Staatsfern, aber politiknah

Die christlichen Kirchen in der neuen deutschen Gesellschaft
Innenraum der Friedrichwerderschen Kirche in Berlin-Mitte.
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Innenraum der Friedrichwerderschen Kirche in Berlin-Mitte.

In Berlin regiert seit einigen Wochen die Ampelkoalition, zum ersten Mal seit 16 Jahren sind die C-Parteien nicht mehr in der Bundesregierung. Was heißt das für die gesellschaftliche Funktion und Bedeutung der großen christlichen Kirchen in Deutschland, fragt Ellen Ueberschär. Die Theologin war bis 2017 Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentages und ist noch bis März Co-Vorstand der grünennahen Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin.

Sechzehn Jahre wurde Deutschland von einer protestantischen Pfarrerstochter regiert. Das war gut für beide großen Kirchen und für die kleinen auch. Die kooperative Trennung von Staat und Kirche war keine formale Angelegenheit, sondern auch eine Herzenssache der politischen Eliten.

Steht nun, mit dem Ende der Merkel-Ära, ein Bruch im Verhältnis von Staat und Kirche, Gesellschaft und Gemeinden bevor? Nein. Denn der von Paul Nolte so genannte „politisch-kulturell-ethische Überlappungsraum“ zwischen Kirche und Politik (zz 9/18, 25) ist weiterhin vorhanden, weil er sich nie auf eine Parteifamilie beschränkte. Aber er schrumpft. Schließt sich gerade ein „window of opportunities“, in dem Kirchen längst fällige Veränderungen hätten einvernehmlich regeln können? Ja. Die Ursachen sind vielfältig und bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen:

Zum einen schreitet die sozialkulturelle Säkularisierung mit jeder neuen Generation ein Stück voran. Der befürchtete christliche Traditionsabbruch, dem noch Margot Käßmann mit anschaulichen Büchern über das familiäre Tischgebet entgegenzuwirken versuchte, ist eingetreten. Der Wissensschwund unter den jüngeren Generationen über christliches Leben ist enorm. Und wenn in diesem Jahr die Zahl der Kirchenmitglieder die 50-Prozent-Schwelle unterschreiten wird, ist das mehr als ein symbolisches Datum. Die Legitimation der Kirchen, für den größten Teil der Gesellschaft zu sprechen, sinkt. Rückwirkungen auf die Einstellung der politischen Eliten gegenüber den Kirchen sind zu erwarten. Das Verhältnis wird nüchterner und distanzierter werden.

„Geschätzt und geachtet“

Ein Blick in den neuen Koalitionsvertrag bestätigt das, nicht nur in dem, was er sagt, sondern vor allem in dem, was er nicht mehr sagt. Von einer „Basis der christlichen Prägung unseres Landes“ gehen die neuen Koalitionäre im Gegensatz zu denen von 2018 nicht mehr aus. Die Kirchen werden „geschätzt und geachtet“ in ihrem Wirken, aber dass sie mit ihrer Tradition und Botschaft das Land prägen würden, davon gehen die neu an die Macht kommenden politischen Eliten ebenfalls nicht mehr aus. Das hat nicht nur mit deren parteipolitischer Prägung zu tun, sondern ist auch das Ergebnis von mehr als einer großen gesellschaftlichen Debatte über das „Ich“ und das „Wir“ in religiösen Dingen. Die vergangenen anderthalb Jahrzehnte waren weniger von unangefochtenem Christentum als vielmehr von religionspolitischen und religiösen Konflikten durchzogen, die oft höchstrichterlich entschieden wurden und im Kern die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse entlang zweier großer Trends abbildeten.

Die Säkularisierung im Sinne einer Schwächung von Religion einerseits und die religiöse Pluralisierung des Landes andererseits stecken das religionspolitische Feld heute ab. Konkret ist zum Beispiel entschieden, in welche Richtung sich die Auseinandersetzungen um das kirchliche Arbeitsrecht entwickeln, vorangetrieben auch durch die Antidiskriminierungsgesetzgebung auf europäischer wie nationaler Ebene. In ihrem neuen Vertrag nehmen sich die Koalitionäre vor, das kirchliche dem staatlichen Arbeitsrecht weiter anzugleichen.

