Mehrwert Gemeinwesen

Die Stadtplanerin Petra Potz über Chancen und Nutzen, sich im Quartier zu engagieren
Bewohner des Mehrgenerationenhauses „LebensWert“ im hessischen Goldbach.
Foto: dpa/Felix Kästle
Bewohner des Mehrgenerationenhauses „LebensWert“ im hessischen Goldbach.

Um mehr über die Potenziale und Hemmnisse der Gemeinwesenarbeit im Quartier zu erfahren, hat die Stadtplanerin Petra Potz mit anderen eine bundesweite Studie zur „Gemeinwesenarbeit in der sozialen Stadt“ durchgeführt. Sie gibt einen Überblick über die strukturelle Verankerung, die inhaltliche Ausrichtung und Zusammenarbeit mit anderen Akteuren. Und sie nimmt Kirche und Diakonie mit in die Pflicht.

PETRA POTZ: Wir haben festgestellt, dass das Quartier oder der Stadtteil als Maßstabsebene in der sozialen Arbeit in den vergangenen Jahren immer wichtiger geworden ist. Dort kommen viele Nutzungen und Aktivitäten zusammen, die zwar mit der Stadtentwicklung verknüpft sind, oft aber nicht ressortübergreifend miteinander verbunden werden. Es ging uns also darum, aufzuzeigen, wie man das Zusammenleben und die Lebensbedingungen im Quartier verbessern kann. Dabei wurde deutlich, dass es keine beständigen Strukturen für diese Arbeit gibt. Wie man eine strukturelle Verankerung der Gemeinwesenarbeit erzielt, muss dringend erarbeitet werden.

Nun ist der Begriff der Gemeinwesenarbeit sehr schillernd. Wie lautet die von Ihnen gewählte Definition?

PETRA POTZ: Gemeinwesenarbeit beinhaltet sämtliche Strategien, die sich ganzheitlich auf das Quartier richten und nicht nur auf einzelne Individuen. Der Bezugsraum ist als erstes der Stadtteil und erst in einem zweiten Schritt sind es die einzelnen dort lebenden Gruppen. Gemeinwesenarbeit bündelt verschiedene Akteure und Ressorts, die sich um das Quartier kümmern. Wir wollten in der Studie schauen, wie der Stand der Dinge ist. Zum Beispiel, was es an Ansätzen gibt, die auf strukturelle Verankerung hinweisen. Und wo diese Verankerung quartiersbezogener sozialer Infrastruktur stattfindet, etwa in der Einbindung in Strukturen oder in fachliche Bereiche der Träger. Die Form der Finanzierung und die Nachhaltigkeit der Absicherung der Arbeit haben wir auch beleuchtet.

Was leisten Gemeinwesenarbeit und Quartiersmanagement für den sozialen Zusammenhalt?

PETRA POTZ: Solch eine gemeinwesenorientierte Arbeit in den Kommunen kann ein wichtiger Faktor und eine strategische Aufgabe sein, wenn es darum geht, Teilhabe und Zusammenhalt in den Nachbarschaften zu organisieren. Gerade Menschen in besonderen Lebenssituationen oder benachteiligte Gruppen sind oft sehr schwach vertreten. Manchmal sind sie auch wegen ihrer materiellen Ressourcen eingeschränkt. Sie sind auf Quartiere angewiesen, die integrationsfähig sind, in denen sie günstigen Wohnraum finden und eine soziale Infrastruktur. Quartiere, die ihnen niedrigschwellig Orte für Begegnung geben und ein förderliches Umfeld. Um stabile Nachbarschaften zu erreichen, kann Gemeinwesenarbeit eine sehr große Rolle spielen.

Welche Erfolgsfaktoren und Potenziale von sozialräumlicher Arbeit konnten Sie festmachen?

PETRA POTZ: Zunächst braucht es sicherlich Vertrauensbildung und langfristige und verlässliche Strategien, wie die einzelnen Akteure miteinander kooperieren können. Hinter allem steht die Frage, was der Mehrwert von Gemeinwesenarbeit ist. Das heißt also, was bringt sie mehr als die einzelne zielgruppenorientierte Arbeit, die sehr viele Akteure im Quartier schon einbringen und leisten? Denn es gibt schon viel soziale Infrastruktur in den Quartieren, zum Beispiel Stadtteil- und Familienzentren, Nachbarschafts- und Mehrgenerationenhäuser, auch Stadtteilvereine und Gemeinwesenvereine, die teilweise auch bei den Wohlfahrtsverbänden angesiedelt sind oder anderen kirchlichen Trägern. Viele von ihnen arbeiten immer noch mit einer Patchworkfinanzierung über Projekte und einzelne Angebote. Um diesen Finanzierungsmix am Leben zu halten, sind sie immer wieder auf neue Anträge angewiesen. Das bindet sehr viel Zeit und Ressourcen.

Und auf welche Hemmnisse sind Sie gestoßen?

