr als schönste Aussicht dienen mag.

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