Ein weiteres Beispiel ist der Streit um die Sterbehilfe, in dem diejenigen unterlagen, deren Argumentation eine erkennbar christliche Prägung aufwies. Die Scharfstellung grundgesetzlicher Freiheitsgarantien als bedingungslose Autonomie des Individuums enthält auch eine Absage an christliche Vorstellungen von Sozialität und Bindung. Ein drittes Beispiel ist die immer wieder auf die lange Bank geschobene Frage der Ablösung der Staatsleistungen – jetzt ist sie Teil der ampelkoalitionären Vorhaben für die nächste Legislatur. Votierte noch im vergangenen Jahr eine Mehrheit aus CDU/CSU, SPD und AfD von über 70 Prozent gegen einen von Grünen, Liberalen und Linken in den Bundestag eingebrachten Entwurf für ein sogenanntes Grund-sätzegesetz, haben sich die Mehrheitsverhältnisse überraschend schnell verändert. Mit dem Grundsätzegesetz wird ein Rahmen geschaffen, der es den Bundesländern ermöglicht, mit den Kirchen in Verhandlungen über konkrete Zahlungen zu treten.

Während diese Beispiele auf das Konto der Säkularisierung zu buchen sind, schlugen die gesellschaftlichen Wogen dort höher, wo die Ausgestaltung der religiös pluralen Gesellschaft zur Debatte stand. Angefangen beim jüdischen Leben in Deutschland und beim wachsenden Antisemitismus. Es war das richtige und im Sinne einer Öffentlichen Theologie angemessene Zeichen, dass die Evangelische Kirche einen Antisemitismusbeauftragten benannte, gerade nach dem verheerenden Anschlag auf die Synagoge in Halle.

Zurückhaltende Beteiligung

Daneben ist nicht zu übersehen, dass es in den meisten Konflikten um die Positionierung des Islam und der Muslime in dieser Gesellschaft ging: die „Kopftuchdebatte“, das „Kruzifixurteil“, die Beschneidungsdebatte, der Bau von Moscheen, die Bestattungspraxis und der öffentliche Muezzin-Ruf bis hin zur umstrittenen Rolle der Islamverbände, die Konflikte um die Staatsverträge mit muslimischen Gemeinschaften und die ganz grundsätzliche Frage nach Integration muslimischer Gemeinden in das deutsche Religionsverfassungsrecht.

Die Kirchen, selbst in tiefgreifende Wandlungs- und Anpassungsprozesse verstrickt, haben sich an dieser Diskussion nur zurückhaltend beteiligt. 2018 veröffentlichte die EKD ein Positionspapier zum christlich-islamischen Dialog. Darin wird festgehalten, dass zwar der Staat die „religionsrechtlichen Rahmenbedingungen“ setze, die evangelische Kirche aber „Hilfestellung anbieten und partnerschaftliche Kooperationen“ eingehen könne. Unklar bleibt, worin genau diese Hilfestellung besteht. Auf kommunaler Ebene beeinflussen interreligiöse Initiativen durchaus das öffentliche Leben der Stadtgesellschaften, besonders in Großstädten, aber insgesamt sind die Vorstellungen davon, was die Rolle der Kirchen im pluralen Wandlungsprozess sein könnte, wenig entwickelt.

Hier ist vielleicht am deutlichsten die Wirkung des gut gepflegten Verhältnisses von Kirchenspitzen und Regierenden zu spüren. Der Handlungsdruck schien bisher nicht sehr hoch. Dabei ist der Zeitpunkt, von dem an er sich aufbaute, relativ genau zu benennen: Als Bundespräsident Christian Wulff anlässlich des 20. Jubiläums der Wiedervereinigung den großen Satz „Der Islam gehört zu Deutschland“ von staatsoberhauptlicher Seite aussprach, waren von der einen Seite öffentliche Empörung und Widerspruch, von der anderen ein erleichtertes „endlich“ und die Hoffnung auf substanzielle Fortschritte in Sachen sozialer, kultureller und religiöser Inklusion zu hören.