PETRA POTZ: Strukturelle Verankerung ist das wichtigste Ziel. Quartiers- und Gemeinwesenarbeit wird selten als Daueraufgabe gesehen, die aus dem sozialen System heraus finanziert werden muss. Und die präventive Wirkung, die diese Arbeit haben kann, wird nicht als solche eingeschätzt. Wir haben uns ausführlich die rechtlichen Rahmenbedingungen angeschaut. Wenn man nur kleinste Anteile aus einer eigentlich sehr guten finanziellen Ausstattung auf eine solch übergreifende Gemeinwesenarbeit in den Stadtteilen bezöge, könnte man sehr viel erreichen. An dauerhafter Finanzierung und Unterstützung fehlt es derzeit noch. Dabei ist sie anspruchsvoll und bereichert auch die Stadtentwicklung.

Oft kommt der Vorwurf, dass Gemeinwesenarbeit ein alter Hut sei, den es schon in den 1970er-Jahren gab.

PETRA POTZ: Die Arbeit hat heute eine neue Qualität aufgrund der vielen unterschiedlichen Gruppen, die inzwischen in den Nachbarschaften zu finden sind. Einzelne Zielgruppen sind viel schwieriger zu erreichen. Gemeinwesenarbeit muss noch einmal neu hervorgeholt werden, ist eine Erkenntnis dieser Studie.

Was ist Ihre Forderung?

PETRA POTZ: Der nächste Schritt ist, Schlüsse zu ziehen für eine Regelfinanzierung dieser Arbeit. Dafür gilt es, Mehrheiten zu bilden und Konsens zu finden, zwischen vielen Parallelstrukturen zum Beispiel in den sozialen Politikfeldern wie Pflege, Gesundheit, Seniorenarbeit, Jugendarbeit. Jedes von ihnen hat seine eigene Logik im Quartier, die durchbrochen werden muss. Die einzelfallfinanzierten Leistungen müssen mit der quartiersbezogenen sozialen Arbeit zusammen betrachtet werden. Je mehr sich einzelne Träger dezentralisieren und sich in den Quartieren öffnen, desto selbstverständlicher wird der Quartiersbezug.

Was erwarten Sie von der evangelischen Kirche und ihrer Diakonie?

PETRA POTZ: Kirche und Diakonie sind wichtige Akteure im Quartier. Interessant ist, dass auf der Ebene der EKD, der Landeskirchen und der Verbände das Thema „Kirche im Sozialraum“ stärker diskutiert wird. Beispiele dafür sind der im vergangenen Herbst in Hamburg online stattgefundene Kongress „Wir und Hier“. Oder die neuen Netzwerke, die sich in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen zum Thema „Gemeinwesendiakonie und Quartiersarbeit“ gegründet haben. Angesichts der derzeitigen Reformprozesse in den Kirchen ist das ein neuer Arbeitsansatz, mit dem man sich auseinanderzusetzen beginnt, um relevant zu sein.

Und was raten Sie den Kirchengemeinden vor dem Hintergrund Ihrer Studie?

PETRA POTZ: Sich frühzeitig in Beteiligungsprozesse einzuklinken, die von der Stadtentwicklung angeboten werden und sich dabei auch als interessierter Akteur, als jemand, der an dem nachbarschaftlichen Zusammenleben interessiert ist, zu outen und sichtbar zu machen. Kirchengemeinden sind es selten gewöhnt, sich auf die Kommune zuzubewegen und Interesse an der Gestaltung der Nachbarschaft zu signalisieren. Schließlich ist man auch als Träger ein wichtiger Ansprechpartner. Das wäre nach innen wie nach außen ein Signal. Und es wäre ein guter Schritt, das Thema „sozialraumorientierte Arbeit“ in die Ausbildung von Pfarrerinnen und Pfarrern zu implementieren und auch Freude an den Gestaltungsspielräumen dieses Themas zu vermitteln.

 

Das Gespräch führte Kathrin Jütte am 16. November.

Die Studie ist abrufbar unter:  https://www.staedtebaufoerderung.info/SharedDocs/downloads/DE/Forschung/SozialerZusammenhalt/GWA_in_der_sozialen_Stadt_Endbericht.pdf?__blob=publicationFile&v=2.

Das Rechtsgutachten wurde publiziert: Roland Rosenow: Kooperation von Quartiersarbeit und Einzelfallhilfen. Möglichkeiten und Verpflichtungen von Eingliederungshilfe und Kinder- und Jugendhilfe. Lambertus Verlag, Freiburg 2020.

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Foto: W.G.Schramm

Petra Potz

Petra Potz ist Stadtplanerin. Sie hat an der Universität Dortmund Raumplanung studiert und an der Universität Rom „La Sapienza“ promoviert. Seit 2004 ist sie Inhaberin des Büros location3 – Wissenstransfer in Berlin. Integrierte Stadt- und Quartiersentwicklung sowie Strategien und Rollen der Akteure, von der Zivilgesellschaft über Wirtschaft bis zu Politik und Verwaltung, stehen im Fokus ihrer Arbeit, auch im europäischen Kontext.

Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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