Spätestens seit dieser Rede 2010 steht der Umgang mit Pluralität im Lastenheft aller gesellschaftlichen, kirchlichen und politischen Akteure. Ein Jahr zuvor war die erste repräsentative Studie über „Muslimisches Leben in Deutschland“ erschienen. Erstmals gab es Zahlen: Ja, es leben ungefähr vier Millionen Muslime in Deutschland, und sie stammen aus 49 muslimischen Ländern, knapp die Hälfte von ihnen sind Deutsche. Ein Jahrzehnt des Fortschritts bei der rechtlichen Anerkennung schien anzubrechen. Regelungen zum Schutz muslimischer Feiertage, zu sargloser Bestattung und zum islamischen Religionsunterricht traten in mehreren Bundesländern in Kraft.

Verträge wurden geschlossen mit unterschiedlichen muslimischen Zusammenschlüssen. Aber dieser Weg der rechtlichen Inklusion geriet ins Stocken. 2016, nach dem Putsch in der Türkei, mehrten sich die Anzeichen, dass der DITIB-Verband von der zunehmend autoritär regierten Türkei für staatspolitische Ziele missbraucht wird. Der islamistische Terror, der 2015 Frankreich erschütterte, die vielen Zuflucht suchenden Menschen aus muslimischen Ländern im selben Jahr erschwerten diese Prozesse der Normalisierung und tun es bis heute.

Zunehmend in der Defensive

Die Kirchen ergriffen in diesen aufgewühlten Jahren selten Partei für die weitere Integration des Islam, wohl aber für die Geflüchteten. In ihren eigenen Reihen verschärfte sich der islam- und fremdenfeindliche Ton, was die Debatte nicht erleichterte. Zugleich geriet die 2006 eigentlich als Forum für Politik und modernen Islam gestartete Islamkonferenz zunehmend in die Defensive. Mit dem Ausklang der Ära Merkel findet auch dieses Format offensichtlich ein Ende. Eine Neuauflage ist laut Koalitionsvertrag zwischen Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen jedenfalls nicht geplant.

2018 lud ein neuer Bundespräsident, Frank-Walter Steinmeier, zu einer religionspolitischen Debatte ins Schloss Bellevue. Die erstaunlich offene Diskussion brachte am Rande eine interessante neue religionspolitische Achse zum Vorschein. Während der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide erklärte, der Islam kenne keine Kirche, gab der Geschäftsführer des Zentralrates der Juden in Deutschland, Daniel Botmann, zu bedenken, dass das Judentum in anderen Ländern auch nicht in Landesverbänden organisiert sei, sondern dass man sich an die geforderten Strukturen angepasst und Ansprechpartner für den Staat etabliert habe.

Inzwischen fällt auf, dass muslimische und jüdische Akteure versuchen, gemeinsame Wege zu finden. Das manifestiert sich in neuen Buchtiteln wie: Umdenken! Wie Islam und Judentum unsere Gesellschaft besser machen. Im Vorwort schreibt Rabbiner Walter Homolka: „Pluralismus ist keine Ansammlung von unterschiedlichen Kulturen und Religionen. Es ist nicht einfach eine Addition, wo etwas Neues zu einem Bestehenden hinzukommt. Pluralisierung verändert alle – alte Einheimische und neue.“ Damit trifft Homolka exakt die neue Herausforderung für die christlichen Kirchen, die nun achtgeben müssen, dass ihnen die Definition ihrer eigenen Position im Pluralismus nicht entgleitet.

Beim Forum Bellevue 2018 kritisierte der damalige Vorsitzende des Ethikrates, Peter Dabrock, die Defizitorientierung in der Debatte um den Islam. Vielmehr sei es, so sein Vorschlag, Auftrag der Kirchen, Dialoge unter den Religionsgemeinschaften zu fördern und die Zivilgesellschaft in diesem Bereich zu kultivieren. Genau das würde die Sprechfähigkeit der anderen Religionen, insbesondere des Islam, erhöhen und so Lösungen von unlösbar erscheinenden Aufgaben wie die Integration des Islam in das deutsche Religionsverfassungsrecht ermöglichen.

Indifferenter geworden

Mit der protestantischen Pfarrerstochter an der Spitze also liberalisierte, säkularisierte und pluralisierte sich die Gesellschaft, sie ist heute religiös und ethnisch vielfältiger, gegenüber der Institution Kirche zugleich indifferenter. Mit dem neuen Bundestag und seiner Zusammensetzung wird diese Veränderung auch im wichtigsten politischen Debattenforum der Republik deutlicher erkennbar. Auch im Parlament gibt es mehr Diversität. Der Frauenanteil ist gestiegen, mehr junge Menschen, mehr Menschen mit migrantischen Wurzeln sind vertreten, mehr Muslime, mehr säkular Denkende. Gerade die jetzt regierenden Parteien weisen die größte Diversität auf. Der Eindruck drängt sich auf, dass die Kirchen nach all den Jahren der Präsenz auf der großen politischen Bühne nur in Teilen gut vorbereitet sind auf die neue Vielfältigkeit.

Was bedeutet die neue Gesellschaft, die neue politische Führung des Landes nun für die Kirchen? Die Ablösung der Staatsleistungen – wird kommen. Die Anpassung des Religionsverfassungsrechtes – wird kommen. Die weitere Liberalisierung der Lebensformen, einschließlich einer veränderten Abtreibungsregulierung – wird kommen.

Hinzu treten die großen Krisen, die in den letzten Jahren gekommen sind, um zu bleiben. Da ist die anhaltende Krise der katholischen Kirche, ausgelöst durch den erschütternden sexuellen Missbrauch, die auch die evangelische Kirche nicht unberührt lässt, weil sie ihre eigene Aufarbeitung zu leisten hat. Da ist die Erosion der demokratischen Kultur, da ist die Polarisierung der Gesellschaft in der Pandemie, und da sind nicht zuletzt die globalen Großkrisen des Klimas und der Migration. Genau wie die Ursachenforschung der gegenwärtigen Lage liegen die Antworten auf die Zukunftsfragen auf unterschiedlichen Ebenen und sind vielfältig. Wenn gerade eine Ära im Verhältnis von Staat und Kirchen zu Ende geht, verlangt das nach einer Kultur des Abschieds. Um damit Raum zu schaffen für Neues. Dazu am Ende drei Anregungen.

Erstens: neue Netzwerke. Das Ausgreifen in gesellschaftliche Milieus, die das Land sozial und kulturell weiterentwickeln wollen, sollte verstärkt werden. Begonnen hat es schon. Die an die EKD-Spitze Gewählten repräsentieren eine neue Vielfältigkeit und einen Wechsel der Perspektiven. Genau diese Ausstrahlung von Offenheit und Neugier, von Experimentierfreudigkeit – Stichwort Präsestour – und Gelassenheit sind gute Zeichen, die ihre Wirkung auf anderen Ebenen der Kirche und in der Ökumene – der innerchristlichen und der interreligiösen – nicht verfehlen werden. Auch die Themen sind anschlussfähig – von der Bewahrung der Schöpfung über die öffentlichen Räume bis zur Sinnsuche und interreligiösen Glaubwürdigkeit.

Zweitens: Bildung muss die Antwort auf die Großtrends von Säkularisierung und Pluralisierung sein, eine verstärkte Aufmerksamkeit für den wichtigsten Wachstumsbereich der Kirchen. Konfessionelle Schulen, religiöse und christliche Bildung und Weiterbildung sind die schlafenden Riesen, mit denen Kirche einen erheblichen Beitrag, auch zum Zusammenhalt der Gesellschaft, leisten kann.

Drittens: Thinktanks beauftragen. Dort wird für morgen gedacht. Die Evangelische Kirche hat ihre Akademien, ihre Publizistik, die Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg, das Sozialwissenschaftliche Institut in Hannover und natürlich hat sie den Deutschen Evangelischen Kirchentag an ihrer Seite, der schon immer ein Ort für das Neue und das neu zu Wagende war.

In der neuen Ära wird die Kirche eine Akteurin unter vielen sein, aber eine mit besonderer Power, mit großer Unabhängigkeit und – im Vergleich zu allen anderen – mit enormen Ressourcen an Geld, Gebäuden und Menschen.

Dieses können die Kirchen proaktiv als zivilgesellschaftliche Akteure nutzen, für sich und für andere. Die Kirchen werden in Zukunft staatsferner werden, aber politiknah bleiben. 

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